a
Deutiches Volkstum
Monatsichrift Für das deutf de Seiftesleben
oe
Herausgeber:
Dr. Wilhelm Stapel
und
Albrecht Srid) Giinther
1926
„Zweiter Band
Hanfeatifhe Berlagsanftalt, Hamburg
Inhaltsverzeichnis
Große Aufſätze
Bähr, gra Gdrdier . . .
„”® auer, Dr. Bi roletarter
Boed, Chriltian, an und
d Vollstum .
v.Geramb, Brof. Dr. "Bitter, ‘Battie
Geelforge .
Güntber, breit Erie, Indiſher
Bollstum . . CE
— iviliſation Ne gee ABs one
tigdrich 2. BS Fe
vn Kerlin un reigeftirn .
— Das Beibnactsgefhent .
Gunther, Gerhard, Kinderjpiele und
ihr magifcher Hintergrund ;
Habemann, sulin, Baul Schulze⸗
Werghof
Biebesiprit im beut-
den, Sram,
—
— zo * ‚und Geftaltung in
deutſcher Xurif, „Am legten Tage
des Jahres“ — —— von Droſte⸗
Hülshoff
ördt, Philipp Politi und Bada gif
ünger, Grmft, Grofftadt und Land
altfhmidt, Eugen, Die Unmeritani.
fierung Europas ; ;
Kried, Dr. Ernft, Schulreform se
Rudboff, Adam, Reihsbühnengefeh u.
Befucherorganifationen ;
a: Hialmar, Lebe did gefund!
attbies, Rurt, Um me erlin
re Brof. Dr. It
Meißner, Carl, "Menzel und Tri
Bekler, Dr. Wilhelm, Niederſächſiſche
Volkskuitur, ihr Kulturfreis und ihr
Kernland .
Dr. Kutt, Maffe, Imbioiduum
und
Bladte,
und Gemeinſchaft
Alte deutſche BVolkslieber . .
Soroftop eines Bauernfalend<s ‘auf die
awolf Monate . . ‘
Aus der Saga von Gisli bem Geiidteten :
Brandt, Rolf, Aus „So tent die Welte
geſchichte aus” .
Brofin, Marte, Aus dem -Sugenbland
einer alten Frau” ;
Sriedrih der Große, Aus Hoel
Gefpraden Fr. d. .
Hölderlin, Aus rae Oden —V
Kolbenhever, E. G., a dem
„Xäheln ber Benaten“ 5
Seite
827 Poed, Wilhelm, Hellfehen im Hadler
681 Eietland
Robden, Dr. Peter Richard, Das Bro-
812 blem ber — ——— —
Schacht, Dr. Roland robleme des
637 deutfhen Films
Schreyer, Dr. Lothar, "Bon "den Zugen-
491 den bes Sranzietus ‘
— Dr — und die Pyra⸗
799 Steger. Dr. Wilhelm, Die Beis
897 befleideten se
— Zwei Erzähler von ber. Bal} ere
901 fante: Albert — il⸗
beim Poeck. Er
508 — Wauernfunft . . ....
— Gtellvertretung mii a
— Raſſe
— Gibt es eine ſoziale Schuld?
Bon unferm Werlag .
Tholen, Dr. Wilhelm, Wilhelm von
904 Bolenz und die deutfche Literatur feiner
885 Beit
677 Unger, "Sr. ‚Hermann, "Heinrich Shüß,
ein vergefiener Großmeifter deute
590 fher Muſik
489 — een Verwaltung. der deutigen
675 — Das muſitaliſche Bolkslied
„= nt bes Großen Berhältnis
— Wufitfelte in deutſchland —
688 — a8 neue Ethos in der Mufik . .
717 ee , Selene, Sterbendes Friefifh .
Wit D. Dr. Johannes, Die Schmwär-
mere fiir BR ee und Re
817 ligiofität .
Witte, Kal, Geſchichte und Offen⸗
601 barug Ae
Erleſenes
Seite
681 Beterjen, Albert, Aus feinen Er
gablungen . .
690 Boed, Wilhelm, Aus feinen Erzählungen
896 Bolenz, Wilhelm v., Aus dem „Bütt-
nerbauer” A
gg Shröer, @uftad, Aus feinen Earifter
Spengler, Ostwald, Aus dem „Unter-
920 gang bes Ubendlandes” . 4
— ndler, Joſeph, Aus dem „ollen
19 Wall raf, Mag, „Aus einem rheiniſchen
187 Reben”
Wiffer, _Dithelm, Aus „auf der Mir-
913 chenfuche⸗
Seite
Seite
ay
Kleine Beitradge
Seite
Ahelis, Dr. Werner, Piydotedhnif und
Spraderwerb > Xe 619
Bea Fidde, Budyeinung oder Sdaue
Bo vd a a B b , Grid, “Bom findliden
BWeibnadtsiptel 983
Braun, Dr. Harald, Bilang im Bein
berg m
Braun a ar @ Richard, "Adolf Sdinnerer
alg Dialer. . aa ances ODE
pon ben Brinden, Gertrud, Jus
primae noctis . 701
Claffen, Walther, ‘Sit bie Sroßftadt
ein Untergang? < 691
Claudius, Hermann, Sans “Grimms
deutſche Erzählung: Volt ohne Raum . 693
Corvey, Or. —— Die Ethik der
Baterlandsliebe ; 845
Dietrrih, Fritz, "Bom Weſen der
Legende pon ie uae Sy ows Eee ser Oe
Frot{dher, Dr. Gotthold, Alte und
neue fOrge el 936
Gintbher, Albrecht Erie, Eeifings Rae
than in Hannover . . 549
— Amerifa-Wude . . . 20.683
— Wbalibama . ........ 78
— Wiftatur.. — .... 848
Günther, Gerhard, Der mißlungene
Gtoßftadtverfehr = 3 en... 616
Saarmann, Paul, " Eugenie —
manns Erinnerungen . . . . 641
— Luther .7735
— u Gogartens „Zlufionen“ . 928
Kaltihmidt, Eugen, Sarblihtmufit 780
Kleibömer, Georg, Johann Peter
AP50
57
Kudhoff, Adam, Brotopfer
Kutzleb, "Hjalmar, Radtfultur ;
Müller, Partentirdhen, Frig, Mafeine
und G@prahe . .
Bapeidh, Dr. Sofepb, Seimatbüder
— Literariſcher Rebraus .
Paulfen, Rudel, eng und gůch
Blahte, Or. Kurt, Der Geiſt des
8
Ritter, Dr. Rarl Bernhard, Die Grad
aus dem Senat ee
— haeton .
-- Rrometbeus Re
— er Menfbenfohn
— Die leuten Dinge . . .
Shilling, Heinar, Nad . . . . .
Shmidt, Tr. Georg, Die politifde
Heilsarmee Ge
Shneider, Dr. Nofeph, Ciedlung,
Bodcenreform und die Scheidung der
Geifter . . .
Schreyer, Dr. Lothar, Um ‘bas Reids-
Spiero, Dr. Heinrich, Der Fall Haupt-
Stapel, Dr. Wilbelm, idde viehl
Primitive Gemeint —
— Bergenft
— Skaiden . .
— Die bilflofe Padagonit ‘in Weimar
— ,2a8 vächeln der Tenaten”
Vom Bamberger Dom
Unger, Dr. Hermann, Um die Zutunft
des Mannerchorgeſanges re ae
Der Beobadchter
Seite
Rinftlernothilfe (Kibler). Neues aus dem
„goldenen riedenslanım”. Edelquat{d 7.
Molonie. uilleton-Neurofe (G.). Der
„neue“ Gimpliziffimus (Quade). Der
unglüdlide preußiſche Kultusminifter.
Inhaber der höheren Gittlidleit (G.) 556
Ein» und Ausjteigende (Schent). Bildungs.
Inventur (G. Günther). Mangelbafte
Shaufenfter-Deloration (0 0000.68
Beriht aus dem au 1990. Bubilopf.
Kunſtlonſumgenoſſenſchaft. Feltitelung.
„Beitgemäß —8 (be Bries) . 703
Beefang auf Friedrid oe Der
arglofe Weltmann (G.). Sport-Nationa-
lismus. Politijhe Yilmzenfur. Ullfteins
Familienreflame .
Politifierung der Voltsbühne? Baul Sed.
Alfred Kerrs deutſches Boll. Spigel des
Seiftes (G.). Edelquatſch. 8. Antrag der
Fraktion Eulenſpiegel. Haß (Hugo).
Stapel, der couéiſtiſche Webrwol (8)
Sotifce Menſchen in diefen Tagen (Junge
el). Die NReihsfarben. Kreuzigung
und Happy end. Liche fih das nicht
nahholen? Die gefabriidhe deutide
eet Verfolgungsgejabe unter den
ntelleltuellen, Goethe und Belger .
Neue Bücher
Seite
Bcder, Michel, Die neue Etadt . . . 6568
Bismard, Gedanfen und Grinnerun-
gen 948
Brandt, Rolf, Co fiedt die BWeltge-
(dichte ‘aust; 865
Brofin, Marie, Aus dem Sugendlande
einer alten Frau R 946
Dagwijer, De plattdütfche. 19297 2.2... 868
Deutihe Boltbeit. Bd. 13-8 . . . . . 78
Deutfhes Wandern 1927 . . .... 949
Dürerlalender 1927 . 949
e und feiern deutſcher Art. Heft 1,2 948
riedrid BWilbel mMHi., Bom Leben
Fb Zterben der » eantatn Luife . . . 862
Geramb, Viktor, Das deutſche —
tum in Defterreih . 2 ‘
— Volkskunde der Steiermart .
Gefundbrunnen 1927 . .
Golz, Bruno, Deutſche Grapbit des
19. Sabrhunderts: Klein, — A
Greifenfalender 1927 ..
Griewant, Karl, Königin Luiſe
Grogger, Paula, Das Grimmingtor
Gunther, Hans F. K., rll aaah or
deutfhen Volkes. 10. Au fl.
Hartner, Herrig, Erotit und salle a
Hamburger Gefdhidtsatlas . . . ;
1926: 7-12
Seite
843
545
621
940
Seite
Dane mean, Sulius, Pilger durch die BeRler, — Der niederſächſiſche
— ei, ae ern — De ee Ag 707 Kulturtieis 0 0 ww. Mi
ſſenku 1927 oe 6 . 949 Sree: — Ne Jahrweiſer für 1927
olbe —— Friedrid, Gefammelte v. Rangau, deline Gräfin, Karen
Werte (Böhm) SS. ste vgs ee 787 Thief se andere Novellen . .
Et Leo, el von Laffaulg . . . . 948 Rudolf, Ridardb, Der Flud unferer
alender des Wuslanddeutihtums 1927 . 949 Gefdledtsmoral fs dat ah Rec eran ae ae
Kelber von Franten, Karl, Johannes —— Dorfgeſchichten (Müller-Rüders-
Chriſtmann, der Taufer . . . . . . 568 OUP ee tae
Kreuglalender 1927 . ....... O49 Oa. crew let, Henriette, Wbuen-
Runjt und eben, 1927 . . . 2 2 . . 868 FOUND! 3. 5h 00.008, ee ae
Ru iy ed Ofalmar, Die Göhne der Seelig, Carl, Die Yabresgeyten . . .
eißgerberin : 07 Sterne de rt, Sans, Der Wunderapoftel
Rauffer, Dito, Riederbeutfär Bolts. Stobdbard, Randolph, Der dances
rm 866 umfturg 2. oo 22 we —
Lebensborn. 1927 . 22 on 709 Tretini, Albert, Paradies .
Beib, Gans, Godetes Knecht . . . . 948 wegen, Die Geburt bes Lebens .
946 Wallraf Mag, Aus meinem rheint-
8 — barb, Briedrid, Gefammelte ——————
BR {gen Leben . . ....
alter "Walter, Bauten en .
der Arbeit und des Bertehrs aus beute En and, © ENDETE Bolt und
{her Gegenwart .. . 2.22. . 61 Bindler, Jofef, os ofle rig .
Muſchler, an Konrad, Friedrid Biffer, Bil Im, Auf der Märenfuce
der Grofe ae. Meee a the oe A oie 7% Wrede, Friedrid want. Politeia . . .
Zwieſprache
Sette 565, 681, 709, 789, 869, 950.
Stimmen der Meifter
Seite
Arndt * ft Morig, Die dentidbe Wut 712 Immermann, Karl, Ausden „Münd-
Grat Enforft, Ueber Briedrig baujen” .
—— TE Rapo a eon ber Erite, "ueber Friebriqh
cies dius, Matthias, "Die Romer : 872 ben Großen . . 2 2 2 2 we eo
Sebel, Johann Beter, Hus den „Bibli- Ri et i. ge Briedrid, Berfall ome aul.
iden Grgablungen” . . 2. 20. 952 ftieg
Bilderbeilagen
Bamberger Dom: Jonas, Hofea, un Klein, vn Adam, Retour-Gelegen-
Synagoge, Bom Fürftento Br 35 12 beit mad Wien... . ee es
eee e See Be Nord» und Gübd- Zandfhaftsaufnahm Rae
utſccheee. se 2 9 ture, Rulture und Bivitifationslande
Bi: bi Fide, Plaftiten: Friefe mit fhaft . . 1. we te te —
Morgen{tern, Mittag. Gemalde: Bere sr Arthur, Entwurf eines Hoch⸗
nagte Hallig, Friedhof auf Nordmarſch 7 hauſeeee. we es
Erbard, Jobann Ebriltoph, Am Stadt Sdinnerer, Adolf, Die Familie, Bild»
graben gu Yilitnberg . 1... 10 nis, Dorfitraße im en — Haus
Friedrich der Große, Toten⸗ des Künftlers eae ae
maste. Zwei Aufnahmen . . . .. 10
Notenbeilagen
Heft
Sriedrih ber Grotze, Grave ans iG SSR et: BEIDEN, Gebet von Guftav
dem Konzert in C-Dur . 10 Falte
Schmelzl, Das Gelaut pon Speyr, Boltslieder, Deutſche aus dem 16.
bearb. bon Unger... 2 2020. 11 und 16. Sabrhundert er ;
Shi’, Heintid, Der 38, Palm . Le 7 8wei alte
dbeutihe . a a
11
Heft
4 SL — — — — — —
F 7 of i A
Pea iia. Sa 28;
- +t Seats Lor - a Soi
u
Aus dem Deutihen Volfstum Fidde Viehl, Mittag, Füllung für einen Eßzimmerſchrank
Deutiches Bollstum
7. Heft Cine Wonatsſchrift 1926
Schulreform. -
Ser Rouſſeau geht ein Ebangelium um bas andere über Die Rultur-
gemeinſchaft hinweg: jedesmal wird aus Ergiehungsreform eine neue
Menſchheit und ein neues Menfchentum verheißen. Alle Dieje ergieberifden
Menjchheitsrepolutionen gleichen indeffen jener langbeinigen Gifade, „Die
immer fliegt und fliegend fpringt und gleich im ®ras ihr altes Liebden
fingt“. Gs ift wie mit dem Wetterprophegeien: andern Tags ift Die Gade
vergeffen. Und es wäre Dod eine fo einfadhe Gade: man madt aus
ibealer Gefinnung ein Programm, begeiftert fich für ein neues Ziel, faßt
einen neuen Willensentſchluß, auf den man Hurd Mehrheitsbeſchlüſſe Die
„Erzieher“ feftlegt. Dann braudt man nur nod die redte Methode und
Organifation gu erfinden, und bie Gade ift gemadt. In der Theorie
wenigftens, in der Literatur und in der Reflame. Fiigt fi die Wirklid-
feit Der Ideologie nicht, fo fann man fid immer nod auf den grollenden
Sroft guriidgieben, Daf Die Wtenfdbeit oder Dod die „Erzieher“ nicht reif,
nicht guten Willens, nidt Bdealmenjden, fondern eben nur gang gewöhn«
lid Durchſchnittsmenſchen feien. Es liegt diefem ganzen Denfen ein eigen
artiger Zirkel zugrunde: die ideale Menjchheit würde in der nadften Genes
tation ganz ficer verwirklicht, wenn fie in Der älteren, lebenden ®ene-
ration — wenigftens in ihren „Erziehern“ — [don verwirklicht wäre. Die
idealen ,Grgieber“ aber müßten bom Himmel fallen, oder fie müßten aus
einem idealrepolutiondren Willensentſchluß berdor[pringen, gewappnet und
geipornt wie Athena aus dem Haupte des Baters Zeus. Oder fie müßten
erft erzogen werben, womit aber die Grageftellung nur um ein Lod zurüd«
geftedt wäre: Woher nehmen wir die idealen „Erzieher der Erzieher“ ?
Erziehung als Menſchenſchöpfung ift das Borredt der Oötter, und
fie find dabei an das Geſetz der Nachbildung ihres eigenen Bildes ge-
bunden. Die Jahwe, die Prometheus und ibresgleiden allein haben Die
Madt und das Redt, Menfden nad) ihrem Bilde zu fchaffen. Und jelbft
da ſcheint das Werk oft recht fümmerlich gelungen gu fein. Die Sraiehungs-
ideologie arbeitet aber immer mit ftillidweigenden Borausjesungen dieſer
Art. Ift nicht der Erzieher des „Emil“ mindeftens ein Halbgott, ausge-
ftattet mit einem Stüd Allmadjt, Allwiffenheit und Allweisheit? Und
wenn fich folde Erzieher wirklich fänden, wenn fie famt ihren „Emils“ und
„Sopbien“ aus dem Papier ins Leben, aus der Robinionade in Die
Menſchengemeinſchaft träten, wäre es ein Olid für fie und Die andern?
Der Schwärmer Rouffeau war fid tm tiefften ®rund der Fragwiirdig-
leit Des Unternehmens doll bewußt, und darin unterfcheidet er fich wohl»
82 Deutiges Boltstum 489
tuend bon feinen idealgelinnten und gedanfenlojen Nadbetern. Heinrich
bon Sleift bat der Ergiehungsreformerei das Epigramm gewidmet:
„Seßet, ihr traft’s mit eurer Kunft, und ergdgt uns die Jugend
Mun zu Männern, wie ihr: lieben Freunde, as war's?“
©ilt das nicht heute ebenfo?
Laſſen wir Erzieher und Erziehungstheorie beifeite und reden bes
ſcheiden ftatt deffen bon Schule und Lehrer: nidt bon Schöpfung einer
neuen Menjchheit, fondern bom Dienft am Boll. Schulen find Pflege»
und Pflanzftätten für die in einem Bollstum vorhandenen Bildungsgüter.
Sie geben dem geiftigen Erbgut die organifatorifhe Unterlage, fie ers
halten es im Wechfel der Gefdledter und wahren die Gtetigfeit ber
Kultur, damit Diefe nicht nad) jeder Generation abreift und jedes nach
wachſende Gefdledt vergißt, was Bäter und Vorväter erzeugt und ges
leiftet Haben. Die Schule überträgt bas von ihr gewahrte Bilbungsgut don
Geſchlecht zu Gefdledt, aus ben Höhenlagen der Bildung, wo die gei-
ftigen Güter und Werte erzeugt werden, in die Breite der ihr zugeord-
neten Schichten der Geſellſchaft und des Bolfstums. Sie febt ben objel-
tiben Deftand an geiftigen ®ütern immer erneut um in ben lebendigen
Dilbungsbefis der Volfsgemeinfdaft. Sie wahrt Stetigfeit der Bilbungs-
tradition. Aber „Schöpfung“ ift nicht ihres Amtes: ber Lehrer ift im
Auftrag der Bolfsgemeinde Diener an der Bolfsbilbung, nit Erzieher
aus eigener BWladtoollfommenbeit, nach jubjeftiven Wünfchbarleiten und
perfönliden Meinungen.
Schulreform, wofern fie mehr als Programm und Anfab fein fol,
kann ftets nur Seil» und Folgeerſcheinung einer Ummwanblung der öffent-
liden Ordnungen, Des Lebensgebaltes und der Kultur in einem Bolfe fein.
Wenn aus zeugendem Leben ein neuer Beftand an geiftigen Gütern her
borgegangen ift, Jo bedarf er zur Grbaltung und Pflege einer organi-
fatorifhen Unterlage, eines Mittelgliedes, durch bas die Bildungsgüter
umgejebt.werden in Bildungsbefit der Bolfs-, Berufs- und Gefellfdafts-
treife, denen die Schule als Bildungsweg zugeordnet ift. Gntfteht einem
Bolt ein neuer geiftiger Gebalt, fo ftellt fich Die dazugehörige Schule oder
Scdulreform notwendig ein mit durchſchlagendem Erfolg. Das lebte große
Deifpiel dafür ift bie Schulreform in Preußen nad dem Zufammenbrud
1806 und in der Folge die Bilbungsreform in ganz Peutihland. Man
braucht nicht gu berfennen, daß die päbagogifchen Reformideen Rouffeaus,
Dajedows, Peftalozzis daran mittelbar oder unmittelbar Anteil haben.
Enticheidend für bas ganze Reformwerf des Staates und der Bildungs-
inftitute aber war, daß feit annähernd einem Sabrbundert ein hoher gei«
ftiger Gebalt, ein Bildungsgut bon feltenem Rang beraufgewadfen war
in Den Schöpfungen ber Didter, der Philofophen und der wiffenfdaft-
lihen Denfer. Daraus ift ber Nation ein neuer Gebalt, eine neue Bin⸗
dung, ein neues Gelbft-, Welt- und MWenſchheitsbewußtſein erftanden.
Diefen Gehalt in die dffentliden Lebensordnungen einzubauen, war Auf»
gabe der Staatsreform; ihm mit einer neuen oder reformierten Bildungs-
verfaſſung bon Akademie und Univerfität über das Oymnaſium bis zu den
Volksſchulen und den Lebrerfeminaren die Organifation und die Stätte
breiter Bildungswirkung zu ſchaffen, war Sinn der Schulreform. Das eine
490
x tar tv’ cc ES +:
Beifpiel zeigt ®ejeb und Bedingungen aller Schulreform; hundert Bei-
piele aus aller Welt und Zeit beftätigen eg. Neue Epochen der Gefdidte
und der Menjhenformung werden heraufgeführt Durch ſchöpferiſche Men-
ſchen. Solche find ihrer Natur nad Propheten, Dichter oder Staatsmänner,
nid: aber Zipilifations- und Programmliteraten.
Darin liegt aud) die Kritif der Gegenwart, ihrer Staatsrepolution
und ihrer Schulreform befdlofjen. Gs fehlt der Zeit an Dämonifchen, ſchick⸗
jalbaften Männern; es fehlt an Propheten, an Didtern und an Staats“
männern. Darum erſchöpft fie fid) auf allen @ebieten in Literaturpro-
grammen und PBrogrammliteraturen. Die Zeit hat feinen geiftigen ©ebalt,
der die Wirklichkeit erfaßte und bemältigte; die Literatur aber läuft wir-
kungslos nebenher in obnmaddtiger Kritif, in perframpften Idealismen und
leeren Berbeißungen. Man jebe die Erfolge Der Schulreform im Berbhaltnis
zum breiten Strom der Reformliteratur: Wo die Programme in die Wirk-
lichkeit eindrangen, ift Die Reform in vereinzelten Anläufen fteden geblieben,
und heute finden wir auf der ganzen Linie die rüdläufige Bewegung, ver—
urfadt teils durch die eigene innere Unfraft der Reformideen, teils Durch
Die ftarf gewordenen Mächte der Eulturpolitiichen Reaftion. Gs ware dere
verbängnispoll, wollte man fid der Tatfade verſchließen, daß die deutide
Kultur heute ſchwer bedroht ift Durch die im Süden und Welten [ich bal-
lende Reaktion des Romanismus und Ultramontanismus. Aber Die
teformerifhen Schwärmer fehen auf ihre Doftrin und haben verlernt, die
Wirklichkeit zu ſchauen. Das pädagogifhe Denken insbejondere ift ein
Irrjal und Wirrfal bon Doftrinen, das den darin Berfangenen und Ber-
filgten Die Erfenntnis der Wirklichkeit geradezu verbaut.
Gir mande tft das Schwärmen in Ideologien ein Schubmittel, weil
fie Die Wahrheit und Wirklichkeit in ihrer Nadtheit nicht ertragen können.
Gs ift aber ficher, Daß ein Golf auf die Dauer nidt von Reiz⸗ und Raufd-
mitteln leben fann. Mannbaftes Schauen und GErtragen der Wirklichkeit
wird vielmehr der Maßftab für die Lebenskraft des Boles fein, die aller»
erfte Borausfegung einer Wiedergeburt. Ob fie fommt, wiffen wir nidt;
fommt fie nicht, fo haben wir fie nicht verdient. DBorerft ift fein Anſatz
Dazu erfennbar; fo wollen wir uns aud nicht mit Illuſionen abjpeifen.
Man verfdone uns dabei mit den Gemeinplagen bon Peffimismus und
Optimismus. Als ob davon etwas abhinge! Tut jeder feine Pflicht an
dem Plab, an dem er ftebt, baut jeder den Ader mit dem Werkzeug, das
ibm in Die Hand gegeben ift, fo bat er getan, was er tun Tann um feiner
felbft, feiner Kinder und feines Volkes willen. Ob uns dann die Gnade
wird, mag die Sufunft erweifen: wird fie uns nicht, fo haben wir das
deutſche Schidfal zu tragen, wie es immer fällt. Srnft Kried.
ondifhes Volkstum.
1.
ie Bölter des fernen Oftens — die Hälfte der Menfchheit — befindet
fic feit dem Kriege in unrubiger Bewegung. Daran erfennt man biel
Deutlider als am Schidjal Deutidlands, daß der Weltkrieg nicht, wie
die Pagififten meinen, eine peinlide Störung im Oleichmaß des zivili-
32° 491
fatorijden Fortſchritts ift, Die man in fleipigem „Wiederaufbau“ fo fdnell
wie möglich vergeffen machen follte. Hier ift nichts zu vergefjen; bier ift
nichts „wieder gut zu machen“. Der Weltkrieg ift nicht der barbarifche
Nadilang einer überwundenen Epoche, fondern das Sturmzeichen, -mit
bem fic eine neue Zeit angefiindigt bat, Die fich Durch fein Maglides Se-
[drei ältliher „Moderniften“ aufbalten lapt.
@ibt es denn „neue“ Seiten? Wie der Selundenzeiger, fo eilt aud
der Gabhrhundertiveifer in unbefiimmert gleihem ®ange über die be-
Deutungspollen Merkzeichen hinweg, Hurd) die wir Den unerbittlichen
Zeitenfluß gliedern wollen. Aber das gefdidtlide Werden vollzieht fich
in Stößen, in denen nicht medanifd gleidfdrmige Energien, fondern
lebendige Kräfte wirken, die ihren eigenen Rhythmus haben.
Die DBöller des fernen Oftens haben fid widerftrebend den Gin-
wirfungen Des europäifchen induftriellen Imperialismus geöffnet, der nicht
nur ihre wirtfchaftlichen Lebensbedingungen veränderte, fondern ihr völ-
fifhes Sefitge im Innerften erjchütterte. Heute beginnen fie fic) mit den
abendländijhen Ginflfiffen ausetnanderzufegen und es ift bedeutfam für
uns, Die wir jeßt ebenfalls gum Objekt der fiegreichen angelfadjijden Gee
panfion geworden find, auf welchem Boden fid biefe Auseinanderfebung
vollzieht. aus welden Kräften fie ihren Antrieb ſchöpft, nad melden
Sielen fie ihre Richtung beftimmt.
Wir haben Jdon bor zwei Jahren über bie indifde nationale Bee
wegung berichtet, fo weit fie fid) Damals um die Perfdnlidfeit des Ma -
batma ®andhi fammelte. Dabei trat Deutlich herbor, daß die Grund⸗
fräfte des Bolkstums der indifchen Nationalbewegung ihren Cha-
rafter geben. Das indifhe Bolfstum lodt ung darum zu näherer Betrad-
tung; es ift unferm nadfiblendDen Berftandnis nicht völlig verſchloſſen
und bod fo fremd, daß wir unfres eigenen Bolfstums bei diefem Bers
gleiche in feiner Befonderheit bewußt werden. Diefer Betrachtung legen
wir die ,Ondtiden Schriften“ des PBhilofophen und Politifers Baspani”
zugrunde.
2
Sdri Shanderdan Lilaram Paspani Iogi gehört den gemäßigten
Kreijfen der indifden Nationalbewegung an; er ſteht Rabindrah Nath
Thakkur nabe, der fich befanntlid) der Bandhi-Dewegung gegenüber fehr
zurüdhält. Gr ift mehr Pbilofoph als Politifer und Hat nicht die ergrei-
fende Macht der Perfdnlidfeit, die Gandhi auszeichnet. Aber, obwohl
er, wie Thakkur bom abendländifchen Denken fic weniger fchroff ab—
wendet alg der Wabatma, gewährt er uns Hod leichter Einblid in das
indilde Bolfstum, das Gandhi ftarfer vertritt, Baspani aber deut-
licher beſchreibt.
Die moderne indifdhe Bewegung ift gefennzeichnet Durd das Ringen
des indiſchen Bolfstums um Die arteigene Seftaltung des nationalen
Lebens. „Die englijche Erziehung lehrt die Knaben ,@uten Morgen“ und
* J. 8. Vasvani, Bndifde Schriften. Band I. Die Seftalter der Zukunft
und das ariſche Ideal, Seb. 3,— ME. Band Il. Indiens Kultur und feine is
lamifdyen Mitlämpfer. 2,50 Mi. Berlagsbuhhandtung WD. Kohlhammer, Stuttg.
492
»Suten Abend“ fagen und ihre Eltern verachten.“ Die englifche Herrichaft
bat das organiſche Sefiige des fogialen und fulturell[en Lebens zerriffen,
bie natürliden Dorfoerbande ihrer Geltung beraubt und der DBürofratie
bon Subalternbeamten ausgeliefert, bor Denen der Dorfältefte, Den ehedbem
Die Könige „Suer Ehren“ anredeten, fic zum Kniefall beugen muß.
„Hunger ift Das befte politifhe Shftem“, zitiert Basvani aus dem Buche
George Boungs über das „Neue Deutichland“, aber der Inder Hat unter
Diefer politiiden Erziehung das indifche Volk erlahmen und feine fogialen
Bindungen fid auflöfen feben.
Dennod ſieht Vasvani nicht in ber Bedrüdung und Ausbeutung Die
entiheidende Lebensbedrobung für Indien, fondern in der Sntwertung
Jeinernationalen Werte, welde die englifche Erziehung in ihren
durch Geburt und Begabung ausgezeichneten Zöglingen bewußt anftrebt:
„Kein Hindu, der englife Erziehung genofjen bat, bleibt tm ®rund feines
Herzens feiner Religion treu“, fagt der Angelſachſe, der weiß, an welcher
Stelle die Wurgelfraft nationalen Cigenlebens zerftörend getroffen wer-
den Tann.
Darum gebt es Vasvani um die Hare Darftellung des indifchen Wert-
reiches, Des „arifhen Ideals“. Dabei weift er auf die gefdloffene Kraft
der japaniſchen Staatsauffafjung bin, die auf lebendigen Nationalismus
und Gelbfipergidt gugunften des Volksganzen begründet fei. Ebenſo
wünfcht er die Befreiung des indijden Nationalgefühls bon abendlän-
diſchen Einflüffen, die eine großartig tiefe Kultur in feelenlofen ZHynis-
mus und fittlide Haltlofigfeit zu zeriplittern drohen, genau in Der gleichen
Weife, in der Doftojewsti diefelben Ginfliiffe bei der rufjifchen Intelligenz
wirffam gefeben bat — der Ginbrud) emer fremden Mentalität in das
Sefiige eines Bolfstums [cheint fid) nad biologiſchen Oeſetzmäßigkeiten
abzuwickeln.
Das „ariſche Ideal“ zeichnet Vasvani als eine Nationaler—
ziehung auf Grund bon Werten, die den Wachstumsplan des indiſchen
Volkes beſtimmen. Die Werte, zuſammengefaßt im Dharma, den Pflichten
oder Funktionen, ſpiegeln fi in ganz wenigen allgemeinen Sharalter-
zügen, toelde bas nationale Ideal fenngeidnen. Aber jeder Stand bat
außerdem nod feinen eigenen Pflichtenfreis, der für feine befonderen fitt-
lichen und fogialen Aufgaben aus dem nationalen Dharma abgeleitet wirb:
das Dharma ift alfo fein Gittenfodez, fondern ein Wertgefüge, das nur als
®anzes lebt, als foldes aber das fittlide Abbild des volfliden Sebildes
Darftellt: das Bilbungspringip, welches fid) in Ber indijchen Seele bere
wirklichen will.
Sowie man fid pon unferm utilariftifd perfeudten Moralismus bes
freit bat, fiebt man Deutlich, daß organifde Sittlichkeit in Ben verſchie—
denften Böllern das gleiche bedeutet: in ihr tritt bie Struftur eines
Bolfes zu Tage. Der Kampf Indiens um feine feeliihe Struftur gebt
uns Deshalb unmittelbar an, es geht dabei um Griebniffe, welche wit
ebenfalls Durdmaden. Andererfeits ift ber Inhalt des indifchen Ideals
jeldftverftändlich ein anderer, als der des deutfchen Wertreiches, Da es
ja ein anderes Golfstum ausdrüdt —, ein Berhältnis, das flache Köpfe
meift nicht verftehen können.
493
3.
Das Dharma jodlieBt fünf Elemente in fi ein. Bunddft bie Be-
wußtbeit der allumfafjenden Segenwart und des allumfajfenden Wire
fens Des SSttlidmen. Dann, als zweites Element die Shrfurdt;
das dritte, Ahimja genannt, wird meift mit Griedfertigfeit überjett; in
deſſen handelt es fic) nicht nur um eine Duldende, fondern aud um eine
tätige Kraft, bie wir vielleicht durch ,liebendes Erfaſſen“ umjdreiben
finnen —, bier wo Die wefentlide Andersartigfeit des indifchen Ideals
liegt, fann es begreiflicherweife feine befriedigende Uebertragung geben.
Das vierte Slement ift bas Shweigen, das fünfte die Selbftent-
fagung. ;
Schon Diefe knappe Aufzählung zeigt, Daß dieſes Wertgefüge
uns fremd iff. Wir vermögen jeden einzelnen Wert gu bejaben, aber wir
jeben ibn Dabei in einem andern Rahmen, zu andern Werten in Beziehung
gefeht dburd das uns gemäße Berhältnis der Spannung. Der Kon-
flift Der Pflichten ift ja für ung fein permeidlides Mißgeſchick, ſondern dag
Schlachtfeld, auf dem das höchſte fittlide Leben fic abipielt, wo Die
Werte in voller Klarbeit in Erſcheinung treten. Im indifchen Werttreis
fann ber Menſch, der dem Oewiſſen folgt, nur durch Unterlaffen fchuldig
werden, toenn etwa bas Schweigen oder die Selbftentjagung Lieblojigteit
gegen Die anbertrauten Nadften, gegen Frau und Kind bewirken. Im
deutſchen Wertkreife aber, wo heroiſche Werte mit folden der ®üte, Treue
mit Greibeit in Spannung fteben, wird der Menfd durch feine Tat
ſchuldig.
Dennoch iſt dem indiſchen Wertkreis das heroiſche Ideal nicht fremd.
Die Erziehung des Dharma iſt auf den perſönlichen Mut gegründet. Aller-
Dings richtet fich im Gegenſatz zu ,Abimja* das Heldifde Ideal nur
auf dag Dulden. Aber hierin ift es fraftooll und ohne jede Gmpfind-
famfeit. Das zeigt an, daß es fic) nicht nur um eine Befdranfung unfres
beldifchen Ideals auf die Paffivitat handelt, fondern um ein anderes Hel-
diſches Ideal bon eigenem Wuchs. Denn wo bei uns die heroiſche Emp-
findung Der Sat beraubt wird, verliert fie ftets ihre Harte; jo fonnte bei
uns Das Ideal heroiſchen Duldens nur folde Leiden finnpoll maden,
Die zu freiwilligem Untergange führen, wie ja aud) die meiften Ge—
ftalten, in denen das Abendland gemeinhin duldende Opfer verehrt, wie
Gofrates, Oiordano Bruno, Sapanprola, Huß fampfesfrohe Männer waren,
bie ihr Schidfal jelbft berausgefordert haben. Dagegen fonnten wir nicht um
folden Bdeales willen Leiden Eaglos bejaben, die ohne eigenen Antrieb
verhängt werden wie eS der Inder tut, der Die Kinder zur Ueberzeugung
erziehen will, daß Die gejegnet find, bie opfern und geopfert werden
um ihres Volkes willen. Daf der Weltkrieg viele Menfchen vernichtet hat,
Die fic) nicht opfern w ol ten, weil eine nur medizinifche Ausleje Männer
gu Soldaten madte, Die feine Krieger fein fonnten —, daß Dtenjden ein
Schidfal aufgebürdet wurde, welches ihnen nit zulam, hat in Deutſch—
land die Propaganda einer pagififtijden Bollsftimmung, einer Vere
neinung bes beroifchen Ideals erft möglich gemadt. Mahatma Sandbi
aber bat über die wehrlofen Saufende, die bei den nationalen Unruhen in
494
Indien grauenbaft niedergemebelt wurden, wohl Schmerz emp-
funden, aber er bat fie nit beflagt.
Ueberhaupt ift die Willenftraffung im indifden GSraiehungsideal
feineswegs verjfäumt, nur daß „Wille“ eben etwas anderes bedeutet als
bei uns und Des leidenfdaftliden Charakters entbehrt. Baspani fucht
nad dem abendländiichen Grgiebungspringip bei den Pichtern, die Her
Welt als Repräfentanten Europas gelten; er findet es bei Berbaeren in
der GntfaltungbderLeiden| haf t, bei Ibſen in der Indipidu-
alität, bei Gerhart Hauptmann in der Kunft. Aber diejen Lebens-
ridtungen mangelt die Objektivität, die außer uns liegende Grbabe n-«
beit, auf die fi der Wille richten foll. Nicht nur wir fuden das Ideal,
fondern das Ideal jucht aud ung. Baspani ift das Ideal „eine lebenspolle
Idee, die dynamiſch wirkt, ein Sammelpunft bon Kräften“. Seine Wire
tung tft Sharafterbildung, die Fähigkeit, nach den Werten des Guten,
nicht nad) den Stufen des Angenehmen zu Streben. Das Ideal muß
die Willensftarfe heranbilden, auf bie jid der Staat gründet: „Natio«
nale ®rö Be ift fittlides BVolfstum.*
Diejer Gharafterbilbung bedarf es, um Die Keimzelle des indijchen
Bolfslebens, den Dorfoerband wiederberzuftellen, welder zu feinem Bee
fteben der Initiatide bedarf, die verlorengegangen ift: „Die indu-
ftrielle Revolution beftand darin, daß in jedem Gewerbe der Handwerfer
feine Initiative verlor; er fant gum Handlanger hinab. Gr arbeitete in
einer Gabrif mit vielen anderen gujammen und nahm Anordnungen eines
Mannes entgegen, der ihm unter der Bedingung feiner Fügſamkeit Ma-
ſchinen überließ. Gs tft gar nicht abgujeben, welchen geiftigen Schaden
die induftrielle Revolution der Menfchheit zugefügt bat.“ Mit diefem Bi-
tate begründet Basbani, weshalb die Wiederberftellung des indijchen
Sausgewerbes, für das aud) Sandbi fampft, nicht nur eine wirtſchaft—
liche, fondern vor allem aud eine feelij dhe Notwendigteit jei, um den
Dorfoerband wieder mit eigenen Antrieben zu erfüllen.
Selbitverftändlich ift eine fo organifde Cittlidfeit aud tief in Das
natürliche Sein eingebettet. Der Landſchaft wird eine ftarfe erziehe-
riſche Wirkung beigemeffen. „Die Seele Arhadartas (des Landes der Arier)
laujdte ihrer Stimme und vereinte im Schweigen ihr Snnerftes mit dem
großen Leben des Uniderjums.“ Bedeutjam ift nun der Umftand, daß für
Rabindrah Nath Thakkur diefes Grlebnis der Landichaft ſich gewandelt
bat. Während dem Inder urfpriinglid die Ginjamfeit erbabener Lande
haften als die unmittelbarfte Offenbarung der göttlichen Gegenwart gilt,
erfährt Thakkur dag Geficht des Allumfaffenden am ftärkften „in der wim-
melnden ®affe*. Ga, es entſchwand ihm, als er fid) Dem Himalaja näherte,
der fonft dem Inder den Angelpuntt gdttlider Anfdauung bedeutet. Man
ift verfucht, diefe Wandlung damit in Beziehung zu ſetzen, daß don Thakkur
wie bon Vasvani, der ihn verehrt, weit geringere jeelifhde Wirkung aus-
geht als bon Gandbi...
4.
„Laßt den Faden der Raffe nicht abreißen“, lehrt das Dharma. Im
indifchen Bolfe lebt eine Seele von mächtiger Tiefe und warmer Schön-
heit. Auch wo fie uns fremd tft, ahnen wir ihre eigenwiidfige Größe.
495
Wenn aud das Dharma die Werte, nit die Gigenſchaften bes
inbifchen Bolfes umfchreibt, fo empfinden wir Doch ein Boll, das fein
Beftes in folden Werten wiedererfennt und um fie ringt, als ein Borbild
in unferm Rampfe um unfer Bolfstum. Denn in weit höherem Maße als
die indifche Intelligenz Steht die unfre an der Spike der proletarifchen
Schichten im vollen Aufftande gegen unfre nationalen Werte. Gin Zeichen
ber Wertberwirrung in unjerm Bolfe ift es, daß die Bücher eines Gandhi,
eines Baspani bei ung verbreitet werden, um uns die Werte Indiens dere
ehren zu lehren, anftatt um uns Die GSelbftbefinnung Indiens auf feine
eigenen Ideale als Zeichen eines Weltwandels zu deuten, Der uns aus Der
rationaliftifchen Ginerleibeit der Abftraftion in bas volkliche Sigenleben
weift.
Die abendländifchen Pazififten find wie Aasgeier über den Reichtum
der indiichen Seele hergefallen, um mit berausgeriffenen Broden ihre Leit«-
artifel und Geuilletons zu polftern. Wie unfinnig Die Webertragung Des
fittliden Inhalts anftatt des fittliden Willens Des indiſchen
Sdeals auf unfre Welt ift, zeigt am Deutlidften der Mahnruf Baspanig,
der Jugend das Dharma bor allem burd) die Berührung mit der natio-
nalen Gefdidte und ihren großen Perfönlichkeiten lebendig zu machen.
Aud wir find der Meinung, dab das Volkstum fid am Flarften in der
Geſchichte des Baterlandes darftellt, noch reicher als in ber Kunft. Aber
wenn ung die deutihe Geſchichte lebendig wird, ergiebt fie uns nicht zu
den Werten, welche bie weitlichen Bazififten aus Indien einführen möchten;
wir müßten unfre Bergangenbeit verleugnen, wenn wir aus ihr ein
„Menjchheitsideal“ ableiten wollten, das feine Züge bom indifchen Dharma
borgte. Zu folder Berleugnung find freilich unfre Pagififten — in bee
deutſamem Gegenſatz zu den indifden — mit gebaffigem Gifer bereit.
Darum ift es lehrreich, ein Urteil Baspanis über Deutfchland zu hören.
Gr fennt den Weltkrieg felbftverftändlidh in der internationalen Darftel-
lung, die heute nod) die Weltmeinung beherrſcht. Aber im Srommelfeuer
ber Propaganda ift ihm eine eigene Grinnerung an Deutjchland unper-
fehrt und beftimmend geblieben, eine Grinnerung an feinen Befuh in
Berlin im Jahre 1910. „Deutichland beſitzt nod) Züge Don wefentlicher
Oröße“, befennt Baspani.
Weldhe Srinnerung an deutſche Gripe mag in dem indifhen Pazi-
fiften das Weltgefchrei bon PDeutfchlands Niedertradht übertönt haben?
Hat er etwa Profeffor Quidde über deutichen Pazifismus reden hören?
Sat ihn vielleicht ein Beſuch auf der Redaktion des Berliner Tageblattes
überzeugt, daß Deutfchland fich allmählich bem Geiſte der Berjöhnlid”
Feit erfchließe? Hat er jene eifrigen Leute getroffen, die durch bebenbe
Willfabrigkeit zu verhindern fuchen, daß Peutfchland „ſich bei ben andern
Völkern blamiere“ ?
Gs ift ein Gindrud anderer Art, ber fid) ihm fo unverlöfchlid) einge»
prägt hat: „Bor vielen Jahren wohnte id) einem Aufmarfch junger Leute
in Berlin bei. Sie fangen bas Lied bom deutſchen Bater-
land undinibrem ®efangraufdte Hoffnungsfreubig-
feit, Rraftund Blaubenan Deutſchlands Zuflunft.“
Wir laffen ung immer wieder einreden, Daß jede Aeuferung deutſchen
496
Lebens im Auslande den Gindrud bornierter Bosheit herborrufe. Unfre
großen Blätter find ftets beflifjen, uns Dafür bon ihren Korreipondenten
Belege beforgen zu lafjen: eine Zeitung mit internationalen Berbindungen
ftellt eben aud) die Meinung des Auslandes im eigenen Betriebe Her.
So war es und fo ift es mit Hindenburg. Mit Ausnahme eines Seiles
der deutſchen Preſſe ift man fid in allen Ländern Har darüber, welde
tiefe politifde Wirkung auf die Weltmeinung Die fittlide Pere
fönlichleit des „großen alten Mannes“ ausübt. Hier wird unfer Volk
Durch eine [didjalsmadtige Geftalt vertreten, in der feine Werte fidtbar
werden. Und Daß Diefer Mann als Yingling für Die Deutide Cinigung
geblutet bat, daß er fechzig Sabre der deutfhen Armee angehört, ift
für die Darftellung dDeutfcher Werte nicht belanglos: wie der indifche
WMenſch fid in der liebenden Selbftentfagung vollendet, fo voll»
endet jich der Deutfche in der Heroifmen Sat. ©.
Die Lichtbefleideten.
1,
ulda geibt menjendieden“ heißt ein Schwant, an bem das bodenftän-
. Dige Hamburger Bol in diefen Tagen feine Feierabends-Höge
bat. Aber Hulda ift mit rbHtbmifcher Gymnaſtik und Bubifopf feines-
wegs [don gufriedengeftellt, Denn fie bat jehr gebildete Sehnſüchte. Sie ift
um ein Betradtlides über das Milljöh ihrer arbeitsichweißigen und
geiftesdumpfen Borfabren emporgewadjen. Hulda fampft „im Heere des
Lichts“: fie Hat mit ihren Freundinnen und Freunden aus dem Büro einen
Nadtfulturflub gegründet. Sonntags fahren fie zufammen in die gebdul-
Dige Lüneburger Heide, ziehen ſich hinter ben Kiefern die Kleider aus
und wandeln alsdann „im Lichtlleid“ umber. Die Kamera haben fie nicht
vergeſſen, denn Lichtbilder anzufertigen ift eine Der wichtigsten Aufgaben
für den Heerbann des Lichts. Hulda ift fogar Schon einmal in der „Schön«
beit“ reproduziert worden, wie fie fich bemüht, troß Ihrer plattdeutichen
Borfabren und der etwas robuften Knochen wie eine (Haumgeborene grie»
chiſche Aphrodite Dagufteben und zum Strahl des Helios emporzufchauen.
Woraus man den Emit der Gace erfennen fann. Darum ift es aud durch⸗
aus nicht angebradt, ſich moralifd über ,foldes Treiben“ gu entrüften.
Hulda ift weit davon entfernt, ein verbotenes Bergniigen an und bei der
Sade zu haben, im Segenteil, es ift ihr febr feierlich gu Mut und fie läßt
es fid jauer werden. Sie läuft nicht gu ihrem Bergniigen, wie einft die
griechiſchen Bafdantinnen, nadt durch die Wälder, fondern fie tut es gweds
Höberentwidlung ber Menjchbeit im Dienft einer „neuen Weltanjchauung.*
Wabhrlid, tate fie es bloß zu ihrem Vergnügen, wir ließen fie laufen.
Denn wir fühlen ung nicht berufen, unfres Herrgotts fonderbare Käuze zur
DBernunft zu bringen. Da Hulda jedoch anfprudsvoll wie eine Kaijerin
mit der Behauptung auftritt, ihr „reiner Leib“ fei in das „Lichtgewand“
einer Weltanſchauung gehüllt, und ba fie jeden, der dieſes Welt
anſchauungslichtkleid nicht Iobpreift und der nichts als nur Hulda zu feben
vermag, für einen ſchmutzigen und unreinen ®ejellen erklärt, fo — miiffen
497
wir uns als aufridtige Leute dem Anderſenſchen Kinde, das keinen Re»
ſpekt bor Weltanjdauungen bat, gejellen und mit ibm, fobald Hulda im
Lichtkleid naht, auf der Bank der Spötter Pla nehmen. Weltanfdauung
ift nun einmal unfer bartbergiges Metier. Es erfordert ein mitleidlofes
Abſchlachten der Dilettanten des Geiftes. Da tm Zeitalter des Oroßbetriebs
eine Dtafjenfabrifation bon billigen und ſchlechten Weltanihauungen nad
amerikaniſchem Shftem eingejebt bat, miiffen aud) wir unfern Betrieb ere
weitern und ein Dilettanten{[ladhthaus einrichten. Trotz allen perſönlichen
Woblwollens für Hulda — fie muß bors Meifer. Denn warum befaßt
fi das Mädchen mit Weltanjchauung!
Wir haben gar nichts gegen die Nadtheit einzuwenden, wo fie fa d-
liche Bründe bat. Wenn man baden will, muß man fid eben ausziehen.
And wenn ein Haufen Gungens badet, fo ift die Badehoſe eine fo neben-
fadlide Angelegenheit, daß man weder den lieben @ott nod) die moras
life Entwidlung ber Menfchheit darum gu bemühen braudt. Wenn man ein
Sonnenbad nehmen will, jo muß man fic ebenfalls ausziehen, damit die
Sonne an den Leib fommen fann. Gs bedarf dazu durdaus nicht einer
Auseinanderjegung mit der prüden alten Tante Minden. (Golde Auseine
anderjeßungen find allzu billig und daher bei Hulda beliebt. Der enge Beift
genießt gegenüber Dem noch engeren das Bewußtjein feiner Weite.) Wenn
man turnt und es ift hinreichend warm, fo ift über Die Oymnoſis in der
Oymnaſtik jede Diskuſſion überflüffig, Sadlichkeit, Bebagen und Salt
wilfen unmittelbar bas rechte Maß (diu mage) gu finden. Aber um fo fimple
Dinge bandelt es fic bei der „Nadtfultur“ Teineswegs. Wer nadtkultür-
lid) Iebt, zieht fic nicht aus fonfret fachlichen, fondern aus philoſo—
phiſchen ®ründen aus. Gr tut es entweder aweds völkiſcher oder zwecks
menſchheitlicher „Aufartung“, „Höberzühtung“, „Empormenſchlichung“
ufto. uſw. Gr ftrebt aus der Ginfternis „zum Licht empor“, aus der Ma-
terie zum „©eift“. Aber eine Gans mit weltanfdHaulidem Spleen (,,Geift*)
bleibt doch immer nur eine Gans. Gie ift fogar eine ſchlechtere Gans als
Die andern, weil fie infolge ihrer Philofopbie ihre natürlichen und reellen
®änfepflichten, deretwegen fie bom lieben Gott auf den Bauernhof und an
den Dorfteich gejebt ift, nicht mit folder Hingebung zu erfüllen vermag wie
ihre [dlidten und getreuen Mitgänie.
„Nadttultur* fommt zuftande, wenn eine Schar bon
Männlein und Weiblein nicht nur die Hemden, fondern
aud Die Sham aus grundfaglimden Srwägungen auß-
gtebtunddas Paradies bor dem Giindenfall mimt.
„Nacktkultur“ will aljo recht verftandene Wadtfultur fein, nämlich
Natur im@arten Eden, wobei an Stelle des Gartens Eden aushilfsweife der
®runewald oder die Lüneburger Heide benubt wird. Leider ift der Gar—
ten Eden aber nicht Natur, fondern Metaphyhſis. Darum ift es gar nicht
fo einfad, Adam und Spa bor dem Giindenfall ausgerechnet im Grune-
wald oder in den Lohbergen zu fpielen. Wan muß dazu erftens die irdijche
Dornen- und Diftelwelt mit ihren fanalifierten Gluplaufen, Stadheldraht-
zäunen, Ausflugsiofalen, Förftern, Bauern ujw. auf „geiftige* Weije in
einen ®arten Eben umfälfchen, und zum andern muß man einen Leib ohne
Sündenfall haben, was, wenn das „Rein“fein nun einmal nicht mehr vor
498
banden ift und wenn aljo der Leib nicht mehr realiter in den Unfaulds-
ftand zurückverſetzt werden Tann, gleichfalls auf „geiftige* Weije bewirkt
werden muß, nämlid) durd ein fogenanntes „reines Auge“, Dem befanntlid
„alles“ rein ift. — Hulda?! Hulda?!
Aber eS gebt. Die liftige Schlange des Paradiefes hat Adam und Soa
mit dem Ontelleft (d. i. mit einer unzureichenden Intelligenz) begabt. Mit
Diefem Intellekt überwinden die Nadfommen, bejonders die ftammes-
echten, die Dornen» und Diftelnatur und beweifen, daß bie natürlichen
Regungen des Herzens, gum Exempel die Scham, die Diftang u. bgl.,
„eigentlich“ unnatiirlid und daß die Kultur „eigentlich“ die wahre Natur
fei. Unter dem Schuge des Begriffes „eigentlich“ (der bas Kennzeichen
aller ſchlechten PBhilofophie ift) fucht man fid an dem Cherub mit dem un-
angenehmen feurigen Schwerte borbeigudriiden und in das verlorene Pa-
rabies wieder einzujchleichen. Mit Hilfe Des Begriffes „eigentlich“ erfebt
man dag unſympathiſche Seiende Durd) ein erdadtes ſympathiſches Seine
follendes. Diefes Seinjollende ift alsdann, da es ſympathiſcher ift, ein
„Höheres“. Dem Höheren muß man zweifellos „dienen“. Und fo gelangt
Hulda aus dem Büro mit Hilfe des „Sigentlichen“ dazu, ihre ererbten Bee
denfen niebergujdlagen und ſich — nicht etwa aus gemeiner Luft, fondern
wirklid und wahrhaftig „im Dienfte des Höheren“ auszuziehn und mit
dem ebenfalls in ſolchem Dienfte ausgezogenen Emil aus dem Büro (mit
der Kamera unterm lichtbefleibeten Arm und dem Regenfchirm am Wal-
desrand) auf der Waldwieje, wo Die Böglein fingen und Die Bliimlein
niden und das Badlein raujdt und die weißen Wölkchen am blauen Friih-
lingsbimmel ziehen, in dem ftolgen Bewußtſein, „es“ zu ,fdnnen“, teils
[pagierengugeben, teils zu biipfen, teils gumnaftijche Webungen zu machen,
furgum, eine ,®emeinfdaft* zu „bilden“.
2.
Drei Hauptwerte find für die „Weltanichauung“ der Nadtkultur bee
ftimmend: Schönheit, ©efundbeit, Höhere Sittlichleit. Was von feiten der
„Lichtfreunde* und „Sonnenfeligen“ zur Werbung oder Verteidigung ge-
Ichrieben wird, reift um Dieje Drei Werte.
Das Sdinheitsargument gebt bon dem Aziom aus, daß fid
im menſchlichen Leibe (fei es als dem Ebenbilde Gottes, fei es als Dem der-
zeit lebten Sntwidlungszuftand des organifchen Lebens) bie höchſte Schön-
beit verlörpere. Diefes Wertaziom hat man bon Künftlern, die in einer
gang beftimmten Weije eingeftellt find, übernommen, und man folgert
bon Da aus weiter, ohne fich der Relatipität des Gabes bewußt gu werden,
Aber jenes Werturteil hat durchaus feine aziomatijdhe Bedeutung. Mir
Iheint ein edles Pferd ſehr viel [diner zu fein als ein Menſch des Durd)-
ſchnitts. Auf einer Warfdwieje, auf der einige Pferde aus guter Zucht
weiden, fommt der äſthetiſche Betrachter taufendmal mehr auf feine Rech"
nung als im Freibad Wannjee. Gewif, es gibt ſchöne Menjchenleiber,
deren Anblid das Herz zur Ehrfurcht bewegen und das ®efühl der Unan-
taftbarfeit erweden Tann. ®ewiß aud, mande Schönheit des Körpers,
die Der Entfaltung fähig wäre, wird Durd die Kleidung unterdrüdt. Aber
diefe beiden Zatfachen erzwingen nocd längft nicht den Schluß: folglich
499
müffen die Menſchen (einſchließlich Hulda und Gmil) nadt geben. Biel»
mebr find zwei Argumente dagegen geltend gu machen.
Erftens: Alle Völker mit entwidelteren geiftigen Gabigfkeiten („Kul⸗
turbdlfer“) pflegen bddften Wert auf Schmud und Kleidung zu legen.
Se nadter ein Bolf, um fo primitiver und armjeliger, um fo unfabiger zur
Kultur ift es. Das Bier läuft nadt; aber der Menfch behängt fid mit
Schmud und Kleidung. Aud das Bier hat freilid ein Smpfinden dae
für, daß eg eine Auszeichnung ift, wenn es mit Gloden, Deden, Kopfzier
gefdmiidt wird. Aber von fid) aus fommt das Tier nicht Dazu, ſich Durch
DBebänge zu fdmiiden. Wohl aber der Menſch. Es ift por allem bas Bee
Dürfnis nad Ehre und Würde, bas ihn dazu treibt. Man beurteile Hie
Griechen nicht nur nad den Statuen einer beftimmten Richtung, man ziehe
mwenigftens auch die Sewandftatuen in Betradt. Bon Homer an — weld
eine Kultur der Kleidung, der Waffen, des Schmudes! Nadt waren die
®rieden auf Den Sportplagen, wo fie fadlide Sründe dafür hatten
(und wo fie fid) mit Olipenöl einrieben. Wir barren erwartungspoll auf
Die Ergänzung der Nadtfultur durch eine Olibendlfulturbemegung — Da
ift noch allerhand zu machen für die Propheten). Nadtkultur a la Hulda
lag dem perifleiihen Zeitalter fern. Aud den Germanen. Weld eine
Greude an ſchönen Kleidern finden wir bei ihnen — faft jede Saga bezeugt
eg. Und weld eine Kleiderfreude batte die ritterliche Geſellſchaft in der
Blütezeit der mittelalterliden Kultur: der Wibelungendidter, Wolfram
und alle andern ohne Ausnahme beladen !hre Helden mit Achmarcdifeide,
Sobel, Hermelin. Dazu, welhe Gewandftatuen in den Domen jener Zeit!
And man dente an die bürgerliche Kultur der Renaifjance und des Huma-
nismus. Dabei erinnern wir uns, Daß der echte, naturnahe Bauer und
feine Bäuerin fic) noch heute, aud) bei glühendem Sonnenbrand, mit Klei»
Dungsftüden fonder Zahl und ſchwerem Schmud bebängen, nicht adtend
Die fchweißtreibende Sentnerlaft. Hier liegt ein feeliiches Bhänomen bon
allgemeiner ®eltung vor: je fultivierter ein Zeitalter, um fo mehr Greude
an Kleidung und Schmud. Denn: Durd die Kleidung fteigert
fim Der Menſch. Darum ziemt überall dem Könige der höchſte Prunk
Kleidung und Schmud heben den menfdliden Körper über ich felbft hin—
aus und geben ihm foziale Würde. (Daher Standestleider in Zeiten ftan-
diſcher Kultur.) Dieje Kleiderkultur bringt in Plaftif und Malerei Die
Pflege der gewandeten Seftalt Herdor. Die Schönheit ber gewandeten
®eftalt ift der Schönheit der nadten Geftalt durchaus nebenzuordnen.
Zweitens: Der Menfd ift nicht um afthetijer Werte willen da. Gewiß,
die Schönheit bes menf[dhliden Körpers Hat aud) biologiſchen Wert. Die
Nordgermanen wie die Deutiden Ritter beobachteten und priejen die
Schönheit des Leibes, und jedes Märchen tut es. Aber man jchätte bie
Schönheit als Ausdrud männliher Kraft oder weiblicher Lieblidfeit, um
ethiſch-biologiſcher Werte willen. Die rein afthetijde Wertung ift immer
ein Zeichen der Defadeng. Lebenstüchtig zu fein ift die allgemeine
Angelegenheit der Menfchen, [Hin zu fein ift nur die Angelegenheit der
Aeftheten. Es ift unwürdig, wenn ein Menſch ſich auszieht, nur um feine
Schönheit zu zeigen. Was fich für Statuen ziemt, ziemt fid nicht für leben-
Dige Wtenfden. Hans und Brete hinterm Buſch können nicht Statuen [pie-
500
len. Sie verwechſeln die Sphäre des Alefthetijden mit Der Sphäre der
Realität. Das Ergebnis ift nichts andres als — Fidus.
Es banbelt ſich aljo nicht nur um die Schönheit, fondern um die [dine
Kraft. Darum fügen die Berfedter der Nadtfultur dem Schönbeitswert
den Geſundheitswert hinzu. Aber aud hierbei pflegt man oft über
zwei Wahrheiten hinwegzuſehn.
Erftens: Man muß unterjcheiden zwiichen Nadtübungen als Anftren-
gung und Nadtfultur als enuf. Man wird die Kultur des nadten Kör-
pers bejaben, foweit fie Qeiftungen fordert und berborruft; man wird
fie aber ablehnen, foweit fie nur Genuß will. Bei den Förperlichen
Uebungen, die eine Steigerung der Leiftungsfraft erftreben, trennen fid
Männer und Frauen aus facdlider Notwendigfeit, denn zwiichen Mannbeit
und Weibbeit ift ein Wefensunterjchied gejeßt. Die Törperliche Ausbildung
bes Mannes geht auf Wehrhaftigfeit, fie ift immer irgendwie
friegerifder Art. Die germanijden Sünglinge, die den Apofteln der
Radtkultur als Argument dienen müfjen, badeten nidyt nur nadt (wopon
übrigens Sacitus nichts weiß, nur Cäſar), jondern fie tanzten aud nadt
zwifchen bloßen Schwertern und Langen (Tacitus: „nudi jubenes inter gla-
dios fe atque infeftas frameas faltu jaciunt“). Die fonnigen Lidtlampfer
tun gwar das eine, lajjen aber vorjichtigerweife Das andre. Die germa-
nifchen Sünglinge dienen nur in bezug auf das Angenehme, nicht in bee
zug auf das Lebensgefährliche gum Vorbild. Anderfeits: die Törperliche
Ausbildung des Weibes gebt auf Die bewahrende Kraft, fie ift
immer irgendwie miitterlider Art. Sobald jih nun Männer und Grauen
zu „Oemeinſchaften“ vereinigen, entftehn unjadlide Riidfidten und
Rüdwirkungen, die Sachlichkeit erhält einen Rif. Und wenn man gar ane
fängt, jich gegenfeitig zu photograpbieren und die Nadtaufnabmen in Zeit“
{@riften zu bewundern, jo — wird die Gpmnaftif zu einem bloßen Bore
wand für jenen weidliden ®enuß, der fid nur nod durch „Welt⸗
anfdauung” zu redtfertigen vermag.
Zweitens: Menfchen, die nadt gehn, find Darum noch keineswegs ge-
funder und Ieben nicht länger als Die, welche bekleidet geben. Kleidung fann
Der ©efundbeit ſchädlich, aber auch zuträglich fein; ebenjo: Nadtheit fann
der Geſundheit zuträglich, aber aud) ſchädlich fein. Der liebe Gott ſchwingt
feine ®eißel über Bekleidete und Unbelleidete. Die nadten Neger haben
ihre Kranfbeiten, und die befleideten Europäer haben ihre Kranfbheiten.
Wie die Dinge heute liegen, wäre es eine zeitgemäße wijlenjchaftliche Auf.
gabe, zu unterjuchen, inwieweit Nadtlultur und Degeneration zujammen»
hängen. ®erade die Menſchen, die fid mit Begeifterung in die weichen
Arme der Nadtkultur werfen, tun es infolge ganz beftimmter pſychiſcher
Schädigungen unterbewußter Art. Diefe Schädigungen werden Hurd Die
„Kultur“ nicht behoben, fondern — gepflegt. Sie wirfen ſich zweifellos
in wenigen Generationen wahrnehmbar aus.
Gs liegt eben in der „Nadtfultur“ weithin eine gewiffe Art don fee-
lifher Schwäche: man möchte genießen, ohne Den enuf gu erringen, man
möchte gewinnen, ohne Ginfak zu geben. Dieje Schwäche ift faft regelmäßig
Dort gu finden, wo fi Menſchen por den fchweren Aufgaben der Wirklich“
feit und vor den fchlichten Forderungen des Oewiſſens in bie Region einer
501
„Höheren Sittlidfeit* flüchten. Aud die „Höhere Gittlidfeit* der
„Radtkultur* trägt die Kennzeichen pihdijden Defeltes. Hierfür wiede—
rum zwei Argumente. |
Grftens: Zu den Urphänomenen des fittlichen Lebens gehört bie
Scham. Wolfram von Eſchenbach fagt mit Redt: „Scham ift ein Schloß
ob allen Sitten.“ An welde Guferliden Merkmale fie fich beftet, ift
an | ich unwefentlid, es ift bei verfchiedenen Völkern verfchieden. Bet
manden Raturvölfern gilt es als unanftändig, in Gegenwart andrer zu
effen, nicht aber, ohne Kleidung zu gehn. Eine gemeinfame Mahlzeit ift
ibrer Schambaftigfeit nicht minder anftößig als der unfrigen eine Orgie
nadter Wenfden. Bei uns bat fich bon unporbenflichen Zeiten ber die
Scham mit der Kleidung verbunden. Das Kind in feinem primitiden
Zuftarfd fennt Scham fo wenig, wie es Lüge im moralifden Sinne Fennt.
Aber in dem Augenblid, da es zu einem moralifden Gubjekt wird, erwacht
das Schamgefühl und hängt fi) alsbald an die Kleidung als fein Sym-
bolum. Bei jenen Naturddlfern ift bas Symbolum der indipiduellen Gelb-
ftändigfeit und Ehre, das Shmbolum der perſönlichen Unantaftbarfeit Hie
einfame Mahlzeit, bei uns die Berbüllung beftimmter Teile des Körpers.
Weil Scham die feelifhe Aeußerung des Diftanz- und Abgejchloffenheits-
bebiirfniffes ift, darum ift fie befonders ftarf in den Jahren der gefdledt-
liden Entwidlung. Wo fie nun durch intelleltuelle Erwägungen (,,Welt-
anſchauung“) abgetötet wird, Tann der Grund entweder eine angeborene
Schwäche der Scham (d. i. Plebejertum als Mangel an Ehre, Würde, Di-
ftang), alfo ein Defekt fein, oder es liegt eine gewaltfame Zurüddrängung
bor, die in diefem Gall notwendig eine Perverfion der fittliden Empfin-
dungen und Wertungen bedeutet. (Daher in der „Nadtkultur“ die eigen-
tümlide Mifdung bon Aefthetizismus und Plebejertum.)
Zweitens: Es ift eine Berfehrung der fittliden Wah ftabe, wenn
man die Gittlidfeit an Außeren Gormen als folden meffen will. Wohl
find Lebensformen der unwillfiirlide Ausdrud eines Ethos, niemals aber
fann man eine Lebensform ifoliert zur Norm des fittliden Urteilens
machen. So ift die Sittlichleit durhaus nicht an den Grad der Hhgiene und
Reinlichleit als folder gebunden. Ich erinnere mid einer alten Bäuerin,
für die es zwar gang felbftverftändlih war, daß bie Dorflinder nadt im
Bade baden — „wat iffer denn babi!“ —, die aber, als man ihr gumutete,
in Der neu aufgeftellten Semeinde- Badewanne der Molferei ein einfames
Warmbab zu nehmen, die Schamlpfigfeit, daß fie als alte Frau ein Bad
nehmen follte, entrüftet abwies: das Baden ziemt fic für Kinder, aud
die „Diensten“ fchleihen wohl in warmen Nächten zum Bad, aber mit der
Würde einer alten Hofherrin ift es nicht vereinbar, fich ausguziehen und
gu baden — bor fic felbft nicht. (Uebrigens hat fie troß Diefer
mangelhaften Hhgiene ein hohes und gefegnetes Alter erreicht.) Und id
erinnere mid einer andern Bäuerin, die aud nicht zum Baden ging: fie
bat eine anſehnliche Kinderfchar hochgebracht und drei bis bier Dubend
Entel; als ihr Mann allzu früh ftarb, leitete fie Den großen Hof, bis der
Aeltefte ihn übernehmen fonnte; als Der Hof nad eingebradter Ernte nie»
Derbrannte, verlor fie den Mut nicht, fondern begann von neuem. Wo fie
nötig war — und fie war überall nötig —, half fie. Als Biefe alte Grau
502
eines Sages die Höschen eines ihrer Entel flidte und ihr bei Der Arbeit
der tödliche Blutſturz emporquoll, da neigte fie ich jorgjam zur Seite, da—
mit dag gerriffene Höschen und ihr eigenes Kleid nicht „ſchmutzig“ würden
pon ihrem Blut und fo ftarb fie — das war ihr Lichtlleid. Und dies ift
eine tes Lichtlleid. Ich Tann bas Gerede bon der „höheren Sittlichkeit“
aus dem Munde der Reformer nicht mehr ertragen. Wo find die Le-
bensleiftungen der „höheren Sittlichfeit*? Diefes Wort ift nidts als
ein Grfag für mangelnde Leiftung. Wenn aber ein Nadtkulturmenjdh Citt-
lichkeit bewährt, fo hat Das mit feiner Nadtkultur nichts zu tun.
3.
Die Propheten und Apoftel der Nadtkultur find überzeugt, daß fie
der Menfchheit den wahren Weg aus dem Glend der Zeiten weifen. Sie
glauben poranzumwandeln auf Der „Bahn des Lichtes“. Das ift Selbfttäu-
(dung. Die Nadtfultur als weltan{daulid begründete Bewegung ift nichts
andres als ein Reflex Der Sroßftadt. Sie ift überhaupt nur auf
®rund bon Sroßftädten möglich. Sie ift eine zipilifatoriihe Zerſetzungs—
erfcheinung ftadtgeborener Gefdledter. In ihr fammeln fid die Menfchen,
Die infolge ganz beftimmter feeliicher Mängel in Der Weiſe auf dag ©roß-
ftadtleben reagieren, wie fie es tun. G8 ift eine Parallelerjcheinung gu
dem bom Rekord beherr[dten großftädtifchen Sportbetrieb, der feinen Bue
fammenbang mehr bat mit der Webhrhaftigkeit des Mannes. Diejer Sport
führt zum Champion⸗-Geſchäft und zum Wettgejchäft. Die Nadtkultur
führt zum Zeitfchriften- und PBhotogeichäft.
Die Nadtkultur ift nicht Wiederaufbau, fondern Zerfegung. Durch eine
weltanſchaulich begründete Lebensreform fann man niemals die Unjchuld
bergangener Seiten zurüderwerben. Das Paradies bleibt unzugänglid).
Der Großſtädter kann nicht Hinter die Oroßſtadt zurüd, er „überwindet“
fie Durdaus nicht, wenn er mit der Borortsbahn in den „Srüngürtel“
oder in den ,,Natur[dhubpark* Hinausfährt, um fich dort borgumaden, daß
er im Paradies oder in Hellas oder in germanijden Urwäldern lebe und
bon feinem Zeitalter genefe. Gs liegt im Wefen der Sefdidte, daß man
porwärts muß, und die Schmadliden fallen aus.
Sälar rühmt die Spätreife der germanifden Jugend und erzählt, Daß
Knaben und Mädchen „promiscue in fluminibus perluuntur* (gemeinfam
in den Gliiffen baden). Gs handelt fic alfo um findlide Unerwadtbeit.
Sie erwadten {pat aus bem Kindheitsparadiefe. Damals gab es noch feine
Römerftädte am Rhein. Und als allgubalb Römerftädte in Germanien
entftanden und als ber Bibliopoles Ifidorus aus Alezandria auf der Bilb-
fläche erfchien und eine Saberna libraria eröffnete, gehörte die germanifche
Sugend — „litterarum fecreta ignorant* — nicht zu feinen Kunden, bdd-
ftens erftand fic) ein fennerifder römiſcher Offizier eine Handjchrift der
Ars amatoria. Heute aber? Angelidts der Bahnbofsbuhhandlungen
und Seitungshausden will man germanijde Gugend aus der Zeit Cäſars
mimen? erdrangtes Wiffen ift nicht Unwiſſenheit. Durd die Grope
ftadt fommt man nidt mit romantifmer Ausgezogenheit und Wature
{Hwdrmeret, fondern nur mit niidterner Sadlidfeit und mit gleidfam gue
gefnöpftem Willen hindurdh. Wan wirft das Kleid nicht ab, fondern en
es fefter an fid).
503
Heinrid) Schüß, ein bergeffener Großmeiſter
deutfcher Mufil.
u den beinahe abgebraudten Schlagworten unferer Zeit gehört aud
dasjenige bom „geiftigen Austaufd der Völker.“ Man fcheint zu
glauben, daß man eine Art geiftiger Bölleraftiengejellfchaft zu bilden vers
möge und mit ihrer Hilfe neue Werte und neue Perldnlidfeiten aus dem
Boden ftampfen könne. Denn aud) dies ift ein Kennzeichen dieſer Epoche,
daß man frifdfrdblid den Anbrud) einer neuen Zeit und damit einer neuen
Wufilperiode und zuglei bie Eziftenz überragender Schoͤpferperſoͤnlich⸗
leiten verfünden darf.
Aud diefer, dem GFernftebenden neuartig borfommende Suftand ift
nichts fo Abfonberliches, fondern bat feine Parallelfalle in der Bergan
genbeit: immer, wenn es fid Darum handelte, den Ucbergang aus der einen
Kulturftufe in die naddfte gu gewinnen, treten folche Seiden auf. Kenn«
zeichnend dafür ift, Daß man gunddft vermeint, mit Dem Seftern völlig gee
broden zu haben, daß man die geheimen Fäden überjieht, welche troß
aller rebolutiondren roflamationen dieſes Geftern mit dem Heute und
dem Morgen verbinden. Und ebenfo thpifd bleibt in all ſolchen Fallen
die Sudt, die Bedeutung der zeitlich wertvollen Kräfte zu überſchätzen.
Die Nachwelt pflegt Dann nad dem alten Sprud, Daß die Weltgejchichte
aud das Weltgericht fei, ausgleichende Geredtigfeit infofern gu üben, als
jene Seitberiibmtbeiten gewöhnlich ebenjo rafd in den Sintergrund ge-
Ihoben werden, als fie borbem im Mittelpuntt des Interefjes geftanden.
Wer bon uns fennt Heute noch ernftlid Mtufif Der Mannheimer, und Doch
nannte man einft deren Führer Stamig den „Shalefpeare der Muſik“.
@ang ebenfo erging es dem älteften Bachfohne Philipp Emanuel, der den
Ruhm feines Baters verduntelte, um Heute faft nur noch das Intereffe
der Fadmufifhiftorifer gu befdaftigen. Und dod nannte Haydn ihn feinen
Lehrmeifter ebenfo wie Mozart ohne feine Mannheimer Lehrzeit nicht als
ber [pätere Meifter der Snftrumentalmufif und ohne ihn wieder nicht Deet-
hoven mit feinen Sinfonien gu denfen wäre.
Ganz Aehnlides gilt aud von Heinrich Schüß, der erft in unfern Ta⸗
gen, ähnlich wie BH. G. Bad (in Brieslanders ausgezeichnetem, bei Piper
in München erfdienenem Bude), wie die Mannheimer (von Hugo Rie-
mann) in die Sagesbeleudtung gerüdt worden ift, woran bor allem Die in
Dresden, der Stadt feiner langjährigen Wirkfamtleit erfolgte Oründung
einer Schützgeſellſchaft (Dr. &. H. Müller) das Hauptverdienft trägt. Aud
er ftand zwijchen den Seiten, wurde bon feinen Seitgenoffen als der „Bater
Der neueren Muſik“, ja, als der ,allerbefte deutſche Komponift“ gefeiert,
um Dann für Jahrhunderte zu verjchellen. Schon die Doppelform feines
Namens: bald Schüb, bald Gagiitarius, ift Tennzeichnend für diefe feine
„Zwitterftellung. Und wie ein rechter Atlas bat er die Briide zwijchen
zwei Welten zu tragen gehabt: Palcftrina und Laffo ftarben, als er gum
Knaben heranwuchs, und, als er felbft tot und vergeffen war, wurden
Bad und Händel der Welt als neue Sterne gefchentt. Auch bas mag ein
Kennzeichen jener „Rulturperbindungsmänner“ fein, daß ihre irdifde Wirk⸗
504
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Aus dem Deutihen Volfstum Fidde Biehl, Frieſe mit Morgenstern
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famteit in duperlid wie innerlid) unrubige Zeitläufte gu fallen pflegt»
Shüß erlebt den furdtbaren Dreipigjabrigen Krieg, Stamik und mehr
noch feine Schüler erleben die Borboten der Rebolution, und geht es ung
beute viel anders?
Wie Stamit den Stilmechfel vom Rofofo zur Klaſſik vorbereiten bilft,
fo Sith denjenigen bon der gotifhen Polyphonie zur Renaiffance. Bon
beiden Kulturen nährt fic fein Schöpfertum: bom Morifden Wufizieren
der Mebrftimmigteit gebt es gum choriſchen Inftrumentalfpiel, danach gum
Solofpiel, bas dem monodijchen, neu gefundenen Gefang nachgebildet
wird, und das die polyphbone Fülle, die harmonifche Kraft bes General-
bajffes gewinnt, um fo den fongertierenden Stil der Sufunft einzuleiten.
Schütz ift aud rein Äußerlich betrachtet ber Bermittler zweier Qandes-
fulturen: zweimal reift er nad Italien, der Heimat aud der muſikaliſchen
Renaiffance, einmal als junger, feines fünftigen Studiums nod ungemiifer
DJuraftudent, das andremal als berühmter Meifter und woblbeftallter
ſächſiſcher Hoffapelldireftor. Buerft ift es Andrea Sabrieli in Venedig,
der „goldführende Strom“, wie er ihn einmal nennt, der ihm neben ber
altbewährten Kunft der niederländifchen Shorpolyphonie die neue der aus
Der befonderen Anlage der Marfusfirche entwidelten Mehrchörigkeit und
Dazu diejenige des fongertierenden Stils vermittelt. Anläßlich feiner
zweiten Reife glänzt ihm als Borbild der leuchtende Name eines Monte»
berdi, Des „Wagners der Renaiffance“, bes Entdeders des reinordeftralen
Stils. So wird Schüß, deffen Name bald als eines der „großen Drei Sch.“
(Schein, Scheidt, Schüß) befannt werden follte, der erfte Deutfhe Kom⸗
ponift, der felbftandig deutſchen mufifalifden Schaffengftil mit italieniſchem
zu vereinen wußte.
Betradten wir kurz die widtigften, bon ihm unferm Lande erfdloffe-
nen Schaffensgebiete:
Der Begriff des „Oratoriums“, lange Zeit bindurd allguwenig
bon dem der Oper, der Paffion, ber Kantate getrennt, wird am ebeften
wiedergegeben werden fünnen als der Ausfluß des religidjen Kunftinter-
effes der Durd) das Gmporbliiben der Glorentiner Oper in ihrer volks⸗
tümlichen Auswirfung bedrängten Kirche. Seine Form gewann bas Ora-
torium entweder. aus einer Dramatifden Szenenfolge oder aber aus unper-
fönliden religiöfen Betrachtungen. Gegenüber der Oper befaß es feinerlei
ſzeniſche Darftellung, gegenüber der, ibm an Alter überlegenen Paffion, die
als Choral⸗ und Motettenpaffion fertig Dafteht zu einer Zeit, wo das
Oratorium ans Licht drängte, entſchloß es fid) zur Annäherung auf dem
©ebiete des Paffionsthemas. Der Palfion verblieb als Eigentum nod
bie oratorifhe Diftion, das heißt bie freie Umdichtung des Gpangeliums
mit Hinzufügung bon Nebenepifoden. Gegeniiber der Kantate endlich be-
faß das Oratorium die epifche und dramatifche Tendenz, die individuelle
@rundftimmung, während jene aud die Solopartien unperfinlid bielt
und als Hauptſache den Choral behandeln mußte. Direfte Borfahren des
Oratoriums waren das Tateinifdhe Oratorium, berporgegangen
aus der gallifanifmen Mefje, bei der aud) Laien mitwirken durften, und
die ihren liturgifchen Sharalter nie verleugnete. Als man die Laien aud
bieraus berdrängte, gab man ihnen als Erſatz die dramatifch-biblifchen
33 Deutſches Boltstum 505
Spiele, Die im 12. Jahrhundert befonders in der Paffionswode ihren Plas
fanden. Ihr ftiliftifches Borbild waren die Sequenzen Des Mönche Notker
oder aber die Marienflagen. Bei ſolchen Aufführungen fteuerte der mit“
wirfende Chor gern firhlide Hymnen, jo das befannte Te Deum oder aber
Antiphonen bei. Seit 1480 von realiftifden voltstümlichen Aufführungen,
den Dedogione und Rapprefentagioni facre verdrängt, Aufführungen, bet
denen Gcladten, Sagden, Wrarthrien, Wunder im fraffen Renaifjance»
geſchmack geboten wurden, lebten dieje Liturgifchen Dramen feit 1600 in
Inapperer Gorm und Tonzertmäßiger Faſſung wieder auf.
Wie inzwiſchen auch der Sottesdienft, fo waren Diefe Spiele fiirger
gefaßt worden, die fzenifche Darftellung war durd) Das Sridentiner Konzil
in Bann getan. Der Spangelift erfdien dafür als Erzähler der Pajffions-
borgdnge. ®ern ſetzte man dieſe Oratoriendialoge an Stelle Der in den
®ottesdienft eingejchalteten Motetten.
Die zweite Quelle des Oratoriums, bas italienifa@e, bas
beißt Iandesjpradliche, nimmt feinen Hergang aus der religiöfen Wieders
geburt, die jid) mit Dem Namen des Franz von Affifi, feiner Lobgejänge,
der „Zauden“, dazu der Slagellantenbewegung um 1300 verbindet. Ihre
Heimat ift Umbrien, bas geiftlide Bolfslied in ftropbijder Gorm der
Nährboden, dem fie entfpringt. Golder Lauden, die entweder rein dia-
logijch, oder aber in Dialogform mit berbindender Erzählung gebalten fein
fonnten, gab es für Das ganze Kirchenjahr. Aus ihnen entftehen danad bie
borbin genannten Depozione und Rapprefentazioni facre.
„Zaudefen“ nannten fid) Die Mönche, denen dieſe mufifalijhe Runft zur
Anfeuerung der Andacht im Betfaal, dem „Oratorium“, zu Dienen Hatte.
Immer und immer wieder ift im Mittelalter die Mufit Bwedfunft der
Kirhe geblieben. Die Dichter der Glorentiner Samerata, der geiftigen
Zirkel, denen die Monodie, die Oper entjprang, verbrämen Diefe Lauden
mit böfifch-eleganter Poefie. 1551 gründet Filippo Neri einen Verein
für Cittlidfeit und Religiojität und beruft die Sujammenfiinfte nad Dem
Betfaal von ©. Birolamo della Harita. Wie Stanz bon Affifi treibt aud
ihn der Eifer demofratifcher Religiofität, und wie die Sefuiten, deren
Großmeiſter Loyola er freundfchaftlich nabefteht, dient er letzten Endes
Der Gegenreformation, nur auf weniger medanifde Weife als jene. Ihre
reidlid) ſchwülſtige Lyrik weiß Neri glüdlich gu vereinfachen und zu poe
pularifieren. Nach feinem Tode geben die dburd) Sapalierig ,Rappres
fentagione di anima e di corpo“, „uraufgeführt“ im Betfaal ber Oratorien«
gefellichaft, angeregten Nadbilbungen den Anſchluß an die GFlorentiner
Rapprejentazionen. Hier wird der Berfud gemadt, das neu gefundene
Rezitativ, den antifen Klaffilern nachgebildet, in den Dienft religiöfer
Affelte zu ftellen. So wird der Boden für die geiftlide Rammerfunft,
für Arie und Solofantate gefchaffen. Aber aud) in die dialogiichen Chor-
partien dringt der neue rezitativiſche Stil ein. Strata gibt 1610 dem Gre
aabler endlich Die Ginftimmigfeit, Tommafi läßt ihn in rubigerem, Die
Sonwiederholung beborgugendem Stil reden als die übrigen, mehr aus-
Drudsmäßig jingenden Perfonen. Inftrumentalmufif gewinnt nur in ein-
leitenden „Sinfonien“ oder in Zwifchenipielen mühſam Raum.
Diefes pollstümliche italienifche Oratorium fchiebt fehr bald das litur-
906
gifchelateinifche zur Seite, befonders zur Gaftengeit, wo Hie Oper ge-
Icloffen bleibt. Seine Stoffe nimmt es gern aus dem alten Seftament, den
Heiligengeihichten, aber aud) Allegorien werden nicht verſchmäht. Solo»
gefänge treten gegenüber den im lateinifchen Oratorium blühenden Chor
in Den Bordergrund, und das Birtuofentum gewinnt an Macht. Ga, foe
gar das Rezitativ wird allmablid bom Arienwejen beifeitegejchoben. Gee
fangstoloraturen, inftrumentale Ritornelle dringen bor, bejonders in Ne»
apel, wo nad) dem Borgang ber Arienoper der Chor ganz verſchwindet,
Die Inftrumentalmufif nur nod in der Einleitung und zur Begleitung ge-
Duldet wird, während Benedig den älteren Stil länger erhält.
In Deutichland fteht den feit 1650 datierenden Verſuchen, das italie-
niſche Oratorium einzubürgern, entgegen, daß uns die religiös-mpftijche
Bewegung eines Franz, eines Lohola fehlte, daß unjere orthodoxe Kirche
fi funftfeindlid) gebärdete und daß uns die Bibel mehr Srundlage der
Betradtung als der Andachtsübung blieb. Zwar waren aud) Hier Ane
jage zu einem Oratorium vorhanden: feit 1550 pflegte man bei Hausan-
dachten gereimte Bibelgefhichten in der Art der italienifden Lauden ab»
zufingen. Aber Spener überging 1669 bei feiner ®ründung der collegia
pietatis die Mufil. In den geiftliden Schaufpielen und den Sculaften
der Humaniften fam auch die Mufil zu ihrem Recht, allerdings nur
in der Gorm don dramatifden Liederfpielen. Weiter: in den „Nürn-
berger Akten?“ fangen nad Schluß des Gottesdienftes ein Srgabler, der
Chor und Soliften häufig Choralweifen, woraus fi in Hamburg 1660
Wedmanns collegium muficum und in Lübed DBuztehudes berühmte
Abendmufifen entwidelten. Auch wurden anftatt der Motetten inmitten
des Gottesdienftes fantatenbafte Bibeldialoge geboten, und endlid gingen
aus der Paffionsbiftorie die Motetten- wie bie Choralpaſſion bere
por. Bor allem bie legtere, die aud) dem Sologefang Raum gab und auf
dem ®runde des gregorianifhhen Chorals errichtet war, [Huf in der Bere
teilung der Gingelrollen eine primitibe Dramatik. Hier fchlih fid bald
an Stelle des unbegleiteten Ghoraltons die neue italieniſche Monodie ein
und half, dem Baffionsoratorium den Weg bereiten. Nad dem AWtufter
der „Auferftehungsbiftorie* bon Scandellus aus dem Jahre 1570 ſchrieb
Sadik feine „Hiftorie bon der fröhlichen und fiegreihen
QAuferftehung Jeſu Shrifti*, wo gwar nod die Hauptperjonen
nicht eins, fondern zweiftimmig zu fingen haben, wo jedoch die Rezitation
nad dem Borbild Montederdis inftrumental begleitet wird. Der gefiird-
teten Monodie wird in der ,Weihnadtshiftorie” frei Raum ge
gönnt. Hier ift, wie (hon das vom Kantor Hering gelieferte Borwort
ftolg befundet, eine ganz neue Gorm bes Rezitativs gefunden, die ein
Händel und Bad {pater porfanden und ausbauten. Slänzend find in
biefem erften deutſchen Oratorium die einzelnen Perjonen arafterifiert,
und die Inftrumente find nad des großen Stalieners Borgang zu leiden
Sweden ausgebeutet.
In feinem Motettenwerl gibt Schüß ebenfalls den Höhepunkt
bor der Zeit Bachs: feine cantiones facrae bon 1625 find a cappel»
la-Stüde, mit ®eneralbaf ad libitum, Die Den venezianifhen Madrigal«-
ftil mit feiner DVorliebe für Sonmalerei, für Rhythmenreichtum, für
83° 507
Chromatik, für Die Diffonang, die bier weit über Bad binausweift, in
die Motette einführen. In der „Beiftlihen Shormufit“ bon 1648
wird {don der italienifde baffo continuo bevorzugt, in den „[infoniae
facrae“* der fongertierende Stil mit feinem Uebermaß an ®egenjäten.
Wunderbar gelungen ift bier die nadtlide Bifion „Saul, was verfolgft
du mid?“ mit ihren Schowirfungen. Hier ift deutlich der Einfluß der
zweiten Reife in Die Stadt der „haralterifierenden Oper“ gu erfennen. In
femen „Bfalmen Davids", bie ber venezianifchen Runft der Mehr
drigfeit ihren Tribut gollen, ift ein Handel vorgeabhnt, ja, vielleicht [don
an überindipidueller Kraft übertroffen. Wie diefer ift Schüß zugleich der
@rofmeifter der Deutihen Oper, der er in feiner „Dafne* das Urbild
ichentt, und im gleichen Maße derjenige des deutſchen Oratoriums ge-
worden.
Man bat den Bergleid) gebraucht und Sadik dem Maler Srünmwald,
Händel Dürer zur Seite geftellt. Alle Bergleide hinten. Aber Das eine
leuchtet ein: nur ein wahrhaft im eignen DBollstum bertourgelter Mann
wie Schü es war, der in Krieg und Kriegesndten auf feinem Dresdener
Amte ausbielt und feine ,Gade um ihrer felbft willen tat“, fonnte Ber
DBermittler zweier fo grundverfchiedener Mufiffulturen und Zeitalter fein.
Jeden anderen hätte dieſe Miffion zerdrüdt, und es find nicht wenige, die,
feine Seitgenoffen, daran gefdeitert find. Aus der düfteren Spode des
Krieges, der uns um Jahrhunderte wirtfchaftlich und geiftig zurückwarf,
leuchtet die edle Seftalt diefes Großen, der Deutiches Gut bewahrte, be»
teiderte und es Brößeren überlieferte, hervor, ein Anfporn und DBorbild
für ung felbft, Die da ringen, Deutſchland nad Jahren der Erniedrigung
wieder gum Lichte emporgubelfen. Hermann Unger.
Paul Schulze-Berghof.
1.
er fih aus den Werken unferer jüngeren Literaturbiftorifer über
die in Deutichland wirfenden didterifen Berjönlichkeiten zu unter-
richten berfudt, der muß zu ganz falſchen Ginfdabungen und Anfichten
über unfer geiftiges Leben in den letzten Zahrzebnten fommen. Gs war
immer [don offenkundig, daß auf dem Gebiet der Literaturgeſchichte die
Sille Des Stoffes bon einer Berfönlichkeit nicht in allen ihren Seilen
erihöpfend und aus griindlider Kenntnis heraus mit objeftiver Wer-
tung der bejonderen Gingelfrafte behandelt werden fonnte. Beftenfalls
verzeichnete man Die Erfolgreichen, die auf bas geiftige Leben durch äußere
fördernde Berbhaltniffe Einfluß zu gewinnen bermodten, und Eonftruierte,
entiprehend der Befrudtung einzelner vielgelejfener und vielgenannter
Autoren untereinander oder bon Füngern durd den Meifter innerhalb
einer ®ruppe, literarifhe Richtungen. Dabei blieben die Wertpollften,
Die abwarten miiffen, bis einer nad) dem andern zufällig auf fie und
ihre Werke ftößt und don ihnen Kunde gibt, im Dunkeln. Berfudte man
dem abzubelfen, indem man die Arbeit unter viele Köpfe verteilte, fo
mußten notwendig der einbeitlide Mafftab und der gleidhe Sefidts-
puntt, unter Dem alle betradtet und gewertet werden fonnten, berloren-
508
€
geben. Das mußte noch bebdenflider erfdeinen als der Mangel an Boll-
ftändigfeit des Materials. Heute nun legen viele gar feinen Wert mehr
auf folde Bollftanbdigfeit in der Lifte der Schaffenben, und fogar die tat»
{adlide Bedeutung der Perfönlichkeiten und ihr Einfluß auf unfer Bolt
find für fie nicht mehr entfcheidend für eine Aufnahme in ihre Bücher.
Sinzig und allein ihr fubjeltiner Geſchmack trifft die Auswahl und wertet
und bündelt das bon ihm aufgegriffene oder ihm zugeſchobene Material
zufammen. Immerhin ift dag beffer, als wenn man bearbeitet oder mit
einer unauslöſchlichen Note abtut, mas man gar nicht fennt oder wofür
man nun einmal fein VBerftändnis und feine Anteilnahme aufzubringen
vermag. Der Literaturbiftoriter felbft wird natürlich auf diefe Weife inter-
effanter — oder jedenfalls doch wichtiger als fein Stoff. Wir erfahren,
wie der Beurteilende fid zu Diefem und jenem Schaffenden im ®eifte
einftellt, das beißt, welche Bedeutung und welchen Rang er ihm in feiner
Welt einräumt; wir erfahren aber nicht, welde Wertung dem Schaffenden
im geiftigen Leben felbft gufommt. Denn wenn man die Giden unter»
Ihlägt, fann man aud ein Heidefräutlein als überragend feiern.
Im allgemeinen würde das nicht allzuviel bedeuten. Der Literatur
biftorifer ift Herold, Berfiinder, Ordner, ift Der Rufer im Streit Der
Meinungen. Wenn man felber bie Sonne fudte, würde man feiner ent-
bebren fdnnen. Aber da fißen die vielen in der ©®ruft ihrer dunflen Ka-
binen, und das Reflezlicht, bas eine hohe Fenſterſcheibe ihnen gauberifd
zumirft, muß ihnen erft Runde geben bon dem, was die Gottheit aud für
fie bereit hält. Nicht jeder folder Lichterbliß ift Der Widerfchein einer
Sonne Wer die Bücher etwa von Witfop oder Naumann durdjlieft,
der wird gewiß in vieler Hinfidt geiftig angeregt werden; mand einer
dürfte aber nur in eine prablende Lampenbelle gelodt werden, während
das wahre ®lüd einfam über ferne Hügel geht. Namen wie Eberhard
König, Emil Bött, Renner, ®eude, Burte, ja, fogar der Wilhelm Schäfers
fehlen in Diefen Büchern.
Su denjenigen deutſchen Didtern, die nirgends ihrer Bedeutung ent-
fpredend gewürdigt werben, gehört aud) Paul Schulge-Berghof. Nad
dem, was ich oben fagte, fann das für ihn als Dichter nicht niederdrüdend
fein. Hddftens fein Berleger wird daraufhin in einem andern Son mit
ibm zu reden geneigt fein. Aber freilid aud da 8 kann einem Schaffenden
zeitweilig Die Laune verderben und für fein weiteres Wirken ftörend
werden. Da die meiften Sefdaftsmanner nie anders werden dürften, als
fie nun einmal find, follten bier die Zeitfchriften — bor allem Die deutſch⸗
gefinnten, denn die jüdifchen bernadlaffigen faum je aud nur eines
ihrer armfeligften Groſchenlichtchen, fondern feten fie auf Bie höchiten
Leuchter — recht rege ergänzend eingreifen und den für feines Bolfes
Literatur Sntereffierten immer wieder gerade bon denen berichten, Die
feitab bon allen Gliquen und ihren Herolden alg Totgefchwiegene ihre
Werfe mit Ihrem SHerzblut fchreiben, damit man fid ihre Namen eins»
bämmere, ihre Werfe zu erhalten fude und, foweit man in Literaturge»
ſchichten Wegweifung glaubt fuchen zu müffen, diefe richtiger zu gebrauchen
lerne. Bon einem einzigen follte man ſich jedenfalls nie feine Oötter geben
laffen; es könnten ®öben darunter fein, die man aus fid felbft nie zu
509
verehren geneigt fein würde und die, wenn man fie um des Traras
willen, dag um fie ber angeftellt wird, felber zu „genießen“ berfudt,
einem die ganze Beſchäftigung mit den Didtern unferer Tage verleiden
fonnten.
2.
Was nun Schulge»Berghof anlangt, fo gab er uns zunädjt drei Ro-
mane aus dem Leben Friedrichs des Oroßen — feine Trilogie mit einem
einzigen Mittelpunft oder Höhepunkt der Greigniffe — feinen Roman
mit Sortfebungen; denn jeder der drei hat Friedrich innerhalb eines be—
fonderen Milieus, eines neuen Grlebnisfreifes zum Mittelpunkt und fein
ganzes großes Leben zur weiteren geiftigen Peripherie. Der erfte beißt:
„Die Königskerze“. Ss ift die Bejchichte bom jungen Gris und feiner
Liebe zum Dorden Ritter in Potsdam, der hübſchen Reltorstochter, die
fo berbe dafür büßen mußte, daß der Kronprinz in feinem Lebensfrüh-
ling ihren Umgang reigender fand als den mit feinem geftrengen Serrn
Bater und deffen Anhang. Aber nicht Darauf fommt es Schulze-DBerg-
bof an, bie Anekdote in neuer gefälliger Form wieder einmal zu erzählen;
er ift in erfter Linie Gtbhifer, und er will gerade als Dichter und Künftler
Führer zu den Höhen fein. Gr läßt uns miterleben, wie Das Genie des
zur Erfüllung einer großen gejdidtliden Aufgabe Berufenen {don früh
bom Schidfal aufgerüttelt und bon allen den vielen gefdieden wird. Diejen
mögen die Pforten zum Frühlingsgarten der Liebe offenfteben; bor ihm
werden fie erbarmungslos zugeichlagen, ja, er wird fchuldig am jammer-
pollen Loſe derer, die er im fehnjuchtspollen Erwachen zum allgemeinen
Menichheitsglüd mit der geweihten Hand berührte. Durch Entjagung nur
bereitet er fid) wahrhaft bor, den fteinichten Weg zu den Höhen zu über-
winden. Wohl begehrt der junge Feuergeift trobig gegen dieſes Opfer
feiner felbft auf; aber nur aus verzehrenden Flammen fteigt der Phöniz
zum Licht empor. Er ift wie jene leuchtende Blume in der Dürre des mär-
fifhen Sandes, die einfam bon ihren Höhen eine tiefe Pfahlwurzel zu
den nährenden Waffern binabtreibt, die ihre Sehnſucht und ihr Tönig-
lider Wille fuchen. Preußentum erziebt deutſches Wefen für feine Welt-
miffion. Das zweite Bud) „Der Königsfohn“ (1912/13) ift das dü-
fterfte. Da wird der Sroß gebroden — das Königtum errungen. Die
Namen ,Katte* und „Küftrin“ bezeichnen für jeden Mar genug den Gre
lebnisinhalt diejes Romans. Gr felbft, der Frib, ift nicht gebrochen. Gr
madt jein Redt ans Leben und aud an die Liebe wieder geltend; nun
aber ftebt er über Dem, was die Sage ihm an ®utem zutragen. Gr nähert
ji) Dem Bater, er läßt fid berbei, eine Konvenienzehe einzugehen. In
„Die fhöne Sabine (1914/15) aber erlebt er Dann — nunmehr einig
mit fic jelbft und darum nun erft wahrhaft frei für ein volles Griiblings-
glüd —, bebor ihn die Pflicht auf den Poften ruft, in Rheinsberg die
ganze Luft, ein geiftig überragender Menſch zu fein. Gr läßt fic diefe
Durd) Leinen äußeren Zwang beeinträchtigen. Wer fic felbft bezwingen
Iernte, achtet den, in Den andere ober die Konpenienz einen ſchmieden
möchten, gering. Noch einmal fann er fic fättigen mit Sonne für ein
Leben in Arbeit und Selbftentäußerung als der erfte Diener feines Staats.
510
So rüden dieje Drei Romane den Heros des neuen Deutfchland in immer
neuer Beleuchtung allen alg Borbilb zur Selbfterziehung bildhaft und
lebenswarm bor die Augen.
Später, 1917, jammelte Gdulge-Berghof unter dem Titel „Am Urds-
quell“ Zridericianifhe Dichtungen, Balladen und Romangen, zum Zeil
der Stoffwelt jener Romane entnommen oder fie gefdidtlid ergänzend,
als einen Nadflang aus jenen arbeitsreihen Jahren. Gin Nopellen«
band „Dämonen in ung“ folgte, und 1919 ſchloß fid eine ebenfalls 1917
niedergefchriebene Sragifomddie „Der grüne Beutel“ an, in der fich der
Dichter mit Empfindungen und Gedanken, wie fie die Kriegserlebniffe
in ibm ausgelöft batte, fchaffend auseinanderfehte. Es war ein erfter
fünftlerifcher Niederfchlag aus feiner Seele. Das ganze ungeheure Griebnis
im Werfe zu bannen, dazu bedurfte er nod) eines weiteren Abftandes von
den Greigniffen. Doch [Hon 1918 madte er fic daran, für eine große
„Weltenſchau“, die fid in wiederum drei Romanen bor ung aufrollen
fol, gunddft einmal den erften Band auszuarbeiten, in dem jene dunflen
Mächte aufgededt und in ihren Wirlungen verfolgt werden follten, Die
— nidt ſowohl den Krieg Heraufbe[dwiren mußten, als vielmehr für
ben Gall eines Krieges einen gliidliden Ausgang bon bornberein in Frage
ftellen fonnten. 1919 erfcdien Diefer Band unter dem Sitel „Hochwild⸗
feuer“, Der zweite mit Weltkrieg und Revolution folgte unter dem Titel
„Wetterfteinmächte“ 1924. Der dritte fteht noch aus. In diefem Werke
mit feinem breit hinftrömenden Fluß der Erzählung und der gedantliden
Betradtungen offenbart fic uns der Dichter in feiner ganzen jchöpfe-
rijden Seftaltungsfraft, in feinem werbenden und fordernden, zuweilen
an Schiller gemabnenden Ethos und in feiner ftarfen, wortbildnerifchen
Spradfunft. In dieſer Weltenfdau überblidt er aus den im GSeifte ere
Hommenen Höhen geitlid) Deutichland und feine jüngften Geſchicke, prüft
neues Werden und eröffnet Ausblide in die Zufunft. Bis in die Tiefe der
Quellgebiete des Gefdehens durchdringt der Geiſt die Oberfladen. Gr
fieht den Beherrſcher des Mammons, den ewig glaubenslojen Ahasver im
Wolfengebrodel der Hodgebirgswelt emporfteigen, den „reinen Chrift“
gum andern Mal ans Kreuz zu fchlagen. Er jieht das Berderben gegen
das pon der Kultur Sermiirbte herauffhäumen und im Teufelstobel Die
Mächte der Unterwelt ihre Bernidtertriebe ausralen. Sein Held Bolk-
bert aber fchreitet Durch alle Berfuhungen und Schreden erhobenen Haup-
tes an Der Seite feines blonden Weibes, einer Tochter der Berge, dem
neuen Tag entgegen. Beide haben das Dunkle als ihrem Wefen nidt
gemäß abgeftreift und fic) am Leid geläutert — wie einft der große König.
Die Krönung ihres Strebens, die Erfüllung ihrer Träume liegen in Der
Sufunft. Ob es ihnen befdieden fein wird, ihr Volk auf lidtere Höhen
zur Srfüllung einer göttlichen Sendung — wenn nicht felbft emporzuführen
wie König Friedrich der Gingige, Doch emporgeführt gu feben, vielleicht
bon ihrem eigenen Kinde; davon müßte uns der dritte Band erzählen.
Schulze⸗Berghof fdrieb noch die Novellen „Edelinge“, drei Frauen
[didjale, und die Luftipiele „Reife Zugend* und „Fürſt Barbarus“, Dazu
neuerdings als vorläufige Gpifode aus dem dritten Zeil feiner „Welten-
hau“ den eigenartigen Nodellenband „Der Geigenmader bon Abjam“;
511
dann aber bor allem mehrere Bücher über künſtleriſche Kultur, über die
Nationalbiibne und zwei Kommentare zu Dichtungen Ibſens, Dem neben
feinem Propheten Niebfche feine befondere Liebe gehört.
Julius Hademann.
Sterbendes Frieſiſch.
n den meiften alteingefeffenen Sylter Familien wird nod friefifch ge-
ſprochen. Für bas Heimwefen, bie Scholle, für alles, was Erdgeruch
ausftrdmt — für Deich und Glut, für See und GFifdfang, für alle Arbeit
und beimelige Alltäglichleit findet dag alte Sylter Frieſiſch nod Heute
Ausdrud und Wortgeftalt. Es ift Die Sprache der Hausgenoffen, die
den Gerfebr mit Berwandten und Nachbarn, Dienftleuten und ländlichen
Händlern vermittelt. Die Heinen Kinder vor allem wadfen mit ihr auf
und erwacdhen Durd ihre Laute zum Bewußtſein. Sie hören faum anderes,
werben jedenfalls bon Eltern und Hausgenofjen nur friefifch angerebet,
bis fie, wie man bier fagt, „auf die Straße fommen“. Diefer Zeitpunkt
ber erften Berührung mit einer weiteren Umwelt fiel nod vor einem
Menſchenalter ungefähr mit dem Eintritt in die Schule gufammen.
„Als wir in die Schule famen, war für uns alles Dunkel. Wir ftarrten
in den Unterridt wie in ein ſchwarzes Loch und berftanden fein Wort“ —
erzählten ältere Sylter bon der Zeit bor dreißig bis vierzig Jahren.
Dann lernte man hochdeutſch — forgfaltig, [dulmapig, ein wenig
mühſam — wie eine Fremdſprache, aber man lernte es, und bald wurde
es Durch Uebung vertrauter. Das Hochdeutih, bas allgemein auf der
Injel gefproden wird, trägt noch immer Ben Stempel dieſer fchulmäßigen
Sorgfalt und Unbeholfenheit. Wohl fommen Zebler vor, einzelne Pro-
pinzialismen febren typifch wieder, das S im Anlaut wird unfehlbar ſcharf
gefproden (wie im Griefijden), aber felten hört man Schlampereien in
Sabbau und Ausſprache, Weglaffen der Endbudftaben und Ähnliche Uns
gezogenbeiten, wie fie in anderen — befonders den dftliden — Zeilen des
Reiches der Sprache der niederen Volksſchichten oft folden roben und ver»
Dorbenen Klang geben. |
Aber die Zeit, da Kinder erft mit ſechs Jahren unter die Leute famen,
ft vorbei. Heute verfehren fie mit Zugewanderten und Gremben, werden
auf Dotengänge gejhidt und von Badegäften um Auskunft gefragt, fo
bald fie nur laufen und fpreden fönnen. Mit naiber Anpaffungsfabigfeit
lernen fie Hochdeutſch bon älteren ®efpielen, ebe fie felbft recht willen,
wie fie dazu fommen, und immer häufiger wird Die Klage der GSltern:
„Unſere Kinder wollen dDurdaus nicht mehr Griefifd fpreden; fie ant-
worten ung deutſch, wenn wir fie friefifch anreden.“
Woran liegt bas? Leider braudt man nicht weit zu fuchen: die Kinder
fühlen, daß ihre frieſiſche Mutterfpradhe fie nicht mehr mit dem Leben
ringsum verbindet, fondern fie im ®egenteil davon trennt. Eine Mauer
türmt fid) auf zwilchen ihnen und den Kameraden aus zugewanderten
Samilien, die ihr mehr oder minder fchlechtes Deutfch für den einzig da»
feinsberechtigten Ausdrud halten, und die Eleinen Badegäfte ihres Alters
Jind ihnen unverftändliche Ratfel; ja, felbft die eigenen älteren Geſchwiſter,
512
bie [don auf Hochdeutfch mit ihrer faum errungenen Schulweisheit proßen,
werben ihnen frember, und fie fühlen eine unfichtbare Scheidewand.
Dagegen fträubt fich des Kindes Lebensdrang — und mit Recht. Zu
Saufe verfällt es dann wohl nod in die gewohnten friefifchen Laute, aber
feine Sprache wird löcherig, und aus allen Schlien und Riffen [hauen
bie Fremdwörter hervor — deutſche und folde, die aud im Deutidem
nod fremd find — deren gröberer Faden zerreißt Das Gewebe. Das
Sprachgefühl des Kindes wird frühzeitig gelodert, weil es aus Not und
Bequemlichkeit bas erfte befte Wort pon der Straße in dag Gefiige feiner
Mutter[prade hineinftopft. Es paßt nicht dazu, aber der arme Sat muß
fid damit abfinden und wird allmählich Thief und frumm. Seine charakte⸗
riftifchen Gden werden erft berbogen und fallen dann gang weg, bis jchließ-
lid nicht viel mehr übrigbleibt als ein verfchliffenes Kauberweljch, das
faum nod eigene Klangfarbe erkennen läßt.
Man kann dem Kinde daraus feinen Borwurf maden. Es will leben
und braudt Ausdrudswmerfgeuge, die es in feiner Mtutterfprade nicht
findet. Woher follte aud das alte Sylter Friefifjd Benennungen haben
für Auto, Motorrad, Dräfine, Gernfpreder und Telegraph, Rundfunk,
®rammophon, Flieger und Luftihiff? Alle diefe und bundert andere
Dinge {pielen aber tm Leben des Sylter Kindes eine Rolle, und der Heute
beranwadhfende Menfd muß fie tagtäglich beachten, ihnen ausiveiden,
mit ihnen leben, wirfen und rechnen.
Schon die Generation der jest Srwachjenen ſpricht fein gutes Frie-
ſiſch mehr und wird deshalb oft bon alten Leuten bart getadelt. Auch die
Ausſprache verfchleißt. Die Lautbildung wird der fic) immer mehr deutich
gewöhnenden Zunge unbequem. Mit dem geftridenen d findet man fid
noch zurecht, weil es ungefähr dem englifden th gleichlautet* — und jeder
Seemann fpricht ja Englifch, fo bleibt man auf Splt leicht in der Sewohn-
beit — aber faft unüberwindlid) find die apoftropbierten n’, l' und t’, deren
Klangeditbeit von beutfhen Zungen faum jemals erreicht wird.
And die Alten, die fic) heute nod ftolg und ftur auf ihre reine „Söl'⸗
ring Spraf“ verfteifen, vergeffen ganz, daß aud fie Das echte Ältere Gries
jif des Sap Peter Hanfen in feinem Luftipiel: „Di Gidtshals of Di
SH ring Pid’ersdei“ faum mehr verfteben fönnen. Hanfens eigener Sohn,
Shriftian Peter, der hodperdiente Shronift feiner Heimatinfel, bat ſchon
ein biel moberneres Frieſiſch geiprochen und feine Chronifen zum großen
Zeil bochdeutjch gefchrieben.
Damit berühren wir einen andern wunden Bunlt: das Frieſiſche ift
niemals eigentlide Schriftiprache gewefen, und in feiner Ortbhograpbie
berrfchte ein grauenbafter Wirrwarr, bis Boh YP. Möller fein „Wörter“
bud) der Sylter Mundart“ (Sölring Uurterbof) fdrieb und in feinem
„Söl'ring Leesbot“ gleichfalls eine furze Grammatif mit Haren Regeln
für Die Rechtſchreibung aufftellte. Das „Söl’ring Leesbok“ enthält einen
Schatz von Sagen, Sprihwörtern, Erzählungen, Gedidten und Kinder-
reimen.
Boy PB. Möller hat durch fein Werk den Shliter GFriefen einen unzer-
ftörbaren Srinnerungswert gefchaffen. Das fann nicht dankbar genug ane
* Im folgenden mit dh wiedergegeben.
513
erfannt werden. Aber es ift Mufeumsarbeit, und weder er noch bie Vere
faffer verfhiedener Dramen in Sylter Mundart, die neuerbings aufgeführt
wurden, fönnen dem alten Griejij wieder Leben und Zukunft fchenten.
Sein Wortſchatz reicht nicht Über die Grengen der Infel hinaus, und Der
Snfulaner fann fid) heute nicht mehr abſchließen — der Sylter bat das
ohnehin nie getan, denn alg Seemann war er bon alters ber auf allen
Meeren der Erde zu Haufe.
In abjehbarer Zeit foll Shit landfeft werden. Rollen erft die Bäder-
glige über den großen Damm durchs Watt, dann ift es mit der Infel--
berrlichkeit vorbei, und fchneller als bisher wird Shlter Sprache und Son-
derart in den großen Brei der deutfchen Landlarte eingeftampft werden.
Diefe Entwidlung ift zwangsläufig und nicht aufzuhalten. Töricht ware eg,
fim ihr entgegenguftemmen. Die wirtichaftliden Vorteile, die fie bringt, find
lebensnotwendig für die Shlter und feit Iangem beiß erjehnt; und dem
Olid, daß die ſchönſte der Nordfeeinfeln deutfch geblieben ift, muß das
Ontereffe Der fleinen Stammesjonderheit gum Opfer gebradt werben.
Man darf dabei nicht bergeffen, Daß gerade diefe Sonderart ohne Hen
Anſchluß an Deutichland auch nicht lebensfabig geblieben wäre. Um fo
mebr aber follte ung daran liegen, das foftbare Strandgut ihrer Kultur
für Deutfchland zu bergen. Das Shiter Frieſiſch darf nicht fterben, ohne
feinen ſeeliſchen Reichtum der großen deutſchen Wutterfpradhe zugeführt
gu baben.
orte find vergänglihe Form; die Seele einer Sprache liegt in ihrer
Bildfraft. Im alten Friefijd leben Spridwöärter und Redewendungen,
Die nicht als feltene Zitate gebraucht werden, fondern des Alltags gemeine
Rede durchziehen. Garbig und draftifch reiht fid Bild an Bild. Bet
jedem Scherzwort, das bon fchmalen, ſchweigſamen Lippen fällt, bet jedem
Geſpräch über gewöhnliche Arbeit und Hantierung munfeln DBorftellun«
gen, Die tief im Unterbewußtjein der Onfelfriefen verwurzelt find und
irgendwie binausweifen in mbftifhe Ferne oder zurüd in Arpäter-DBer-
gangenbeit, wie es etwa Kinefifhe Schriftzeichen für den Singeweihten
fun mögen.
Wer bie lange Folge angeblich friefifcher Sprichwörter durchgeht, wird
bald merfen, daß viele davon nicht urtümlich find, fondern offenbar aus
dem Hoch» oder Niederdeutfchen übertragen wurden. Auch Dänen und
Norweger, Isländer und Hollander wird man darin unf[dwer wieder-
erfennen. Aber wie find fie überjeßt, und wie leben fie bier im Bolt! Ein
jedes bat feine Heine befondere Wurzelfafer, mit der es fich in dem Infel-
boden feftfaugt, und es gehört mit zur Wefensart des riefen, aud frem-
des Out aufgugreifen, too er es findet, und es mit feinem Glut gu durch
ftrömen, bis es fein Eigen wird. Da bat jemand bon ungefähr einen alten
Seemannsſpruch ausgegraben:
„Wer nicht fährt, wenn Segelwind weht, muß warten, bis Segelwind
wiederlommt — fann fein bis gum Nimmermebhrstage!*
Ein Aufleuddten in ben Augen, ein Schmunzeln um die Mundwinkel
— und morgen Ilingelt der Spruch über Die ganze Snfel. Nod ehe das
Jahr vergangen ift, ift er fo „echt Split“, daß niemand mehr wagt, ihm Die
infulare Herkunft abaufprechen.
514
12
So bat nod Heute der Sylter in feiner Sprechweiſe etwas Seftal-
tendes und Befitergreifendes. Es tft ibm gleidfam bas Gefühl angeboren
für alles, was auf feiner Inſel wachſen fann. Aus den alten Redens-
arten und Sprichwörtern aber enthüllt fi Far und plaftifd die ganze
@igenart des Shlter Lebens. Wir fehen das large Vand und die gierige
Gee, wie fie aus Kargbeit und Fülle, aus Kraft und Weite, Enge und
Wgeſchloſſenheit, aus Sturm und zähem Kampf einem Boll die Vebens-
bedingungen und den Charalter ſchufen. —
Gin hohes Morgenrot gibt niedrige Segel. (En Hoog Daageraat }eft
liig Sails.) Wenn bie Sonne im Aufgeben fchon ihre rote Fahne bis über
bie Himmelshöhe wirft, tut der Schiffer gut, Die Segel zu reffen; Der
Sturm ift nicht fern.
Wo der Deid am niedrigften ift, gebt die Flut übers Feld. (Diar
Di Dif liidft es, gair Di Flör aur Marl.) Aus der alten Not, dem nim⸗
mermüden Kampf um die Scholle weiß der Sylter, an welcher Stelle er
fic gu verteidigen hat, und es ift ihm feine Ueberrafdung, daß aud jede
andere Not den WMenfden da gu paden pflegt, wo fein Deid am
niedrigften ift.
Wer nicht beten Tann, muß zur See geben. (Diar ef bddrigi fen, mut
dd See gung), — da wird er es [don lernen!
Wer das Kreuz Hat, fegnet es fich felbft. (Diar Dit Kriits Heer, feegent
jeft Dimfalen.)
Großer Leute Sunft und Spanfeuer pflegt nicht Iange zu dauern:
(Gurt Lirens B®önft en Spuun⸗Joöl' plai ef lung to waarin’.) Der Friefe
Halt nicht diel von Gunft und ®nade. —
Mit guten Kenntniffen und einem guten Meffer läßt fic viel machen.
(Me en gur Liirdoom en en gur Knif let Him fuul maafi) — das ent-
[pricht beffer feiner nüchternen Erfahrung.
Aud Reichtum Halt er nicht unbedingt für ein ©lüdspfand. Roſen⸗
fträucher und Reichtum pflegen nicht ohne Dornen zu fein, (Quusboffer en
Rikdoom plai ef ſön'er Proter td wiifen) heißt es bedadtig.
Seber Hahn will Meifter fein auf feinem eigenen Mifthaufen. (Art
Huan wel Maifter wiis üp fin ain Haagen) und:
Seder Löffel muß Schale und Stiel haben. (Ark Skair jert biir Slik
en Stal td baaen.)
Das find ®rundregeln, auf denen des Alltags ficheres Werten fid
aufbaut.
Das Hemd ift mir doch näher als die Sade. (Dit Sjürt es mi dad
naier is Di Knapefii.) Das jagt man wohl aud im Binnenlanbe, aber
„Di Rnapefii* ift nicht jedermanns Gade, fondern ein Stüd der alten
Shlter Sradt, und es wird dadurch angedeutet, wie fehr Dies Wort dem
friefifhen Sigenbrödlerfinn entipridt.
Abend- und Morgenregel ftimmen oft nicht zufammen. (Injs-Rail
en Miarens-Rail fum aaft ef aurjen.) Swifdhen Abend und Morgen
liegt Der ®ezeitenwechfel, und wer an der Nordfee wohnt, der weiß, daß
über Nacht fic) alles ändern fann. Aber einige Zuftände gibt es, Die im
Gegenteil recht dauerhaft zu fein pflegen:
515
Norbdoftregen und alter Weiber Keifen bat nie ein Ende. (Wuurdh-
Yaft Riin en ual’ Wüfens Kiiwin Heer nimer niin Gen’.) —
Wenn das Kind fein Wohl befommt, dann weint es nit. (Wan dit
ungen fin Wel fair, da ffrualet et ef.)
Wenn die Krippe leer ift, beißen fid die Pferde. (Wan di Kreb lerig
es, bit jam di Hingfter.)
Wenn die Frau gut haushalt, madfen die Schinten am Balfen. (Wan
Di Wüf gur büshalt, da wuffi Die Sfinfen bi Bualf.) Sieht man nidf
bas Frieſenhaus bor fich mit den altersgefhwärzten Balfen unterm Roof
(Dad), an denen die reichen Vorräte geborgen werden?
Mit den Haustieren lebt der Sylter in engem Berein von früh bis
fpät; ihrem Dafein entlehnt er am liebften feine Bilder und Bergleide.
Eine große Borliebe hat er für Pferde, und obgleich die alte Spottrede:
„Ein Seemann zu Pferde ift ein Greuel bor Gott" nod manchesmal ge-
braucht wird, muß man bem Shlter im allgemeinen bod nadhrühmen,
Daß er recht wohl reiten fann. Man fee einen vier- bis fedsjabrigen
Jungen aufs Pferd, und er trabt dapon. Gr nennt zwar den Zügel nicht
felten aus Verſehen „das Steuer“, aber das bindert ibn keineswegs, fid
feiner zu bedienen, und aud) das Gabren wird bald gelernt. Er weiß:
Gs gehört mehr zum Pferde als „Hüh“ Tagen. (Diar jert muar td
Hingft is „Hui“,) — und: Wer nidt aufs Pferd fteigt, wird aud nicht
abgemworfen. (Diar ef tip Hingft fumt, uur uf ef ofjmeten.) —
On früheren Jahrhunderten wurden die Landbeliger nad der An-
gabl der Pferde, die fie bielten, befteuert, und man trieb gern Zuzug
damit, über die Infel zu fahren. Je bedrängter die Zeiten wurden, defto
mebr lernte man die Rub als dag nüblichere Haustier [chäben, und Bauern,
Denen es gubiel wurde, ein ganzes oder gar zwei Pferdelofe zu fteuern,
nahmen an Stelle eines ungebärdigen Sengftes lieber zwei gute Mild-
fiibe in den Stall. In gabllofen Redewendungen verknüpft der Sylter
jett fein Leben mit den Gewohnheiten und Gigenfdaften feiner nährjamen
Hausgenoffin.
Die Kuh will’s nicht wiffen, daß fie ein Kalb gewefen ift. (Di Ri
wel-t ef weet, dat⸗s en Rualeb wefen Heer.)
Wem die Rub gehört, Der mag fie bei den Hörnern nehmen. (Diar
di Kit töjert, mai höör bi Huurn nem.)
Die Rub, die nicht wie toll rennt, fommt aud ins Dorf. (Di Kü,
diar ef böfet, fumt uf td Serp.)
Wan nimmt die Kub bei den Hörnern, aber den Mann beim Wort,
(Gm nemt di Kit bi höör Huurner, man di Man bi fin Uurt), und fo ferner.
Schaf und Schwein marfdieren wohl aud im Reigen der Splter
Sprichwörter, aber Doch nicht fo Häufig wie Pferd und Rind.
Gin Geighals und ein Schwein fommen erft zu Mugen, wenn fie tot
find. (Gn Gitshals en en Swin fum jeft tö Gaagen, wan’s duar fen.)
Zwingend, wie nur Selbftgefchautes wirken fann, ift der Ausdrud: „Er
madte ein Geſicht wie ein umflutetes Schaf.“ Das friedlich grafende Tier,
bas feinen erhöhten Weidefled plöblich pon den blinfenden Schlangen der
Slut umgriffen fiebt, ift für jeden Nordfeeanmwohner ein plaftifhes Bild
516
mit tiefem Hintergrund, in dem fid bie ganze Ratlofigkeit, Stumpfbeit,
Staunen und Begriffsftübigfeit des feelifden Srlebens bergen.
Die ftarl der Shlter die Natur der Infel lediglich als feine nubbare
Umwelt, gewijjermaßen jeine erweiterte Haut, betrachtet, zeigt fid in Der
feltfamen Armut der Namengebung für wildlebende Tiere. Gin Bogel ift
ibm meiftens nur „en $ügel“ und weiter nichts. Für ben Steinjchmäßer,
der in feinen Mauern und Zriefenwällen niftet, hat er die Bezeichnung
„Dilswaig“.
In jedem Lod findet man Padden und Dilswaijen. (Den fen Hol
fent em Poren en Pilswaifen), nach der breiten weißen Schwanzbinde des
DBogels, die bei jedem Auffliegen leuchtet.
Oftwindpdgel werden die Rotkehlchen genannt, weil in den Suggeiten
anhaltender Oftwind fie gewöhnli in Scharen auf die Infel Bringt. Im
übrigen intereffiert den Infulaner ein Bogel nur bon dem Geſichtswinkel
aus, ob er fic) für feine Bratpfanne eignet. Dementſprechend fagt er:
Ein Bogel in der Pfanne ift beffer als zehn in der Luft. (Gen Zügel
on Di Pon es beeter is tiin dn Di Qocht.)
Der Hafe fist bier nidt im Kohl, fondern ,fpringt aus dem Halm-
buſch“. (Diar [prong di Haas it di Halemtot) — in den Dünen nämlid), wo
er häufiger anzutreffen ift als in den Roblgdrten, die bon Hoben Stein⸗
wällen umgeben find.
Gingebender als mit Vögeln und Dierfüßlern befchäftigt fich bie
Shlter Rede mit den Fifchen Ded Meeres, die als Hauptnahrungsmittel
und Griverbsquelle dem Infulaner bon jeher wichtig waren.
Fiſche nicht mit einem Sandipierling nad einem Kabeljau, (Gefi ef
me en Gon’greefling eedher en Kabeljau) fagt man bier, ftatt auf dem
Seftland: „mit der Wurft nad der Spedfeite werfen.“ —
Zwei Begabungen haben bon jeher dem Infelfriefen die Richtung
gewiejen: Mathematit und Philofophie. Als ſcharfer Rechner „geht ein
Sylter über bier Juden“. Zahlen find ihm allemal die Rofinen im Ruden,
und die matbematijden Kenntniffe, die er für fein Seemannsleben braudt,
eignet er fic) fpielend an. Damit Hand in Hand geht das Philofophifche
und wird gewürzt bon einem trodenen, draftifden Humor. Kurz ift feine
Rede:
Gs foll jon ein guter Redner fein, der einen Schweiger übermeiftert.
(Sat ffel en gur Snaffter wiis, diar en Swüchfter formaiftert.) Wir fehen
fie gufammenfigen, die Inodigen ©eftalten mit den ſchmalen Blondgefid-
tern, Die Pfeife [chief im Mund — in wortloſer Behaglichkeit die beften
©efäbrten.
Bon einem, der zuviel redet, meinen fie dann aud: Gr braudt nicht
unter der Zunge ge[dnitten gu werden. (Hi tört ef Ön’er Sung klept wiis.)
Dreite nidt mehr aus, alg gebrofden werden Tann (DBreeri ef muar
ut üs toffen uur fen) heißt es, wenn man im Graablen auf Nebandinge
abgleitet und bom Hundertften ins Taufendfte gerät.
Zangjam und [chwerfällig ift des Sylters Art, bedachtſam und über-
legend; das geht redt oft „wie die Laus auf geteertem Perfenning* (Dit
gair ig en Lüs tip en tiaret Prifenning). Aber wenn ein gewiſſes Maß
517
überfchritten ift und Das ſchwere Blut in Wallung gerät, verfällt er dem
Jähzorn. Gr Tennt feine Gefabr:
Aufichieben taugt nur bom Zorn (Aurfeeten docht man bi BifterHair)
fagt Das Sprichwort, aber oft genug hört man:
Das band das Fuder zufammen! (Dit Gen’ ffel Dit Vees binj), wenn
Die Geduld erſchöpft ift und ein Tropfen Aergernis den Becher Des Bornes.
zum Ueberlaufen bringt.
Für alles unedte Wefen, für Sünche und Pus über Mangel und Un-
tidtigfeit hat er ſcharfe Kritik:
Das fieht aus wie eine Fahne auf einer Miftfarre. (Dit fjodt iit
ig en Slaag üp en Mjuks⸗Krer.)
Mit dummen Leuten und faulen Aepfeln ift nichts aufzuftellen. (Dum
Liren en forrddtet Aapler es nönt me aaptöftelen.)
Und mit leifem Spott wird abgetan, wer prablt oder Hagt oder gar
gubdiel bon anderer Leute Angelegenheiten gu erzählen weiß:
Gr reitet, ehe er gefattelt hat. (Hi rert ef Ja eedber, is er faarelt.)
Gr ift nicht fo lahm, wie er hinkt. (Hi es ef fa Iam, is er binfet.)
Gs find nicht alles Evangelien, was er fagt, da find aud Epifteln
drunter! (Hat fen ef ales Gefangeelis wat ’r fair, diar fen uf Epiftler
mung.)
Einmal Hilfe leiften tft beffer als zehnmal geloben. (Gens wat Surs
Dd es beeter üs tiinlop Iödiw!.)
Gr redt den Hals wie ein Hund, der einen Knochen bor der Schnauze
bat. (Hi franet üs en Hün’ me en Biin dn Snüt.) —
Aud das ftarfe Nechtsgefühl ber Shiter findet manden ſprichwört⸗
lihen Ausdrud:
Zwei gegen einen ift weder Kunft noch Shre. (Sau om jen es nod»
wedher Könft of Sar.)
Unrecht Gut fommt nicht auf den dritten Erben. (Uenredt Gur fumt
ef td di trer Aarwing.) |
Und den gleihen Sharalter weifer Vorausſchau birgt bas Wort:
Wird dir eine Tür verfchloffen, geht dir eine andere dafür auf. (Uur
er Di jen Diitir tömaalet, da gair Di en üdher wedder iippen.) Man foll
jid nur umtun, wo die offene Für fich darbietet.
Wo Geld ift, da ift der Teufel, und wo nichts ift, da ift er zweimal,
(Sur Bil es, es St Duiwel, en Hur nönt eds, es-r taumol.) Olaubt maw
nicht faft, der alte Spruch fei nagelneu auf die Not unferer jegigen Zeit
gemünzt ?
Das ift fo lang wie’s bdfe Zahr! (Dit es fa liing üs Dit arig Saar)
fagt der Sylter, und man fühlt, daß mand)’ böfes Jahr über die Injel
gegangen ift — man weiß aud, wie lang, wie endlos — ewig — böje
Sabre find.
Aber dann heißt es doch wieder:
®eradeaus ift der nächſte Weg. (Liltö es di naift Wai), und der Infel-
fremde, der zum erftenmal Die weiten Heidefladen, die Wiejen und
Wattweiden bon Split mit dem Auge überläuft, bemerft vielleicht das ftille
Lächeln des alten Friefen nicht; wenn er aber den Weg unter die Füße
nimmt, offenbaren fid ihm ungeahnte Hemmniffe. Hier ift ein Graben
918
ies. WW. ee:
tief und breit — dort ein Sumpf, drüben wiegt fich goldenes Rohr im
Wind — bas Land fab fo flad aus, fo eben und einfad! Gewiß: gerade»
aus ift der nddfte Weg, man muß nur fpringen und waten fonnen, viel»
leid: ein wenig flettern und nicht daran Denfen, fein Schubzeug gu jchonen,
dann wird man fein Ziel erreichen, 34), gleichmütig, ausdauernd wie der
Sriefe felbft:
Mut und Ueberlegung nehmen Mühe auf den Rüden. (Mur en Aur»
led) nemt Mait üp Red.) —
Wenn die Infel erft Iandfeft geworden fein wird und die Brengen des
Bolfstums verfchwimmen, wenn alle Gigenart der Landfdaft und der
Menſchen fic verwiſcht hat, werden die Bilder aus dem Syhlter Sprad-
{dak nod) zeugen bon dem Wadstum einer BVolfsfeele und dem Leben,
das einft war.
Gin „geflügelt Werkzeug“ in Schillers Sinne fann bas friefifche Wort
nie werden und ift es aud fchwerlich jemals gewefen, wohl aber eine
Wurzel, Die fic tief in den Heimatboden fenft und der deutfchen Sprade
den Suftrom warmer, lebendiger Quellen vermitteln follte.
Helene Varges.
„Zwei Erzähler bon der Wafferfante.
Albert Beterfen und Wilhelm Poed.
le Literatur eines Seitalters, in Dem es Literaturgefhichte gibt,
ftebt unter wefentlid anderen Bedingungen als die Literatur, Deren
Dichter nie auf den Sedanfen verfallen können, daß ihre Werfe einmal „in
die Literaturgejchichte fommen.“ Während jene fic an eine geſchichtliche
Gemeinde — und zwar nidt nur an die gerade lebenden, fondern aud)
an die zufünftigen ®efdledter — wenden, wenden diefe fid nur an ihre
unmittelbaren Zuhörer. Die ®emeinde der YZubörer ift dort mehr ab-
ftraft, bier ganz individuell, Damit ift aud die Richtung bes Ehrgeiges dere
ſchieden, mehr nod, der ganze Stil der Dichtung ift verjchieden.
Die geihichtslofe Literatur fann weit leichter die Naipität bewahren
und den unmittelbaren finnlichen Klang und Rhythmus pflegen. Die Lite»
ratur, Die im Zeichen der Literaturge/didte geichaffen wird, verliert Durch
bie Entfernungezwijchen Dichter und Gemeinde dieſe Werte in einem ge-
wiffen Grade, aber fie gewinnt eine höhere geldhidtlide Refonang. Sie
bat als „Nationalliteratur“ eine etbifhe und politifche Bedeutung für
Nationen und Jahrhunderte.
Sobald ein Volk gu dem Begriff der „Nationalliteratur“ gelangt ift,
wendet fich Der Ehrgeiz Der Schaffenden der Seltung für die ganze ge-
[bidtlide Gemeinde, für die „Nation“ gu. Es entfteht ein Wettftreit um
„nationale ®eltung*. Ge mehr nun in einem Bolfe bie Großſtadt an
Einfluß gewinnt, um fo mehr beftimmt fie die nationale Geltung einer
Didtung. Die „Nationalliteratur* erhält ein ausgefprochen großftädtifches
Sefidt, fie wird ſchließlich Grofftadtliteratur [Hledthin. Als Berlin gen-
trale Bedeutung für Das deutfhe Bolf gewann, wurde es aud) für dia
Auswahl und Pflege der Literatur enticheidend. Es ift nun bezeichnend
für Das Wefen des Deutfden Bolles, daß man die „Vorherrſchaft Bere
519
lins“ (Lienhard) nicht unfritifd binnabm, fondern daß die Stammesfreife
fid Dagegen auflehnten. Der großftädtiich beftimmten „Nationalliteratur“
trat die „Heimatdichtung“ entgegen. Wenn fie jehr häufig einen engeren
Horizont hatte als die Dichtung, Die a priori nationale ©eltung bean»
{prudte, fo hatte fie ebenfo häufig mehr Lebensfrifche und Urfpriinglid-
feit, ja, fie führte Der Sefamtnation underbraudte Werte aus dem Stam-
mestum zu. So eroberte fid) bie Heimatdichtung im deutſchen Bolfe diel
fad nationale Geltung. An der Unzerftörbarleit des Stammestums ift in
der Tat die Herrjdaft der Großſtadt über die deutjche Literatur gefdei-
tert. Wir haben jet eine fozufagen füderative Nationalliteratur: inner»
balb der Landfdaften und Stämme haben fid Literaturfreife gebildet,
aus denen je zuweilen einzelne Dichter zur Geltung für die Sefamtnation
emporwachſen. Die deutſche Nationalliteratur ift wie ein Gebirge, deffen
bddfte Gipfel aus einem allmählich anfteigenden breiten Bergland auf-
ragen. Diefer föderative Gharafter unfrer Literatur gibt ihr eine eigen»
tümliche Fülle und Lebensfrifche, fo daß fie vor den ®efahren einer äfthe-
tijden Literatenliteratur gefichert tft.
Eben damit ift auch die Pflicht gegeben, folden Werten Aufmerkſam⸗
feit zu widmen, die aus Stammestum und Landſchaft berpor-
toadjen. Wir behandeln in diefer Hinfidt im Folgenden zwei Erzähler
der Niederelbe, Albert Peterfen und Wilhelm PBoed, bon denen Der eine
feine Stoffe der ®ejchichte entnimmt, der andre Dem Bolfsleben unfrer Beit.
1.
Albert Peterfen, der in Hamburg lebt, ftammt aus Hufum, Holften-
und Griefenblut miſcht fid in ibm. Gr fchreibt mit leidter und rafder
Hand. Bon feinen Büchern maden Anſpruch auf größere Bedeutung die
Romane „Arnold Amfind“ und „Karoline Mathilde“ fowie die zweibän-
Dige Lebensge[dhidte Friedrid) Ch. Perthes’: „Der junge Perthes* und
„Perthes der Mann“ (alle in der Hanſeatiſchen Berlagsanftalt erfdienen).
Die Sefdidte des Hamburger Kaufmanns Arnold Amfind ift in man»
er Hinfidt die geichloffenfte Rompofition Peterfens. Der Lebensfampf
eines Der wahrhaft fonigliden Kaufleute der Hamburger Barodzeit wird
erzählt. Amfind will nicht mehr nur Kaufmann fein, fondern Landberr
werden. So erwirbt er bom Gottorper Herzog bas Reds auf gewaltige
Gindeichungen bei der Infel Nordftrand. Stolz heben fid die langen,
boben Deide, ſchon Icheint er Sieger zu fein über den ,blanfen Hang“.
Aber die lauernde Nordfee holt zu einem furdtbaren Schlage gegen das
Menſchenwerk aus. Srofe Länderftreden ertrinfen für immer in der Glut.
Arnold opfert feine Habe, jeht den Kampf fort, bis er verzichten muß.
Der Held der Geſchichte fteht zwiichen zwei Frauen, feiner Semablin Grane
gina, Die Das pornehme ftädtiiche Familienleben reprafentiert, und Hertje,
dem Moor» und Heidemädchen. Beide Seftalten find von einer eigen»
tümlich verichleierten Tiefe. Wie zwiſchen diejen beiden Frauen, fo fpannt
jid) der Lebenstampf Arnolds gwijden dem ftädtifchen Leben mit feinem
weiten Horizont und Dem derben Leben der Marfchenbauern. Die Fülle
Der Dilber, die fid) aus biejen Gegenfagen ergeben, ift Durch die Entwid-
lung des Helden glüdlich gufammengebalten.
520
Die Geſchichte der jungen dänifchen Königin Karoline Mathilde fpielt
in Der Rofofogeit. Peterfen gibt in Dem Roman eine Apologie der oft ge-
tadelten Königin, Bie an der Seite eines geiftig erfranfenden Königs
fic felbft bewahren mußte. Die Sharafterentwidlung der Karoline Ma»
tbilde ift überzeugend dargeftellt. Außerordentlich fefjelnd ift Die ®eftalt
des Altonaer Arztes Struenfee, der die Ounft des franfen Königs und der
Königin gewinnt und gum mädtigften Mann des däniſchen ®ejamt-
ftaates emporfteigt. Der Aufftieg und der flaglide Zufammenbrud) diefes
rationaliſtiſchen Reformergeiftes ift in ficherer Konfequenz gegeben. Diefe
GSeſtalt bat thpifhe Bedeutung, fie ift gerade für uns Heutige bon einem
gewiſſen aftuellen Sntereffe. Die Sefhichte fpielt in einer üppigen Ggenen-
fülle vorüber: die däniſche Hofgelellichaft mit den Intriguen des adtgehn-
ten Jahrhunderts, der bolfteiniiche Adel, das fulturelle Leben Hamburgs.
Im das Zeitalter Der franzöfiichen Revolution, Napoleons und der
Sreiheitsfriege führt dann die Geldidte bes Hamburger Buchhändlerg
Perthes. War Amfind der königlide Kaufmann, Karoline Mathilde Die
foniglide Grau, fo ift Perthes der gebildete und aufftrebende Bürger
aus der Zeit des deutſchen Idealismus. Gin tugendjamer, verftändiger,
aufredter Mann. Aber in der deftigen Hamburger Welt fteht er Dod
bei aller Unerjchrodenheit als ein etwas Dünnblütiger und tugendjamer
Miitteldeutfcher. Die kulturgeſchichtliche und politiſche Szenerie ift bier
pon einer folden Fülle, daß man den wadern Perthes ftredenweis faft
Hariiber vergißt. Die Greignifje feines Lebens find in biefem Strudel
weithin zu wenig berbortretend, als daß fie eine folde Fülle bon Umwelt
tragen finnen. Die Menge der Situationen, Geſpräche, Greigniffe ift fom-
pofitorijd nicht gebändigt. Der Formwpille ift nicht Herrſcher geworden
über Das ®anze. Man muß fic an die Einzelheiten halten, und da ift fret-
lid) viel des Sharalteriftifchen. Die Darftellung der Familie Thormälen
ift ein Beifpiel fold eines in fid) gelungenen Stüdes. Aud mande Hifto-
rifhe Szene, mande Seftalt wird eindrudspoll Iebendig.
Zur Sefamtdarafteriftif Peterfens ift zu jagen: Seine Darftellungs-
weiſe bat etwas Deftiges. Die Szenenbildung ift feft anpadend und zugleich
fprungbaft. Bild um Bild blift nacheinander aus dem Dunfel auf. Es
ift etwas bon der Art Der Ballade darin (wie denn Peterfen aud) Balladen
geichrieben bat, die aber nicht gejammelt vorliegen.) Aber two er fid nicht
im Zaum bält, wird die Mannigfaltigfeit gu bunt, und alsbald ftellen fid
gewiffe ſchematiſche Züge heraus. Hier liegt eine Gefabr. Das hängt viel-
leicht mit der fulturge[didtliden Afribie zufammen. Gin erftaunlides
Wiffen quillt überall hervor und will bier als ein Strichelchen, dort ald
ein Glanzlicht angebracht fein. Aber Peterfen weiß Doch lebendige Gee
ftalten binguftellen, gerade aud), weil er das ®ebeimnispolle und Dunfle
der Seele empfinden läßt. Go macht er in jenen drei Werten ein bedeu⸗
tendes Stüd der nordweftdeutichen Geſchichte lebendig.
2.
Aud Wilhelm Poed, der aus dem Hannöverſchen ftammt, hat die
Oabe rafder und leichter Seftaltung. So hat er manches Unterhaltjame ge»
[rieben, aber aud) eine Anzahl Werke, Die über ben Durchſchnitt Hinaus-
34 Beutiches Bolkstum 521
ragen und Beachtung verdienen. Wir wählen drei Romane bon der Nie»
berelbe aus, Die Art und Weſen des Hier hauſenden Bolfes nicht ohne
©röße Darftellen. |
Die Geſchichte ber Leute in der Sllernbudt — irgendwo gegenüber
Blankenefe — hatte Poeck urjprünglich plattdeutfch gejchrieben, jest liegt
fie Hohdeutfh por: „In der Ellernbucht“ (Bergftadt-Berlag, Breslau.
®eb. 5,50 ME.) Auch in der hochdeutſchen Faſſung ift das Werk durch und
durch niederdeutfch, voller charakteriſtiſcher Ausdrüde und in underfenn-
bar plattdeutidem Rhythmus. Poe ift ein Meifter der Frauendarftellung.
Hier gibt er Die GEntwidlung eines Mädchens bon fernbhaft gejundem
Gthos, das bei aller Schlichtheit und Gradheit Doch febr tief ift. Sie erhält
ihre Plaftik nicht gum wenigften Dadurd, daß fie jid bon ihrer ſchönen, aber
leichteren Schweſter abhebt. Zwei greulide alte Leute, der Großvater und
bie ©roßmutter, ſtehen ihr im Wege. Und bas ift die Gefdidte: wie fie
diefer beiden Herr wird. Der geizige Alte, dieſe Berlörperung alles Nieb-
rigen und Banalen, und ebenfo am Ende die Alte — beide wmadfen fid
bis ins Dämoniſche aus. Daß es Poed gelungen ift, bas Tragifde und
Daimonifde aus dem Spießigen herauszuholen (eine raabefche Aufgabe),
geugt für feine Kunft.
In derjelben Gegend, etwa auf Fintenwärder, fpielt die Oeſchichte von
„Simon Külpers Kindern“ (Fr. Wilh. Srunow, Leipzig). Hier handelt es
fi um mehr als individuelle Sdidjale, hier wird bas Schidjal der nieber-
elbiſchen Nordfeefiicher geftaltet, ihr Kampf mit dem nafjen Sod. In
Geeſche Külper, der Mutter, die das Schidjal ihrer Kinder in ihrer, der
Mutter, Schuldbaftigteit ſucht und darüber ,,tieffinnig* wird, ift Poed eine
auperordentlid Karalteriftiihe und lebenswahre Seftalt gelungen. Da-
neben der tapfere, rubige, fefte Bater Külper, der unglüdlidhe, perlom-
mende alte ®arrelg, Die Generation der Kinder, Die heraufziehende neue
Zeit, das alles ift poll frifcher Seftaltungstraft. Höhepunkte find die ge-
waltige Schilderung eines Deidbrudes und die Beidte ber fterbenden
®eeiche.
®ang zu einer umfaffenden Bollstumsjchilderung ift ,Srina ®roots
DBermädtnis*“ geworden (3. Gngelhorns Nadf., Stuttgart). Hier ift
Dauerntum und Bauernart der Bierlande dargeftellt. Die Sefchichte gebt
Durd Drei Generationen, es ift alſo eine „Sippengeſchichte“, wie einft bas
germanifde Mittelalter fie liebte. Den Riidhalt des Ganzen bildet die Gee
ftalt der Srina ©root, erft Die Magd, dann die Frau des Srofbauern Peter
Wübbe, wohl bie bedeutendfte Geftalt Poeds, undergeplid in ihrer berben,
feften, barten Art. Sie bat bon ihrer fterbenden Herrin, Beele Wübbe,
das Bermadtnis übernommen, für Die Wübbe- Kinder den Hof zu halten.
And nun fampft fie den Kampf für das Erbe der Kinder gegen die leicht“
finnige, prablerifche, großartige Art des Wübbeſchen Blutes. Feft greift
fie gu, geachtet und gefürdtet. Aber ihre Art zieht die Kinder nicht an,
fondern ftößt fie ab. ®erade in dem hohen Wert ihres Wefens liegt der
©rund für die Sragif ihres Mißerfolges. Cs ift, troß mander humori⸗
ſtiſchen Szene, eine ſchwermütige Sejdidte von ber Selbftpernichtung
ftolger GOeſchlechter.
Bon Poed find aud eine Anzahl Sedicdte unter dem Titel „Die Eiſen⸗
922
rofe* erfchienen (Sr. Wilh. Srunow, Leipzig). Der Titel ift nad dem erften
Zeil der Sammlung, der die Balladen enthält, gewählt. Ss find Balladen
in dem feit Stradwis ufw. gewohnten Ton, aber es findet sid) mande gute
eigene Gormulierung darin. Höher [hake ich Die plattdeutſchen Sedidte,
fee find voll fangbarer Melodie wie das oftfriefifche Liebden, das wir unten
wiedergeben, bezeugt.
Zur Sefamtdharafteriftif Poeds wäre zu Jagen: Er bat die Gabe,
das Weſen eines Bolfstums und einer Landſchaft mit Sicherheit zu erfajfen
und das Typiſche herauszuholen. Aber feine Seftalten find gleichwohl
nicht abftrafte Thpen, fondern lebendige Individuen. Die Sprache bat
echten niederdeutichen Tonfall, fo daß fic plattdeutihe Wörter und Wen-
Dungen wie jelbjtverftändlich einfügen. Der Aufbau der Beihhichten Tcheint
fih wie mühelos aus einem guten Inftintt für Struftur zu ergeben, ebenſo
Die ®ruppierung der Geftalten, die Durch ihre Segenfage die Entwidlung
folgeredt weitertreiben. Man hat beim Lejen oft den Gindrud, als würde
einem bon einem lebhaften Gradbler die Gefdidte flott und ſorglos ers
zählt, Doch rundet fic das Gange immer im Sleidgewidt zwiſchen Süße
und Ditterfeit, Humor und Tragik befriedigend aus. So find Gefdidten
entftanden, die ein treues und Dauernd wertvolles Bild Der niederelbifchen
Bauern und Zifcher geben. St.
Grilefenes
Aus Albert Peterfens Erzählungen.
Mondnadt*.
B) cutie WMondnadt! Warte nur, warte! Nod fteden die fiblflaren,
garftig ge[dheuten Deutiden im Rationalismus. Noch ſchwärmen fie
für neugalliihe Freiheit und werden wehmütig beim Gedanfen an die fo
edlen Polen. Warte nur, warte! Schon find fie Knaben, die bald in
Berjen und Farben dein Preislied fingen werden. Deutſche Mondnadit!
Ad, er Hat das Warten gelernt, der liebe, alte Gefelle dba oben zwiſchen
den filberblaffen Wolfenfloden, den Die aufgellärten Menfden fo genau
beobachtet haben, daß fie bor lauter entdedten Gebirgen, ausgebrannten
Kratern und ausgetrodneten Kanälen nicht Augen, Mund und die herrliche
Naje mehr zu erfennen vermögen, fondern das den Icharfäugigen Kindern
und Didtern Überlafjen müſſen. Mit weltweifem, gütig verzeihendem Lä-
cheln [haut er hinein in die Kammern der Menfden, die fic Ichnarchend
zu neuem Klugſchwätzen und Törichthandeln ftarfen, hinab auf den Ader
und die winzigen bleiden Blüten des Feldjalats, auf die walzigen Aehren
des Wiefen-Fuchsichwanzes zwifchen den gierliden Raingräfern und auf
den fturen Wegerid mit jeinen langen roftroten Staubblättern. Tröſtet
Die Waldfarde, die noch blütenleer trauert. Dedt mit neblichem Leichen-
tud) den weißen Baud) der tot auf dem Sandweg liegenden Feldmaus
und [piegelt fid auf dem Pelz des raftlofen Maulwurfs, der in einem Gee
ftiebe trodener Erde aus der Jagdröhre friedht. Lächelnd beobachtet er
* Aus dem „jungen Bertbes“.
34° 523
Das gierlide ®etue der umberfchnuppernden Spitzmaus. „Nur unbeforgt,
Madame, Stadelrod Igel ſucht drüben auf der andern Wiefe nad Lerden-
eiern.“ Aber da — der Mond madt hinter einem Wolfen/dnupftud ein
verftohlenes „pifft, pffft*. Gr bat das bräunlidhe SGefieder eines Wald-
fauges vom hohlen Baum drüben berbeibufden gefeben. Und nachdem
er fic) beruhigt bat, daß das Wäuschen ihn dankbar mit den glänzend»
Ichwarzen Augenperlen anſah und dann huſchhuſch fid in Sicherheit
brachte, wendet er feine Aufmerffamleit dem Fuhrwerk gu, bas ba ge»
madlid) Durd) das filbergelbe Schweigen rollt. Na, der Kutfcher hat wohl
anerfannt, Daß es ſich bei Mondichein gut fahre. Aber der ältere Infalfe
fit da liegend im weichen Polfter und verſchläft gefühlsroh bas fchönfte
Zandichaftsgemälde, Das der große Künftler da oben ibm binmalt. Und
der andere? Ad), für den hätte fein Mondfchein zu fein brauden, es tft
nicht nötig, daß am fdlidten Gehölzweg der Waldmeifter fo beraujdend
Duftet und bon den Randfträuchern das deutſche Seifblatt fo wehwonnig
feinen nädtliden Brautnadtweihraud) fendet. Den fann es aud nicht
aus feiner tränenjüßen Stimmung reißen, daß im Garten jeitwärts ein
Schnalenfchwärmer fo todftarr mit glatten Flügeln auf dem Johannis⸗
beerblatt liegt und im Hofe eine Ratte leife unter dem jchnellen Dip des
Iltiſſes aufichrillichreit.
Auf bolpriger Dorfftraße rumpelt der Wagen, daß im Mauerloch der
nadften Scheune erjchredt ein Haus⸗Rotſchwänzchen mit dem Schwanz
zu wippen beginnt. Ein fchläfriger Hofhund Enurrt, ſchickt fid an zu bellen,
aber fchon ift der Wagen vorüber. Früh blüht in einem @arten [don
Doldig, weiß Der rote Hartriegel. Ein ®efchütte leuchtenden Goldregens
über blauliden Sliedertrauben. Auf dem hodliegenden, brddelmauerum-
gebenden Kirchhof ragt eine Allee alter Raftanien und bat den Toten
unter den bleichbeichienenen Steinen und Kreuzen in frommer Sebefreudige
feit unzählige weiße Kerzen geftiftet. Und aus dem bellgrünen Kronen-
gewell läßt fic) der Turmhahn fein bergoldetes ®efieder beftrablen. Felder
und Wiefen dehnen fih. Mit hängenden Wammen und feudtglangenden
Wuffeln ftebt das Vieh auf den Weiden. Ein Pferd wiebert auf, rennt
beinejchmeißend ein Stüd dem Wagen nad, biegt in fchneidig fcharfer
Bolte, erfdridt bor dem jah auftauchenden Schatten, fteigt nüfterrundend,
Daß Die Helle Mähnenflagge weht.
_ Raunendes Ret. Eine Robrdrommel brüllt auf. Herr Hoffmann er»
wacht.
„Siſiſi—ü“, ruft's am Bad auf der buntbeſternten Blumenwieſe.
„Alſo ſchon nach Mitternacht“, meint Herr Hoffmann gähnend. Dann
toad: „Die Soldammer meldet fid. Poetiſche Obren wollen den Ruf
alg „’s is is is früh“ deuten. — Na, meinetwwegen* Und er fchließt
wieder bie Augen.
Die Flut don 1634".
ie Berfprechungen, twelde die Iauen Borfrühlingstage um Pidders-
Dai herum zu machen ſchienen, hatte Der Sommer nicht gehalten, denn
er war naßkühl gewejen bis in Die Sage der Herbftliden Tag- und Nadt-
* Aus „Arnold Amfind“,
524
gleiche hinein. Dann aber hielt der Sommer einen berfpateten Gingug und,
als babe er ein [dledtes Sewiffen und das Befühl, wieder gutmaden
zu mülfen, iiber{diittete er Nordfriesland mit Sonnenglanz und Juliwärme,
daß einige Obftbäume wieder zu blühen begannen und neue Rofenfnofpen
fid an welfen Zweigen entfalteten. Hatte Herr Cypraeus im September
gefagt: „Das ift Oottes Strafe für eure Petrifredel*, fo grienten Die
Bauern jest im Oltober: „De Obl da baben bett fif dod wmerrer bes,
funnen.“ Und heiß wie die Sage, fo ſchwül waren die Nächte. Wohl gab
es einige Aengftliche, Denen Diefes Wetter unheimlich war, aber man bers
ladte fie als aberglaubifd.
Sternengefuntel über Dem reglos fhlummernden Moor. Durd) die
laue Nacht fchreitet eine hagere Seftalt — Boh Spdfenfiefer. Er fann
nit Rube finden in diefen Nadten und Tagen. Eine geheimnispolle
Stimme raunt ihm tn Ohr und Herz. ES ift ihm, als hätte feine Mutter
ihr Grab verlaffen und umſchwebte den Sohn und umgeifte ihn, während
er durch die nadtlide Heide fchleicht in abnungsichhiwerem Brüten. Gr
fennt jeden Hügel, jeden Zümpel. Sein tiefer Blid durdhftidt jedes Dunkel.
Sein Fuß fühlt am allmabliden Abfallen des Bodens, daß er den Rand
der Marſch erreicht hat. Düfter liegt auf Nordftrand, finfter ſchlummert
bie Gee.
Aber da — er ftußt, fährt zurüd.
Seiern fie rings naidtliden Petritag im Oktober? Sft wieder, der
Däne bereingebrochen und halt fpäte Giegesmabler in allen Höfen? Sind
alle Räume der Infel erleuchtet? Steben in allen Fenftern blaßgelb leuch⸗
tende Kerzen?
In allen? Nein, dunkel ift’s in der Gegend um Geegard, Dunfel im
Süden bei Odenbüll. Dunkel auc liegt das Moor, liegt Nanes Kate, um
die fid) dankt Amfinds Giirforge jebt einige fruchtbare Aeder dehnen.
Rubig ſchnarcht der gute Burfde wohl und träumt vielleidt bon dem
Weizen, der gum erftenmal auf dem Moor reifte und in Manes neuer
Scheune des Drefchflegels harrt. Oder wirft er fic nod rublos auf feinem
Lager herum und denkt in verzweifelten Hoffen an Hertje?
Der Spöfenlieler ftarrt zum weißen Haufe hinüber. Wud da unbeil-
fündende Lichter? Nein, aber was ift? Wie in ſchwarze Trauerfleider
gebüllt liegt die Warft. Weld Unheil droht da, wo Feine vorſpukenden
Totenkerzen fchimmern ?
Der Spökenkieker hat fic) ins Heidelraut geworfen und ftarrt ftunden-
lang über die Snfel, bis das hundertfach f{dredlide Spufbild verblaßt
und leuddtend die Sonne aus dem Often fteigt.
Da erhebt Boh fid [chwerfällig und geht taumelnd ins Moor zurüd.
Auf feinem DBefit fchafft Mane, und als er den Spdbfenfiefer fieht, zeigt
er ftolg auf feine pralle Rub —, die erfte Milchluh im Moor.
„a, ja, wer weiß, ob did nicht bald mander reihe Hofbeliter Ber
Warſch beneidet!“
Bor ihrer Kate jagt fid) Hertje mit fihlem Waffer den Schlaf aus
den Augen. Sie bemerft den Spökenkieker, ftarrt ihm erfdroden in das
feltfam gudenbde ©®eficht, in die unheimlich fladernden Augen.
„Boh, was ift?“
525
Zögernd, Wort nad Wort überlegend, fagt er: „Sin großes Sterben
lauert auf Nordftrand.“
„Der blanke Hang,“ [chreit fie auf, und dann, „Arnold! Nette Arnold
Amfind.“
„Ihm naht nicht der Sod. Aber Unheil droht aud ihm.“
„Komm, Boh,” ftößt das Mädchen berbor mit fliegendem Atem,
„tomm, wir wollen feine Deide prüfen.“ — — —
Wurde an diefem Sage irgendwo auf Sottes Erde eine neue fata»
launiſche Sdhladt geſchlagen? Glüht der Abendhimmel rot bom Blut der
einhundertfechzigtaujend Eridlagenen? Kämpfen die Seifter der Toten
weiter am fernen Himmel mit blibenden Waffen? Oder gieben die ge-
fallenen Hunnen ihrem gefdlagenen Heere nad ins weite Pannonien?
War's nicht erft nur wie ein düfteres Späherhäuflein im weitfernen Nord-
weiten? Und wuchs — wuchs zu einer fdnellen Reiterfchar, bis es wie
ein jatteldrüdendes Golf beranjagte mit grollend donnerndem, millionen-
fachen Sufgeftampfe?
Immer mehr verbdüftert fid) der Himmel, immer greller guden Die
ſchnellen Blißfchwerter. Immer lauter poltert es in den Wolfen. Bere
Dedt ift Die Abendfonne, verhüllt der gelbgoldige Wefthimmel. Jah ab-
gebrochen der lebte verfpätete Sommerabend. Huuu... gelt der Sdladt-
ruf — erjhütternd, angfteinjagend. Der erfte Windftoß. Schwere Tropfen,
in furger Minute gu praſſelndem Regen wadfend. Knatternd fegt der
Nordweft. Larmend fchreit, brüllt der Sturm.
Millionen Wellen trägt der Wordfeegrund. Abermillinnen Riefen-
wogen drohen im fernen Weltmeer. Und Raum genug ift awifden Sfan-
Dinabiens Fjorden und Kap Duncansby, daß der wilde Nordiweft die
Nordſee anfüllen fann, daß fie poll ift zum Ueberlaufen. Stark genug find
Die Gifenarme des Nordweftorfans, feine Beute feftzubalten, daß er die
Stunden des Diefwafferftandes verlade.
Mit fletidenden Zähnen beißen die widerwillig gefangenen, guriid-
gehaltenen Weltmeerwogen in bie Deide. Höher fteigen die gifchtiprü-
benden Sropfenftiirme, als wollten fie hinan zu den niedrigbangenden
Wolfen, gu dem düfteren Oftoberabendhimmel.
DBrüllend wie aus abertaujend Raubtierfeblen larmt dag Meer gegen
bas weite Nordftrand.
Aber was nod) nicht faul oder besoffen im tiefften Schnarchen liegt,
brummt gleichgültig: „Na, der erfte Herbftfturm.“
Aber Ebbzeit ift’s, und die Wogen jprigen auf die Deichlämme. Ebb⸗
zeit ift’s, aber ftärkjter Nordiweft. In den Garten Iniden die Apfelbäume,
bor den Häufern und auf den Kirchhöfen ächzen bie Linden und Ulmen.
Die Hauswände beben, und in den Eichenfparren jammern die Hausgeifter,
als abnten fie Unheil.
Da — bon einem Stranddorfe jprüht roter Geuerfdein. Wimmern
irgendwo Sturmgloden? Schreit jemand um Hilfe? Befiehlt ein Strand⸗
bogt: Ausritden auf Deihwadt!
„Anfinn, Unfinn, gute Nadt. Schlaft. Haba, trug, blanfe Hans! Wir
haben unjere Deide!*
526
Auf feinem Seedeidh fteht Arnold Amfind. Neben ihm der Spdfen-
tiefer und Hertje. Gr beachtet fie nicht. Trotzig fticht fein Auge in bie
Zinfternis, aus der fid) nur immer wieder das Olitzern der Schaumfeben
abhebt.
Wie oft ftand er bier, wie oft fab er Diefem Wüten des Meeres zu.
Aber — truß, blanfer Hans! Doch was ift’s in diefer Naht? Iſt nicht
alles jo anders heute? Ad —.
Gr wendet fid um nad der Richtung des weißen Haufes zu. Gr
fandte Wilhelm zurüd, um die Knedte mit Spaten und Sandfäden zu
Dolen.
Wie grimmig fid die Wogen Heranwalgen. Wie der Sturm fnattert,
brüllt. Wie fie dDonnern, Wellen und Wind, in gewaltig [dredlidem
Orgelipiel.
Hört ihr, wie fie braufend fingen — ein uralt Lied. Hört ihr’s?
n... Da ift Der Tag, da aufbraden alle Brunnen der großen Tiefe, und
taten jid auf die Genfter des Himmels, und fam ein Regen auf Erden,
vierzig Sage und vierzig Nadter.. Und das Gewäſſer nahm überhand
. Da ging alles Gleifdh unter, Das auf Srden friedet, an Bögeln, an
Dieb, an Zieren und an allem, das fic reget auf Grden und an allen
Menfden. Alles, was einen lebendigen Odem hatte im Trodnen, das
ftarb ...“
Hört ihr den wudtig zermalmenden, urteilgrollenden Gang: „Da ließ
der Herr Schwefel und Feuer regnen bon dem Herrn bom Himmel herab
auf Sodom und ®omorra. Und Lehrte die Städte um, und Die ganze
®egend, und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewadfen
war...“
Und plößlich hebt es an zu läuten, Hagend, wimmernd. Sind es bie
@loden von Rungholt? Die Sturmgloden der bald dreibundert Jahre
unter den Wogen fdHlummernden Stadt? Hört ihr das wahnlinnig gel-
Iende Laden der betrunfenen Rungbholter, wie fie den Gottesmann bere
leiten, einer berfleideten Sau den Kelch des Herrn zu reihen? Hört ihr
feinen Fluch?
And dazwifchen wettert’s immer wieder — wie mit Des Büpfeers
Kirchherrn Stimme: „Herr, laß es untergehen, diefes Otterngezücht.“
Se, betet da nicht der Hofprediger in der ®ottorper Schloßlapelle:
„So bod ihre Deide über ben Wafferfpiegel ragen, fo tief möge das
Meer fie herabreißen.“
Wilde Stimmen find laut auf dem wütenden Meer.
„Herr, die Schleufe lft fid!* ſchreit eine Stimme.
„Der Weftdeid bei Weftertoold foll durdbroden fein.“
Ad was, was fiimmert fie bier Weftertwold!
„Bater, die Schleufe —!*
Auf fährt Arnold.
Die Leute harren mit Spaten und Säden. Ihre Windlaternen fladern.
Gr ſchreit Befehle.
„Was wird, Boy?“ raunte Hertje.
„Alles umfonft. Der Wind fchlägt um, wir —— Springflut!“
„So rette doch ihn, daß er ſich nicht ins Verderben ſtürzt.“
527
Die Schleufe Fracht. Waffermaffen — gierig fid hineinwälzende, über»
ftiirgende Waffermaffen.
Amfind brüllt feine Befehle, wirft Sandfäde, als wären fie Balle.
Gs ift, alg wolle er feine ftarfen — ad, zu ſchwachen Menſchenſchultern
der Bernidtung entgegenftemmen.
&euer blitt irgendwo auf — bier, da. Und die Luft ift voll unbe»
ftimmten, taufendftimmigen Wehgeſchreis.
„Deichbruch!“
Der Morgen graut. Der Sturm hat ſich zur Ruhe gelegt. Aber des
Meeres Herzſchlag iſt noch ungeftüm nach ungeheuerlicher Erregung. Und
wie unter fchnellen, ftoßweifen Atemzügen rollen die Wogen.
Harmlos, unfduldig blau wölbt fid) Der Himmel.
Das goldig ftrablendDe Weltauge blidt von Often ber, fudt vergeblich
Das große frucitftroßende Land, diefe Krone der Königin Norbfee, Die
reidfte und größte aller Infeln Deutſchlands. Sieht auf Das gewaltig
[Hredlide Bild, auf den graufigften Méertotentang ber Menſchengeſchichte
feit Der biblifchen Sintflut.
Allein mit über fechstaufend Nordftrander Leichen fpielen die falten
Seejungfern Gangball. Mit fünfzigtaufend Rindern, Hie Norbftrander
Doden nährte, füllt fid) Aegirs unerfattlide Küche.
Geetanf in triefenden Haaren, Seegras um taufend bleide Stirnen,
gieriger Mötwenfchret über todblaffen ®efichtern und naßglänzenden Wen»
ſchengliedern.
Voller Laften iſt Die See, voller Hausrat, Dachſparren, Wagenbretter,
Mühlenflügel, StroHdbadrefte. Und Hier und ba treibt nod ein warme
lebender Körper, bis aud) feine erfchlaffenden Ginger eine bartnädige
Woge bon der rettenden Planfe Iöft.
In bobem ®eäft brüllt bellend ein Geebhund, den eine Riefentwoge
binaufwarf und zwifchen zwei gabe Eſchenäſte klemmte.
Eine funftooll gefchniste Truhe wiegt fid auf der Flut. Wie Hohn
leuchtet der gelbgemalte Sprud:
„Di erinner
In miene Inner
Tdwet ein Daler für Sieden der Rot.
Dat walte Sod."
And da fchaufelt ein mit roter Pliifddede verfehener Altartifch und
mit goldenen Nägeln darauf befeftigt ſchwankt ein hoher filberner Gruci-
fizus, als hätte der fterbende Heiland all den Scheidenden Troſt gewähren
wollen. Dann aber halt die fnallrote Wolljade einer treibenden Spiel»
puppe mit frabenbaft geſchnitztem Geſicht an einem der Handnägel feft,
und — ad), wie würden Die tollen Nordftrander höhnend darüber laden,
wie fic) Diefe närrifch plumpe Weibsfigur zärtli an den Gefreugigten
Schmiegt, wenn ihnen nicht für ewig der Mund verftummt wäre.
Die Leiche eines Faftlander Pflugjungen. Wie hatten feine Ramee
raden, Die nad der Ernte wieder in die armfelige Heidefate ihrer Eltern
entlaffen wurden, ihn beneidet, daß er bei Den Spedtellern auf dem ®roß-
528
Bauernbof bleiben durfte. Jetzt [Hhlagt in Ihnen nod warmes, erwartungs-
reiches Leben.
Gin großer Feten Damaft — wohl ein Tifdtud, das von einer Feft-
tafel gerijfen wurde, wogt ausgebreitet auf der rublofen Glut, und mitten
Darauf liegt eine Dunfelrote Rofe, mit ihren Dornfpigen fid) anflammernd,
Die letzte Herbftrofe des einjtigen Sroß-Nordftrand. Und er, der fie brad,
treibt als Leichnam irgendwo, und fie, Die fie als Zeichen feiner Liebe er-
bielt, {rie gellend hilfeheifchend feinen Namen, Sis ein Wogenarm fie an
die Meerbruft prepte.
Wie ein pollbehangter Kleiderftänder treibt Die Leide Der alten Oaike⸗
büller Hebamme, die feds Rdde übereinander gu tragen pflegte. Sie
hatte fid) aufgemadt und beim Berlaffen ihrer Kate vergnügt in fid
bineingefämunzelt: „Ich will einem Menfchlein gum Leben verhelfen.“
Aber der blanfe Hans verhalf ihr gum Sterben. Und ein junges Weib lag
indeffen wildflagend da, glaubte die Schmerzen nicht länger ertragen zu
fönnen und fchrie in ſinnlos madender Qual: „Herrgott, lah mich fterben.*
Und ſchaumfetzenumhüllt trat der Tod an ihren Alfoben und erhörte das
nicht ernftgemeinte ®ebet.
In ſchaukelnder Wiege Hatfcht ein harmloſes Kindden, entzüdt über
bas [chaumgligernde Wogenfpiel, die dDrallen Händchen gufammen. Dod
ein ſchwimmender Sarg mit den proßiggoldenen Lettern: „Ruhe geborgen
bor den Lebengftürmen“ ftößt gegen das Iuftige Kinderlager und fippt
es um.
Weiterhin, einfam, als würde er nod jeßt gemieden, treibt ein anderer
Sarg. Raubhes, unbefleidetes Holz, auf dem das graufame Wort ftand:
Selbftmörderin. Die Arme — gu zartbefaitet für Nordftrand — hatte fid
das Leben genommen, weil der Priefter fie nur ohne Kranz und Schleier
trauen wollte. Set bat fic garter weißer Stoff an den Gargfanten ge»
fangen, und eine grüne Geegrasranfe Flebt daran, als trüge jebt wenigfteng
ihr Sarg den Jungfernſchmuck.
Ja, aud die Friedhöfe wühlte das zügellofe Meer auf.
Nun wird der alte Seefahrer Uwe Shabfen, den feine Töchter trog
ihres feften Berfpredhens, ihn ins Meer zu fenfen, dod auf dem Lande
begraben ließen, fein erfehntes Wellengrab finden.
And der alte Sünder Somme Bleiken aus Stintebüll, Der zu jammern
pflegte: „Das ſchlimmſte am Sotfein ift Die troden bleibende Kehle“, wird
bod) aud jebt nod bon Geudtigfeit umgeben fein.
Sriedhöfe und Maffengräber rif der blanfe Hans, der fein ®rauen
fennt, auf.
Federhüte und Lederfoller treiben auf der Glut, roter Haar[dopf auf
Iehmigem Wams, Handſchuhe und Schärpen mit ©ottorper und dänifchen
Sarben, als follte es unentjchieden bleiben, welches Banner über Diejer
See zu weben Hat.
Raujchender Hingen die Wellen.
Raunen fie tönenden Heldengejang?
Was wiegen fie hod auf ihren Walkürenfchultern? Einen Sarg wie
bie andern. —
Dod) da fchleubern fie ihn mit Madjt gegen die Gidenbalfen feftge
529
fügten Sparrwerts. Und die Sargbretter brechen dumpf auseinander. Aber
auf der Gargmatrage rubt der Leichnam — Lederfoller, Sottorper Farben,
Degen auf der Bruft. Soll nod einmal die Sonne Lebensfrifde küſſen auf
des tapferen Stallers ftolge Stirn? Schwand nod nidt das Ladeln von
feinem fedfroben Munde? Ladt feine Seele über all das ®rauen?
Leiden überall, überall Bilder der GVernidtung.
Hinter einer barmbergigen Wolfe verhüllt die ftrahlende Lebensſpen⸗
derin für Augenblide ihr Antlig ob all der ſchauerlichen Verwüſtung.
Aus Wilhelm Poeds Sradhlungen und Gedidten.
Nordfeefturm”.
ie Sonne war mit einem bäßlichen Schein untergegangen. Die Luft
war „laurig“, jchwül, die Kimmung im Weften fchmierig. Sefine,
DBartbold und Brunke Sarrels lagen [don in den Kojen, ©eline in der
einen, Barthold und Brunfe in der andern. Die beiden andern Kojen
waren nod) leer. Die Luft in der Kajüte war zum ESrftiden, und Brunfe
madte den Borfdlag, wieder nad oben zu gebn, da man bei der Hise
bod nicht fchlafen könne. Gr hatte die Beine fdon aus dem RKojenrand,
da Hang aud) Schon Gan Giederts Stimme durch die Qufe herunter:
Kod an Ded.
Wie der Blig war Brunfe oben. Beim Hinausjpringen aus Der
Kajütslufe warf er einen Blid nad der Rimmung. Da jagte die BS [don
beran, ſchmutziggrau wie Grabenſchlid, und unter ihr plattgedrückte, phos-
phorig ſchäumende Wellenköpfe, wie eine Koppel hölliſcher Hunde. In der
Luft pfiff und ſummte es. Simon Külper und Jan Sievert riſſen an dem
Fall des Großſegels, um es herunterzuholen, bevor die Flage den Ewer
erreicht hatte. Zweihundert Faden in Lee fiſchte der Ewer „Oermania“,
dort war Jandierk Butenop mit feinen Leuten ebenfalls beim Segel«
bergen. Grunfe [prang zu, um zu belfen. Jest faßte die BS den Gwer.
Der Baum des Groffegels giefte herum und traf Dan Giedert gegen die
Schläfe, daß er bewußtlos und blutend gegen die niedrige Reeling fchlug.
Der Gwer hatte fich nad) Lee übergelegt. Simon Külper und Brunke riffen
mit aller Madt an dem Gall, aber das Segel wollte nicht weiter herunter»
fommen als bis zur Hälfte. Debt ſchlug die erfte Welle adtern über den
Gwer und [dwabbte, naddem fie das Berded bis zum Steven unter
Wafer gefebt hatte, aus den Klüfen, Wajferpforten und Speigaten wieder
binaus. Sie hatte Brunfe umgeriffen und über bas Ded nad) born gee
trudelt. Sum Olid fonnte der den „Leihwagen“, auf dem die Fockſchoot
lief, ergreifen und fic) daran fefthalten.
Bligfdnell hatte Simon Külper Jan Giebert um ben Leib gepadt,
trug ihn in die Rafiitslufe hinunter und eilte wieder nad) oben. Das Grofe
fegel baute und fnallte in der Quft wie unflug. Die ganze See war in
einer Minute zu Schaum geworben. Da fam der zweite Breder heran.
Der triefende Brunfe fam mit bom Salzwaffer geblendeten Augen von
born übers Berded gefroden und tappte nad dem Sroffailfall. Aber
* Aus „Simon Külpers Kinder“.
530
Simon padte ihn wie vorhin San Giebert um den Leib, warf ibn mehr
alg er ihn fchob, die Kojentreppe hinunter und fprang felbft binterber.
In der Kajiite [Hamm alles. Barthold und Gefine jchrien por Ent-
feßen:
„Babder, min [eet Badber, möt’t wi nu all verdrinfen ?“
Jetzt fete Der Brecher brüllend über bas Hed, lief nad porn und
[Hof grünäugig in Die Kajütslufe herunter.
„Ad twas, ertrinfen,“ fagte Simon Külper, ,baltet die Obren fteif,
bleibt in der Koje liegen. Brunfe ®arrels, fieh nad Jan Siebert. —
Düt is blooß ſo'n lütte Stintflag.“
Gr fuhr wie der Blitz in feinen Delrod, ftülpte den Südwefter üben
den Kopf, rip ein Reep (Sau) von der Wand, ftürzte wieder nad oben
und [dlug mit einem Knall die Kappe der Kajütslufe zu. Nun waren die
ba drinnen fürs erfte bor den überlommenden Geen fider.
Das Örofjegel flappte bon den bdigen Stößen wie ein mundgefdoffener
Riefendogel hin und Her. Simon Külper verfudte es noch einmal mit dem
Gall, aber der obere Gaffelbaum wid und wanlte nidt. Der Sroßflüner
ftand zum Brechen. Zum Oliid ftanden die Befahnfegel niit. Der Gwer
trieb bor der Kurre, und das gab ihm einigen Halt. Aber der Sturm
briidte ihn jebt fo weit nad Lee hinüber, Daf das Waffer Durch die Spel
gaten bereintrat.
Dod das war nidt die erfte Bs, die Simon Külper in feiner Tangen
Sabrenszeit abgewettert hatte. Gr band fid an den Befabn (binterem
Maft) feft und ergriff das bine und Herfdlagende Helmholz (Griff des
Steuerruders), um den Gwer bor den Wind zu bringen. Aber bedenklich
war die Situation immerhin. Die Glage war gar zu ſchnell gefommen.
„Dat derflizte Grootſail,“ brummte er, „wenn’t Dod in duſend Stüden
gabn wull.“
Mit aller Macht drüdte er das Ruder nieder, um den Kopf des
Fahrzeuges mehr nad) Lee zu bringen. — Gottlob, die Vufen waren Dicht.
Und voraus war freies Walfer. Bor ihm fegelte wie eine bide Ente,
die fid ganz in ihrem Glement fühlt, der Ewer „Oermania“. Jandierk
DButenop batte mehr Olid gehabt und bas Großſegel nod rechtzeitig,
beruntergefriegt. Das machten die zweihundert Faden Vorſprung.
®ottlob! der Gwer fiel allmähli nad der Windridtung ab. Weld
ein Glück, daß die ſchwere Kurre fteuern Half. Aber dafür drüdte fie
aud) das Sed des Ewers tief in Die See hinunter, und die Breder fegten
wie grimmige Beſen über das niedrige Fahrzeug, daß alles, was oben
nicht feftgelajcht und getrimmt war, über Bord ging. Simon Külper war
troß des Delzeugs naf wie ein Schwabber und von den Spritern, die ihm
am die Obren flogen, faft taub, aber er hielt, als ob er aus Eijen wäre,
mit Der einen Sand den Beſahn umflammert, und mit der andern dag
Selmbolz beruntergedrüdt.
Wie lange würde er’s aushalten?
Sebt lief der Ewer, troß Der Hemmenden Kurre, mit [chärffter Fahrt
ziemlich vorm Winde und mit den Wellen. Er ftöhnte nicht mehr fo unter
den Bredern. DBorläufig hatte Simon Külper Hand über ihn gewonnen.
Aber die Arme wurden ihm allmählich Iahm.
Sal
Aber das Helmholz ließ er nicht Ios.
So verging eine Stunde. Zwei Stunden.
And immer nod flaute der Wind nicht ab. Im Segenteil, er wurde
ftarfer.
Gs fang ibm in den Armen. Gr ftemmte fid mit dem Rüden gegen
den Befabn und nahm die Füße zu Hilfe. Schließlich gelang es ibm in
einer Paufe, too bie See nicht übers Ded wufd, das Helmbolz feftzubinden.
Nun fonnte man ein bißchen aufatmen.
Die Luft nod immer boll Schmier und Dred!
Das fonnte ja eine hübſche Naht werden.
Die BS madte eine furge Paufe. Dann febte fte mit einem gewaltigen
Rud wieder ein.
Das Sroffegel fnallte wie ein Kanonenſchuß. Weg war es. Der
Gwer fam mit dem Leebord pldglid ganz aus dem Waſſer heraus und
lief nun gerade borm Winde.
@ott fei Dank! Dadte Simon Külper. Nun läuft er vorm Oroßklüver
und Kurre bon felbft, wie er foll.
Gr [dob die Kajütenfappe zurüd und ftieg nad) unten, um fid nad
Dem verunglüdten Jan Giedert umgufeben. — — — —
Plötzlich, als beide, fo gut es ging, beim Schaffen waren, befam dag
Schiff einen furdtbaren Schlag. Der ganze Gwer fnadte und bröbnte,
DBligfchnell eilte Simon Külper nad oben, Brunfe Minter ihm ber.
Eine furdtbare Sturzfee hatte die Hauptlule eingejchlagen.
Sdredensbleid) faben fid beide an.
„Dat barr nid) fommen mußt“, murmelte Simon.
Die Seen wuſchen nad) wie bor über den Ewer bin und in das Low
auf Dem Qufendedel hinein. Gs war nicht eben groß, aber an Didtmadhen
war bei dem Wetter nicht zu Denfen.
„Was nu?“ fagte Brunfe.
„Was nu?“ erwiderte Simon, indem er prüfend in die Nadt binaus-
fab und den Himmel mufterte. „Das will ich bir fagen, mein Gung. Nu
wöllt witte Hun'n dat Schipp freeten. Zwei Stunden lang fann er’s ause
balten. Wenn’s bis dabin abflaut, halten wir’s Hurd), wenn’g Drei Dauert,
miffen wir nad Gan Gröön hinunter. Aber verjupen könnt wi ja ook in’t
Dedd. Kumm!“
Sie ftiegen bie Kajütstreppe wieder hinunter. Die Klappe wurde dicht
gemadt, und Simon Külper ftredte fich in feiner Roje aus. Brunke froh
zu Barthold hinein. Ihm flapperten die Zähne. Das war das erfte Mal,
Daß es an’s Sterben ging. Aber Simon Külper lag ganz ruhig in feiner
Roje. Gr hatte die Hände übereinandergelegt, und Brunke glaubte zu be
merfen, Daß feine Lippen fich beivegten.
Es war fo.
Es war ein fehr furges Gebet. Es ftand in feinem Gefangbud oder
ſonſtwo; es war ein ®ebet, wie bie Bagenfander Fabhrensleute es ji in
beraweifelten Gallen felbft zurechtzumachen pflegten, Der eine fo, Der andre
fo. Es war darin die Bitte um Rettung ausgefproden, und wenn die nicht
fein fönne, um einen fdnellen Tod, und ein lebtes Bedenken an die fernen
Hinterbliebenen.
932
Dann ſchlief Stmon Külper ein.
Brunke @arrels tat es ibm nad.
Sie Jdliefen lange.
Brunke ertoadte guerft. Gin Heller Schein brad Durd das Stylight.
Gr war alfo ent{dieden nod nicht bei „Yan ®rdön“. Er jumpte aus der
Koje und purrte feinen Meifter auf.
Gie gingen an Ded.
Der Ewer war halb boll Waffer. Aber der Sturm war abgeflaut,
und Die See wufch nicht mehr übers Berbed.
Nun fam aud) Gan Siebert heraus.
naa, meinte er, als er die gerbrodene Lule und das Waffer im
Raum fab, „dat Harr uns eeflig beluern* funnt.“
Nun wurde die Lufe mit einigen Referdebrettern dicht gemacht. Dann
hieß es „Pump Sdipp*!
Reine dreibunbdert Faden voraus lag, wie geftern, leewärts bom Ewer
„Smanuel“ der Gwer „®ermania“. Der hatte es alfo aud gliidlid Durch»
gebalten. Dort waren fie [don mit dem Ginfortieren bes Gangs in bie
Bünn befdiftigt.
Plöglich rief Gan Siebert boll Entfegen:
„Badder, Badder — de Örundfee!* und wies mit ausgeftredtem Arm
nad) Dem Maller-Emwer hinüber.
Gr hatte recht. Eine ber großen ®rundfeen, bie hinter den Stiirmen
berfdleiden wie Wölfe Hinter der Herde, die der Fahrensmann mehr
fürchtet als Brecher und Brandung, weil fie ihr Kommen und ihre Ride
tung nicht anfündigt und den Gwer auf die Hörner nimmt wie ein Bulle
ein Bündel Heu — eine folde Srundfee erhob fich plößlich unter dem
Gwer „®ermania“. Der [prang wie ein Ball in die Luft und Toppsheifte
(fenterte). Man fab einen Augenblid den ſchwarzgeteerten platten Boden,
dann richtete er fid) Halb wieder auf und verjant nad einigen Minuten
in Die Tiefe.
Gr hatte die Qulen offen gehabt.
Simon bielt mit feinem Ewer auf die Ungliidsftelle zu. Aber ber
Eimer zog bor dem Klüper mit der ſchweren Kurre hinter fid nur flau,
und Das Boot war weggefchlagen. Als fie an die Unglüdsftelle Tamen,
war bon dem Ewer „®ermania“ Sowie Jandierk Butenop und feinen
Leuten nichts mehr zu feben.
Deidmbrud*.
er nadfte Zag bradte, wie der Deidge[dworene Bohm Hitider
porausgefagt batte, ftarfen Wind aus Nordweften und Sauwetter. In
der Nadt fprang er nach Südweften um und wurde gum Sturm, und am
Morgen des Shlveftertages ftanden die Leute mit forgenpollen Mienen auf
* Selauern, unglidlid ausgehn.
* Aus „Irina Oroots Vermadtni3*. Trina Groot ift bie zweite Frau Peter
Wibbes. Shre Stiefföhne find Harm, Niflas, Gerd. Mit ihnen verwandt find
= en ex Marifen Wübbe, deren Töchter Wohle und Liefe follen Harm und
eien.
533
dem Deid und fagten mit gepreßten Stimmen zueinander: „Bondaag geibt
de Elm apen.“
©®egen Mittag fprang mit donnerähnlichem Kraden an hundert Stellen
bas riejige, meilenlange GisfeldD unter Dem Drud der immer böber ftei-
genden Glut auseinander, [dob fid zu gewaltigen Schollentürmen gua
fammen und drängte unter der Prefjung des Sturmes und Waſſers gegen
bie Deiche. Peter Wübbe febte jich zu Pferde, ritt den Moorwilcher Deich
Dinauf und hinunter, beriet mit den Deichgeſchworenen und ordnete an,
Daß alle Anlieger, die gum Deichſchutz bei Sturmfluten verpflichtet waren,
mit ihren Gefpannen Bufdwerf, Sandjäde und Dünger an die bedrohten
Stellen zu führen hätten, falls dag Wafer bei der nachmittäglichen Flut-
tide noch weiter fteige. Dann fette er fid mit dem ftolgen Gefühl, Heute
unbeftritten der erfte Mann in Moorwijd zu fein, in Die Döns und er-
wartete den Langendeicher Bejudh. — — —
Nah dem Kaffee famen die Grogglajer und die Seller mit feinem
Portorifo und den langen Kalfpfeifen auf den Tijd. Aud die Frauen
raudten. Maritenwälchen, weil fie Daran gewöhnt war, und Srina ©root,
weil fie dann nicht fo viel zu [preden braudte. Harm faß neben Wobfe,
fagte nichts, fab fie verliebt an und drüdte ihr unterm Tiſch die Hände.
Niklas erzählte Life, wie Hannes Kahlbroof und die andern überelbfchen
Jungkerle beim legten Bauernrennen feinen großartigen englifden Reit-
jig bewundert batten. Beide Deerns Hatten in der Erwartung der fom«-
menden Dinge rote Sefidter, fahen bor fid) nieder und fonnten vor Stideret
und Rodfalten auf ihren Stühlen faum figen.
Die beiden Männer fpraden von Pferden. Peter Wübbe forderte
feinen Better Giirn und Niklas Witt auf, mit nad dem Stall zu fommen,
um den neuen Sengft zu befeben, ehe es dunkel würde. — — —
Die Männer und die jungen Leute famen bon der Hengftbefidtigung
zurüd.
„Sees, wat'n Wind!“ rief Wiklas Witt, fich [hüttelnd. „Das wird ja
immer Doller. Wenn ih nadber nur nidt bom Deid wehe.“
Gs flingelte wieder an der Seitentür. Johm Hitfcher fam Herein.
„Dumm, Peter, DaB ich Dich gerade Heute aus deiner Gamilie weg-
holen muß. Gan Steen bom Gllernbrad ſchickt Order. Es fieht da ſchlecht
aus. Die Kappe will Jaden. Ich babe anfpannen Iajfen. Wir miiffen
wohl hin.“
Der Sturm Heulte, riß an den Zenfterlufen und warf einen Iojen Stein
aus dem Raudfang auf den großen fupfernen Wafferfeffel, daß die Lütt-
maid auf dem Slett bor Schred [aut auffchrie.
„sum Seufel mit der Deihgefhichte!“ rief Peter Wübbe ärgerlich.
„IH Tann aud nichts Dabei machen, wenn Jan Steen beffer auf jene
Wirtſchaft als auf feinen Deich paßt. Heute fann id nidt bon Haufe weg.
Sabr allein hinunter und nimm ein Guder Gandfade und Buſchholz von
meinen mit.“
„Wenn du fie nur nicht felbft brauchen wirft“, meinte Hitfcher.
„Mein Deich ift in Ordnung. Hier paffiert nichts.“
„Wie du willft.“
Srina Groot zündete Lidt an.
534
nod) glaube, Peter,“ fagte fie zu ihrem Wann, „es wäre Dod beifer,
wenn du nod einmal fatteln ließeft und den ganzen Deich abritteft. Pafjiert
etipas, fo beißt eg nachher: Der Deichvogt bat mit feiner Freundſchaft Bull»
bulsabend* gefeiert und fich nicht um feine Pflidt gefiimmert. Was bier
abgemadjt werden follte, Tann ja ein andermal befproden werden.“
Peter Wübbe ftand in Bedenken. Es handelte fid um ein Stüd Ree
putation, Darin hatte feine Frau recht.
Die will uns bloß weghaben! dadte Wrarifen Wübbe und fagte:
„Wenn die Meinung fo tft, dann fönnen wir ja lieber geben, ehe wir hin»
ausgemworfen werden wie Wiflas Witt. Tred din Gad an, Diirn.*
„Anlinn!“ fuhr Peter Wübbe auf. „Ihr bleibt. Und jest wird das
feftgemadt, was bet euch beiprochen ift. — Geeſch,“ rief er aus der Tür,
„bring friiches, heißes Waſſer!“
Geefd bradte das Wajler. Ein Windftoß fuhr bom Flett mit Surd
die Zür in Die Döns und löfchte das Licht aus.
Die Wadden fdauerten gujammen: „Das ift ja rein grafig. Wenn
wir nur nicht über Nacht Hier bleiben müfjen.“
Ic glaube, es fommt anders, Dante Irina @root und zündete Das
Licht wieder an.
Die Srogglafer wurden gefüllt.
Eine Oeſprächspauſe fam. Man hörte nur das Pfeifen des Sturmes,
das Briillen der Wogen und das Knirfden und Sdieben der Eisichollen,
Die Dumpf gegen Die Deihbölchung ftießen.
na, begann Peter Wübbe, „Dann müfjen wir wohl mit der Sache
anfangen. Wir wiljen ja alle, Harm und Wobfe haben fic gern, und alles
andre paßt auc zufammen. Ich glaube, fie find ſich fo weit einig. Und
wenn wir als Eltern es auc find: warum follen fie nicht gufammen freien?“
„®emiß,“ beftatigte Giirn Wübbe, „warum follten fie dag nicht,“ und
Marifen Wübbe fügte Hinzu: „Ich glaube, Srina hat aud nichts mehr
Dagegen. Sie fagte es vorhin, als ihr im Pferdeftall wart.“
„Das habe id nicht gefagt,* erwiderte Drina ©root. „Ich habe nur
gefagt, id) könnt nichts Dagegen maden. Aber ingwijden bat fid die
Sade geändert. Es ift Die Frage, ob Harm Wohle überhaupt freien Fann.
And ob Woble Harm überhaupt nod will.“
Alle fabhen fic erftaunt an. Warifen Wübbe dachte: Gest Lommt
fie mit dem Brief heraus. — Und es blitte in ihr auf: was aud darin
fteben mag, ber Grief ift beftellte Arbeit.
„Denn,“ fuhr Srina Groot mit eifiger Rube fort, „Das ift ja wohl nicht
gut möglich und in den Bier-Dörfern bislang aud) nicht Sitte getwefen —
daß einer zwei Frauen zu gleicher Zeit heiraten fann. Oder, Mariten
Wübbe,“ wandte fie ſich an diefe, „würde es Dir recht fein, wenn Deine
Woble fid mit einem zweiten Platz hinter einer, Die wie ih bom Schwei=-
neetmer und der Miftforfe berftammt, begnügen müßte?“ |
Peter Wübbe begann zu ahnen, was fommen follte.
„Du hälft den Mund, Weib!“ rief er wütend.
„Das Tann gefchehen. Dann foll diefer Brief fprechen.“
* Bollbaudsabend, Abendgefellldaft mit Eſſen und Trinfen.
„Den baft du fchreiben laffen!* fuhr Mariten Wübbe auf. „In dem
Brief fteben Lügen.“
„Peter wird wohl wiffen, daß feine Zügen Darin ftehen,“ erwiderte
Srina Sroot. Dann wandte fie fid an Harm, der mit höchſt unerquidliden
Sefiiblen daſaß.
„Shriftoffer Maal, wo Mine Behrens jest Stent — bor einem Biertel-
jahr diente fie bei uns,* fette fie mit einer Wendung zu Wtarifen Wübbe
hinüber hinzu — „Shriftoffer Maak bon der andern Seite jchreibt, es
würde nächftens in feinem Haufe Kindtaufe gehalten werden müffen. Die
Mutter wäre ba, und das Kind würde an dem betreffenden Sage richtig
zur Stelle fein, Aber der Bater fehlte. Und den müßte und würde fie fich
— und wenn fie nicht Dazu im Stande wäre, er an ihrer Stelle, denn Mine
Behrens geböre noch weitläufig zu feiner Freundſchaft — von Wühbes-
Hof in Moorwijd holen.“
„®ib mir den Brief!" rief Peter Wübbe zornbebend.
Mariken Wübbe hatte die Gadlage blibfchnell begriffen. Wenn Harm
wirklich eine Dummbeit gemadt hatte, wie fie in hundert Häufern vorfam,
wo junges Bolt zueinander gelangen fonnte, fo follte Die ficher nicht der
Stein werden, über den der ſchöne Plan gu Fall fam.
„Mine Behrens oder wie das Menſch beißt: fo eine fann viel fagen.
Das glaub ich [don, daß die fid auf bequeme Weife in einen fdinen Hof
bineinfreien möchte. Ne, Srina root; dein Mann ift ein richtiger Grop-
bauer und weiß, wie folche faljchen Liebesgefhhichten aus ber Welt ge»
Ihafft werden.“
non dem Brief fteht,“ fuhr Trina Groot unbewegt fort und fab Harm
mit einem Blid an, der wie ein Meffer durch ibn hindurdging, „Du batteft
ir Damals veriprocdhen, Du wollteft fie heiraten. Ift das wahr? Oder tft
dag gelogen? Antworte!“
„®ott, Mudber,“ murmelte Harm fchampoll, „Dat — dat hepp id man
fo jeggt.“
„So viel Wübbefcher Stolz ift alfo Gott fei Dank nod in Dir, da
du es wenigftens nicht ablügft.“
„Und darum gebt die Frigeratſchon doc) nicht auseinander!” fchrie
Peter Wübbe, den Brief in Feten reißend.
„Bon ung aus gewiß nicht,“ fügten Zürn und Marifen hinzu.
„And ich fage Dir,“ fagte Trina Groot und erhob fic) zu ihrer pollen
Größe, „und ich fage euch Langendeicher Wiibbes: wenn Harm nicht von
felbft über bie Elbe gebt und bei Mine Behrens fein Wort einlöft, dann
prügele ich ihn hinüber. Ihr wift nicht, was Ihr eurem Namen und
Hof jchuldig feid — eine wie id muß es euch erft fagen!“
Sie ftand da wie eine jener gewaltigen Grauengeftalten aus germa-
nifcher Gagengeit. ES war, als müßten die Wände der Tleinen Döng unter
der Wucht ihrer Perfönlichkeit auseinanderfraden — oder wie draußen
der Deich Durch die elementare Kraft eines Gisblods.
„Aber bon mir aus gebt fie auseinander,“ fügte Woble Wübbe Treide-
bleid, aber feft hinzu, indem fie jich gleichfalls erhob. „Ich teile nicht mit
einer aus Dem Kubftall. Und ich will feinen, der fid an fo eine auf ſolche
Weife heranmadt.*
536
Aus dem Deutihen Volfstum
Sidde Diehl, Sernagte Hallig
„Das Wort will id bir nicht vergeſſen, Wobfe,* fagte Trina ®root.
„Dann batten wir bier wohl nichts mehr zu fuchen,“ ziſchte Mariten
Wübbe, ihre Augen mit tödlidem Haß in die Trina ©roots bohrend und mit
Beradtung ihren Better Peter Wübbe anblidend. „Jürn, laß anjpannen.“
Die Dämmerung ſank tiefer, der Himmel wurde bunfler, die Wolfen
ſchwerer, die Glbe weißer, das Briillen der Wajjer lauter, das ®rollen der
Gisblide wilder und Dumpfer. In der Schleufe lag ein riejenlanger Ober»
länder Kahn zu Unter; fein Leib jchwoll an wie ein Dradenleib, von
denen man in den Büchern lag, fein Maft und die [drag hängende Gaffel
daran bifjen fic wie fiirdterlide Zähne in den Himmel hinein. Da ftand
eine Giler mit einer Krone über dem abgebolgten Stamm, fo bod, dah
man fie in dem Wolfenhelm, der fie bededte, faum nod fab; jest fab man
fie; fie neigte fic, fiel und verjhwand mit dem Baum ohne einen Laut in
der Glut. Das Gis hatte ihn Durchgelägt.
Kleine blutrote triefende Augen blinzelten auf; es waren die Haufer,
die in Deichhöhe lagen und aus ihren Dönfenhöhlen über die wilde Elbe
blidten, {deu, voller Angft. — Andre gefellten fid zu ihnen, bewegten
fi, gingen auf der Deichlappe jpazieren. Gaukelten, tanzten, verſchwan⸗
den, tauchten wieder auf wie Irrwilche.
„Lat uns dalgabn, Sinnif,* fagte Ante, fid an Hinrid Wiel FHam-
mernd. Hinrich Wiek faßte ihren Arm feft.
„Deern, Dat is ja bloot de Dielwacht.“
Die Deichwache, bier Mann, ſchwebte mit ihren Laternen lautlos por-
über.
Und nun tauchte ein wirkliches Geſpenſt Hinter ihnen auf.
Anfe jchrie auf und wollte den Deich Hinunterlaufen.
„Das ift ja Tins,” fagte Hinrich Wiek. „Bor dem wirft du dod nicht
weglaufen.“
„Ohr fetd Kinder,“ jagte Tüns Puttfarden, „gebt in die Puuch*, heute
‘gehören Männer auf den Deid.* —
Nun fam eine Woge und warf Eisſchaum fiber den Deid.
„Tünsohm!“ fchrie Ante. „Ich will weg.“
Eine zweite fam.
„Ih will nab min Trinatante.“
Da drangen Schreie herauf bon Wübbeshof ber Durch den Sturm. _..
Rote Punkte bewegten fic. Laternen.
Dferde freien jo, wenn fie ertrinfen müjjen. Und Menjchen.
And die drei, Tüns Puttfarden, Hinrid) Wiek und Anfe Groot jahen,
wie einen Steinwurf bon ihrer Deidbibe die ſchwarze Deichlinie in dem
Grau der Luft fic) auflöfte, wie jie weiß wurde, fie hörten und faben, wie
das Drüllen ſchwieg und Waffer und Gis fic mit leifem, gleidmapigem,
immer wachſendem, jauchzendem, fchäumenden Beſtienſprung auf ihre
Beute ftiirgten. Noch ftand das mit feinem Walm ftiernadig porgebeugte
Wübbeſche Haus wie zur Abwehr gegen das über den Deich gefletterte,
durch ibn gefrodene jabrtaufendalte Echſenungetüm geneigt — Dann fentte
lid) dag dide Retdach, fpaltete ſich mit Krachen, ſchoß in die Flut hinab,
* Dandbett.
35 Deutides Dollstum 537
tauchte wieder auf und fegelte, bom Sturm getrieben, auf feinem Riiden in
Das endloſe ſchwarze Grau und das ®rauen hinaus...
De Embener Möhlen.*
o nddmn füd de Möblen an d’ Gmbener Wall?
Aaltje, Swaantje un Antjefathrin.
Wat mablen de Möhlen an d’ Emdener Wall?
Mahln groff, mahln middel, mahln fin.
Wo nddmn fiid de Möhlnjungs an dD’ Gmbener Wall?
Seetn Zibbe Jabbe, Hibbe Habbe,
Wenn de Wind weiht.
Heetn Weiart, Wirtje, Watje, Woltje,
Wenn de Steen geiht.
Heetn Onne, Bonne, Fole, Soke
Go—v—o—fe,
Wenn de WMoͤhl ftetht.
Wo nddmn fiid de Widter an d’ Gmbener Wall?
Heetn Rennsfe un Elske, Kenuntje un Knellsfe,
Wenn de Wind de Flunk fleit.
Heetn Benna, Sanna, Anna, Wanna,
Wenn de Möhl dreiht.
Heetn Haufe, Baufe, Fraufe, Moder,
Wenn Dat Mehl in d' Büdel fteibt.
Wo nddmn füd de Möhlen an dD’ Gmbener Wall?
Aaltje, Swaantje un Antjelathrin.
Wat mablen de Möbhlen an db’ Emdener Wall?
Mahln Jungs un mahIn Wider,
Mabhin klippklapp, mabin Ribblapp,
Mahln drum un mahln lidter,
Mahln groff, mabIn midbel, mahln fin.
Radbod*”.
adbbod, Ber Herzog der Griejen, ftand
In der Mönche fablfdeitliger Schar.
a Weiffaltig umwallte das Taufgewand
Den Helden, und helmlos das Haar.
Radbod, der Herzog, neigte dag Haupt
Lind Iaufdte Des Shores Gelei’r:
„QAun trollt euch, Teufel, ber Beute beraubt,
Weidt, Wodan, Donar und Grebr.
Zur Tiefe taucht! Bergebht, wie die Nacht
Bor der Sonne Giegfraft verging.
Obrift, der @ebieter, bannt euch mit Madt
In der Hölle lodernden Ring.
* Aus der Bedihtfammlung „Die Sifenrofe“. Urfprünglid in , Trina Groots
Germadtnis’. Die Gmdener Mühlen haben §rauennamen. „Wit“ ift „Mäb-
hen“ (oftfriefifd).
** Aus der „Sifenrofe“,
538
Aus dem feurigen Pfubl, der freffenden Glut
Errettet nicht Sprungfraft nod) Geil.
Nur Shrifti Taufe, nur Chriſti Blut
Grringt uns das rettende Heil.“
Herzog Radbod {prad), die Arme verſchränkt:
„Ihr jagt’s. — Gs fei euch geglaubt.
Doch es fei, bebor die Flut mid umfängt,
Eine Frage, thr Frommen, erlaubt.
Shr Klugen, fündet — ich weiß, Daß ihr’s wift,
Da ihr Wodan, den weijen, verdammt —
Weld Sit und Schickſal beichieden ift
Den Ahnen, bon Wodan entftammt.“ —
„Wer die Oottlojen fudt, vergeblich fucht.
Die Leiber modern im Grab.
Die Seelen flohen, auf ewig verfludht,
Mit Wodan zur Hölle hinab.“
Da rip in Feten das Taufhemd wild
Herzog Radbod, und rief dem Trop
And griff zur Streitazt und griff gum Schild
And ſchwang fic eilend aufs Rof.
And fpornte den Renner, bon Zorn entflammt,
„Der Donner fdlage darein!
So will ich lieber mit Helden verdammt
Als mit Pfaffen im Himmel fein.“
Kleine Beiträge
Die Srudt aus dem Senfeits.
Ghrifttider Blaube ift Denfeits-
glaube. G8 ift gut, daß die Gre
fabrungen des letzten Jahrzehnts uns
den Geſchmack an jeder fulturfeligen
Srdmmigfeit gründli verdorben ba»
ben. Der Ölaube fragt nad) der „ande»
ten Welt“. Aber ift diefe Haltung
des @laubens nidt eine Sefabr?
Lähmt fie nidt die Kraft und Greu-
Digleit gum Wirken und Schaffen, zur
Anfpannung des fittliden Willens in
diefer Welt, in diefem gegenwärtigen
Leben? Iſt das Warten auf eine
andere Welt nicht unfrudtbar? Das
ift der Gintwand, den Die leiht zur
Hand haben, die fih ,, Wirklidfeits-
menfden“ zu nennen pflegen.
Der Einwand hätte ein Recht, wenn
die Srwartung und Hoffnung des
Blaubeng auf ein blofes Draußen
ginge, wenn der Weg des Reiches Bot»
tes bon außen nad innen führte und
nit vielmehr von innen nad außen.
35%
Das Reid) Oottes ,fommt nidt mit
äußerliden G®ebärden“. Es ift Um-
wandlung der Welt von innen ber.
Das war die Täuſchung der erften Gee
meinde und ihrer glühenden Erwar—⸗
tung, daß fie das Kommen des Reids
gleidfam wie ein Äußeres Ereignis ins
Auge faßte und darum die Hände in
den Schoß finten ließ. Das ift immer
wieder die Art des Unglaubens, dah
er die Wende der Zeiten von einer
Aenderung der Zuftände und Berhält-
niffe, pon einer neuen Befdaffenheit
und Ordnung der Welt erwartet. Das
Heil, die Heberwindung der Not und
des Döfen, die Freiheit, ‚follen von
außen fommen.
Se tiefer, je lebendiger dagegen der
@laube die Wot der Welt und die Bers
beißung des Oottesreidhs erfaßt, um
fo mehr fudt und findet er Geridt und
Gnade im Leben felbft ftatt in der Gre
Iheinung des Lebens, um fo beutlider
erfährt er, wie die Kräfte des Oottes⸗
539
reichs fdon jet in der Tiefe wirken
und {daffen.
Der Dlid des Glaubens auf die Bu-
funft Oottes, auf feine ewige Berbhei-
hung erwedt darum gerade die innerfte
Spannfraft, den tätigen Ernft des Gee
wiffens. Gr fdenk die Klarheit, bie
auf Der einen Seite fiebt, was tft, die
den eigentliden Sammer, die Wirklich⸗
feit der Sünde, die Wirklidfeit des Tow
desfdidfals, die ganze Erlöfungshe-
Dürftigfeit unferes Lebens einfieht und
gerade darum auf der anderen Seite
Die ganze Größe der Aufgabe, der
Anforderung ermeffen fann und fihn
nad dem Hddften greift, den ganzen
Einſatz wagen läßt und in unbedingter
Hingabe dem fommenden Reid vere
pflidtet.
So wird für den Slauben bie Welt
zum Gdauplag der Entſcheidung. So
{haute Michelangelo die Welt, als er
fein Jüngſtes Geridt malte. Das ift
wahrlid fein Spiel der bloßen Phan-
tafie, die Smagination eines erdadten,
zufünftigen Sages. Gr malt, was fein
in Qual und Kampf des Lebens gee
reifte® Auge faut, das Auge bes
@laubens, das in die Tiefen und
intergründe des Lebens eindringt, das
jieht, was das Leben wirklich ift, was
in Wahrheit in diefer Menſchheit por
fid geht. Gr malt in diefem Jüngſten
Oericht, was fid) immerwährend voll⸗
zieht: Da fteht Shriftus in der Mitte.
Die Kraft, die bon ihm ausftrömt, wird
den einen zum @eridt. Ihre Leere
wird offenbar. Sie gleiten, ftiirgen,
taumeln hinab ing Bodenlofe, eine pon
grauliger Troftlofigkett ergriffene, den
Dämonen der eigenen Bruft verfallene
Mienfchheit. Die anderen aber, untwie
berfteblid aufwärts gezogen durd die
lebenwedende madtpolle Sebarde Hes
Srlöjers, entfteigen dem ®rabe ber
nn und faffen fid) aufwärts tragen,
Dem Simmel entgegen.
Der Blaube fteht auf der ©renz-
{Heide von Zeit und Ewigkeit, von Fin-
fterni3 und Licht, pon Tod und Leben.
Weil der @laube an diejem Orte
ftebt, an der Wende, im Lidte bes
auffteigenden ©ottestages vergeht por
ihm alle Täuſchung, alle bergend2
Heimlidfeit. Das Lidt, das von Bott
Her auf die Welt fällt, ift ein unerbitt-
lider Richter. Aber diefe unerbittlide
Klarheit ift gerade die Hilfe, die wir
brauden. Nur wenn wir volle Klar-
heit haben, wenn alle leeren Worte
940
und alle bequemen Schleier aergeden,
ift befreites Leben möglid. Was aus
dem Dunfel befreit wird und ans Lidt
Iommt, da8 fteht damit auch unter ber
Madht und Herrfhaft des Lichtes. Hat
Diefe Macht nidt Thon das Sleidnis
des Chriftus, die irdifhe Sonne? Ber-
wandeln wir uns nidt unter ihren
Strahlen bis in die Tiefen unferes ®e-
mites? Wie unendlid viel mehr gilt
das in der Wahrheit bon dem ewigen
OGotteslidt. Da der Zöllner bas Gee
bet ſprach: Herr, fei mir Sünder gnä-
Dig, „ging er geredtfertigt in fein
Haus“. Man Tann feine Sünde nur
erfennen, weil man fie fon im
®runde iberwunden Hat, weil man im
Lichte fteht. &8 find Stufen des Olaue
beng, bon denen wir fpreden, nidt
Stufen der Geredtigfeit des Wenfden,
der Bolltommendeit feiner Leiftung. Se
naber wir dem Lichte fonmen, je mehr
wir ihm geöffnet find, um fo tiefer
wird ja gerade Die Grfenntnis der
Sünde. Das ift eine alte Ehriftener-
fabrung. Was Michelangelo malt, gilt
nidt nur in dem Ginre, daß die einen
finfen, Die anderen fteigen. a jedem
bon uns ift died Stirgen und Öteigen,
die Schwere unferes eigenen Wefens,
die uns niederzieht, die Oottesfraft des
®laubens, die uns bebt.
Aber wie es wahr ift, daf die grö-
Bere Nähe des Lichts die Srfenntnis
der Sünde vertieft, fo gilt aud, daß je
tiefer die Erfenntnis der Sünde tft, um
fo größer die Grfahrung der Gnade
wird. Wud in diefer Grfahrung wird
der Olaube pon Ötufe zu Stufe geführt.
Da werden wir immer mehr gebunden
an die Wahrheit und gerade jo immer
freier, weiter, gelöfter. Go ift der
@laube eine immerwährende lebendige
Bewegung, eine innerfte Wandlung.
Ihm gilt das Wort aus dem Zauft:
Steigt hinan zu höherm reife,
Wadfet immer unvermertt,
Wie nad ewig reiner Weife
®ottes Gegenwart verftartt.
Das ift die Sreude, die Geligkeit des
@laubens, daß er, dem Lichte geöffnet,
nun felber zum Lidte wird, dah fein
Leben fo zum Zeugnis der Wahrheit
wird, zur Botichaft, die Oottes Berbei-
Bung hineinträgt in die Welt. Erleud-
tet leuten, durchglüht gliiben, befreit
Sreiheit bringen dürfen, das ift die
Studt aus dem Denfeits.
Karl Bernhard Ritter.
Ougenie Shumanns Erinnerungen.
Pr, ist allaulanger Zeit Hat Georg
Simmel in der Revifta del Dcci»
dente, Der führenden Revue Spaniens,
in feiner geiftreihen und fdarffidtigen
Art über den Kampf des fadliden und
bes perfonliden Berufsanfpruds ber
modernen Grau gefproden und hat dae
bei den tragifchen Zwieſpalt aufgededt,
der immer häufiger zwilhen dem fade
liden Leiftungsmwillen, mit dem die heu-
tige Grau unmittelbare Kulturarbeit
leiften will und muß, und dem perfön«
liden, der ganz in Mann und Familie
aufgebt, fid auftut. — Um fo wohltuen-
ber berührt e8, wenn dann und wann
pon wahrhaft bedeutenden Grauenge«
ftalten beiden Anfprühen Geniige ge»
tan wird, und awar fo, daß die wech“
felfeitige Grfillung Fähigkeit und
Steudigfeit zu beiden ftändig fteigert
und beſchwingt.
Eine folde Frau war in der jüngften
Begenwart die als Aerztin führende
Gattin des nod lebenden Schweizer
Oeologen Qeim, Heim-Bogtlin,
eine folde Srau, höheren Ranges nod,
weil nod ſchwereres Schidfal beſchwin⸗
— geftaltend, Slara
ied, die Oattin Robert Schu⸗
mannsg. „Sie hatte den Keld) des
Leidens bis auf Die Hefe geleert, aber
der ihr innewohnende Genius verlieh
ihr die Kraft, alle Bitterfeit in Gi-
Bigfeit gu verwandeln und fid zu höch⸗
fter menſchlicher Bolllommenheit durch⸗
guringen. Wie diefer Genius fie zu
einer BPriefterin der Kunft gemadt
hatte, fo verlangte er aud gebieterifd)
Crfaffung aller Sharalter- und Ge»
mütsanlagen zu fünftlerifh Harmonie
{der Ausbildung.
„Ben Tag für Tag die Liebesfonne
ibreS QAugenpaares beftrahlt Haben,
wer ein Leben lang eingehüllt war in
die Wärme ihres Herzens, der hat
nicht im Schatten gelebt; der tft erfüllt
bon höchſter Dankbarkeit gegen bas
Wefdhid, weldhes ihm, fidh bes Mittels
Bimmlifher Mutterliebe bedienend, den
Glauben an ewige underganglide Liebe
ins Herz gefentt hat.“ Es find nidt
überſchwängliche Dugendworte, fon»
dern es ift das abfdlichende Bekenat⸗
nis der heute fünfunbdfiebaigjährigen
sodter Sugenie Schumann, die ung in
einem geihichtlih höchſt bedeutfamen,
perſoͤnlich höchſt Tiebenswerten Werf,
ihre Grinnerungen [Henkt*. SOefdhidt-
lih bedeutfam ift e8 darum, weil ed
in meifterbaft [ebendbigmadender Schil⸗
derung Glara Schumanns Seftalt por
uns voritbergiehen läßt; das heißt aber
zugleih: Anteil gewinnen läßt an
Mufifalifh-Bedeutfamen der zweiten
älfte des vergangenen Jahrhunderts:
ifgt, Idachim, Stodhaufen, Rubin-
ftein, Sennh Lind, por allem aber
Brahms.
Neben den Grinnerungen an die
Mutter find das Kapitel und Die Die
len beiläufigen Bemerkungen über Die-
fen fnorrigen, tieffinnigen, und dabei
oft iiberrafdend findliden Norddeut-
fen in all feiner Liebenswürdigfeit
und Sprödigleit wahre Kleinode. Sine
reigende Gpifode über Brahms, den
Klapierlehrer Gugeniens, mag als Be»
leo und gugleid als Zeugnis der &r-
gabltunft der Berfafferin bier Plag
finden: „Sines Tages — es war furs,
ehe id) Brahms zur Stunde erwartete
— fagte Mama zu Marie und mir:
„Kinder, was habt ihr eigentlid) mit
Brahms? Gr beflagt fid, ihr waret
nit nett gegen ihn.“ Wir waren ent-
rüftet, wir feien immer fehr nett und
wüßten nicht, was er wolle. „Nun,
da fragt ibn Dod felbft, er fommt ja
Heute zur Stunde.“ „Ad,“ meinten wir,
„wenn er böfe ift, wird er gewiß nicht
fommen.“ Aber piinftlid) um elf Uhr
erfdien er. Nun drängten wir ihn in
eine Gee, ftellten uns por ihn und fag-
ten: „Sp, Herr Brahms, nun laffen wir
Sie nidt heraus, bis Sie uns fagen,
was Sie gegen ung haben; Sie haben
fih bei Mama über uns befdwert.“
Da madte er ein Gefidt wie ein lies
ber, gefdoltener Schuljunge; er ftedte
beide Hände in die Tafden, trat vere
legen von einem Bein auf das andere,
fudte nad Worten und ftammelte end»
lid: „Ad, ad, ed ift ja nur, weil id
fo ein Gfel bin.“ Mehr fonnten wir
Dod wirflid nidt erwarten, e8 wurde
uns gang weid) ums Herz, und vere
ſöhnt ließen wir ihn aus feiner Sde
heraus. Was er uns eigentlich übel
genommen hatte, das erfuhren wir nie
und badten aud nidt mehr darüber
Neben die Mufiter treten bedeutende
Menfden aus allen Lagern und Gee
bieten: Ludwig Bamberger, Fannh Lew
* Bei Engelhorn in Stuttgart er-
ſchienen.
541
wald, Anfelm Geuerbad, Iwan Ture
genie, &duard Devrient. — Reigvoll
und menfdlid von Wert wird das alles
dod erft durd die ausgeglidene Fein⸗
heit und Hobe feelifde ultur der Bere
fafferin, der ein ausgefprodenes Dar⸗
ftellungstalent wirffam gu Hilfe fommt.
Denn mit gleider Deutlidfeit wie Diefe
großen a Perfonlidfeiten
treten die Menſchen des Alltags, feien
eS Gibrer und Kameraden der frühen
Schul» und Penfionszeit oder der Lern-
jabre an der Berliner Hodfdule für
Mufif unvergehlih vor Augen in hidft
ergögliden oder fehr bewegliden
Augenblidbildern. Den frönenden Abe
ſchluß des Buches bildet „ein Verſuch“,
das Spiel und bie Stellung Clara
Sdumanns zur Wufif gu deuten und
auszudeuten. Soweit fo etwas tn Wor-
ten gelingen mag, ift e8 wohl der Tod-
ter am ebeften gegeben, das Wefen der
Mutter nadfdhaffend zu erfaffen. Im
®runde vermögen Worte hier [dmerz-
lid wenig. — Sine Reihe unveröffent-
lidter Bilder, das bisher ebenfalls
unverdffentlidte „Srinnerungsbüchel«
den für unfere Kinder“ aus der Hand
Robert Shumanns, das ihn uns als
{Harfen und getreuen Beobadter fei-
ner Kinderſchar zeigt, maden das Bud
nod reicher, alg e8 ohnedem ſchon ift.
Heute wohnen die beiden Töchter
Shumanns, die altefte, Marie, und die
jüngfte, Sugenie, in Snterlafen. Wer
einmal in ihren Räumen, die reid an
Grinnerungen find, bat weilen dürfen,
wer einmal an einem der Gliigel, Die
Slara Schumann zu eigen waren, in
lebendigfter Grinnerung Die „Kinder-
faenen“ von den Händen der Todter
bat erklingen hören, dem werden Diefe
Stunden zu den unvergeflidften ges
hören. Als fchönftes aber wird fid da-
au das Befenntnis gum Deutihtum gee
fellen, das in langen freude- und ent-
tdaufdhungsreiden engliiden Jahren
Gugenie Schumann als innerftes Bee
fibtum fid errang: „So fdmerglid mir
die Grfenntni8 der ungeheuren Kluft
aud) war, die fid zwiſchen unfern bei-
den Bölfern aufgetan hatte und deren
Bertiefung id tagtaglid verfolgen
fonnte, fo bradte fie mir dod einen Gee
winn, den id nie hod genug veran—
fhlagen fann. Deutide von Herfunft
und Grgiehung, wurde id bier in Eng»
land nod) einmal Deutſche, Deutfche
aus freier Wahl, aus innerfter Ueber»
geugung, aus Liebe gum Deutihtum
042
und Dies ®efühl der Zugehörigkeit zum
Baterlande, auf fremdem Boden mir
erft poll gum DBewußtfein gefommen,
wurde mir gum —— —**
Paul Haarmann.
Sieblung, mern und die Schei⸗
bung ber Deifter.
Bye Sinnloſigkeit unferes politifchen
Partetwefens ift heute faft in aller
Munde. Die meiften vermögen die
— kaum anders denn als Aus⸗
ängſchilder für die Lebensverſorgung
der Politiker anzuſehen, ſo wirr gehen
in jeder Partei die verſchiedenſten, un⸗
verträglichſten Anſchauungen neben-
und durcheinander. Es iſt anſcheinend
feine Sahne mehr möglich, um die man
fid fchart, fondern bloß ein Brotforb.
So find die Trennungslinien gwifden
den Menichen, die durd wirflide © e»
finnungen gezogen werden follten,
denn aud ganz widerfinnig geworden,
und da zudem der alte Aufbau unfrer
Sefellichaft, deren Führung leider nod
immer in der ©rofftadt liegt, mit Ben
Borredten und der wirtſchaftlichen Si—
derung widtiger Schichten verſchwun⸗
den ift, wiffen gerade bie Beften, die
fid und die Welt ernft nehmen, in dies
fer Zeit nicht, wo fie der Wobhltat des
Zulammenfeins und Sufammentwirfens
mit gleidftrebenden Geiftern teilbaftig
werden fönnten, ohne Die dem tätigen
Wenfden das Leben [hal und zwecklos
erfdeint.
Gine Klärung diefe8 neuen Urgu-
ftandes durch Die allgemein erfehnten
Ihöpferifhen Kräfte fann nur an den
wirkliden Lebensfragen gefchehen, die
Heute den einfaden Gemütern oft viel
deutlicher por[dmeben als den Anges
börigen einer gebildeten Oberſchicht,
deren einfeitiges Berftandeswefen alle
gelunde Zriebhaftigfeit zerftört bat,
Wem einmal die Augen darüber auf
gegangen find, wie weit wir aud in
deutiden Landen dant der Entwidlung
mindeftend der lebten fünfzig Jahre
auf dem Weg des Unterganges fortge=
fdritten find, der erblidt in dem Sug
gue Natur, der tn Seftalt der Gied-
ungsbewegung fo viele ergriffen bat,
den einzigen Lidtpunft in dem Dunkel
diefer Tage, den Wegweiler zur Rete
tung und Umkehr und erfennt an diefer
Stelle die wirflihe ©renzlinie zwiſchen
den verfdiedenen Menſchen, zwilchen
den vernidtungsreifen Sefdpfen der
Dergangendeit, der gefunde Les
bens- und Gortpflangungswille abban-
Dengefommen ift, und bem Sefdledt
Der Zulunft.
G3 ift feine neue Weisheit, deren
mir uns rühmen dürften, all das bat
der Begriinder der deutſchen Bolfs-
funde, Wilhelm Heinridh Riehl, fdon
um 1850 deutlid erfannt und niederge-
{rieben, aber eine Zeit, die fid an
dem vermeintliden Fortſchritt beden⸗
fenlos beraufdte, hat ihn nicht gehört
und bören wollen und ift ftatt deffen
lieber fremden falfden Propheten nad)»
gelaufen.
Wir aber müffen im Befig diefer
neuen und dod fo alten Erkenntnis
alles Zun und Wollen im nationalen
Sinn porerft darauf richten, dag nadte
Dafein unferes Volkes und feine Forte
pflangung von Grund auf zu fichern
und feben deshalb in der Siedlungs⸗
und Dodenfrage bie deutſche Frage
pon Heute, von deren richtiger Löfung
alles abhängt. Hier fcheidet fih das
wahrhafte Wirken für unfer Bolf pon
der nationalen Phraſe, das heißt pon
den Worten, denen feine Taten folgen.
Ja, wem es nicht genügt, für fein
Golf zu arbeiten, wer darüber hinaus-
ftrebt, der mag fid fagen, daß Bier
das Sdidfal der weißen Raffe in
unfere Hand gegeben [deint, denn lö⸗
fen wir den Swiefpalt für ung, dann
{Hreiten wir aud den anderen auf dem
Wege des Heils voran und das viele
mißbraudte Wort bom deutfhen Wee
fen und der Oeneſung der Welt wird
Wahrheit. Es gilt, fid auf die wahre
Berufung unferes Bolfes wieder zu bee
finnen, die wir über dem Giegeszug
der deutfhen Zechnif, der Induftrie,
des Handels, den feine Feindſchaft auf-
zubalten vermodte, allgulang vere
gern batten. Das deutihe Bolt ift
ie weiße Giedlernation, unfere Baue
ern allein fißen feit Jahrhunderten in
allen Weltteilen; mo e3 ſchwieriges
Neuland zu befiedeln galt, hat man den
Deutfden gerufen.
Die tiefe germanifde Naturnähe ift
aber wohl der @rund, warum Die
UMeberinduftriealifierung in feinem
anderen Bolt einen fold@en inneren
Swiefpalt erweden fonnte, die Wusge-
burt Ddiefer Beit, die mitteleuropaifde
Srofftadt, ift für fein Volk weniger
geldaffen, feinem hat fie mehr Verder⸗
n gebradt. nfre jebige innere Ser-
riffenBeit, die troftlofe Entfremdung der
Bolfsfhidten gebt in der Hauptſache
auf D438 Berbreden zurüd, daß man
nn diefes Bolt 7 die Sa aie
tr Mietstafernen gefperrt hat. Hier
müffen fid) die Wege trennen: wer
Dies alles nicht fühlt und begreift, wer
fid pon den gewohnten Sedanfenbabh-
nen nicht loszureißen vermag, der
bleibt im Sumpf zurüd und muß ımter«
geben, die anderen fchreiten gemeinfam
in Die Bufunft, alle Schranten der Bil»
bung, des Standes fallen zwiſchen Dee
nen, die auf dem fideren Orunde Der
Siedlung die Zukunft des Volles neu
aufbauen.
Zu dem fideren Grund gehört aber
der Schub eines wurgeledten Boden»
rechtes; das Heim für lebende und fome
mende Sefdledter, wie wir e3 im Sinn
baben, muß auf der alten deutfchen An»
fhauung von der Natur des Bodens
fußen, welche die Bodenreform in ihrer
reinen Faſſung wiedererweden will. &8
ift die einleudtende einfahe Wahrheit,
baB der Boden ein unpermehrbares
But ift und nur dem gugebdren Tann,
der ihn benüßt, er ift verliehen, aber
nicht geſchenkt. Das find feine überfpiß-
ten Gedanfengange, wie fie im Marzis-
mus immer wiederfehren, und wer dere
lei Kommunismus nennt, der fieht vor
lauter Berftand die nädjftliegenden
Schlüffe nidt mehr oder madt fid fel-
ber nicht flar, wie weit er an dem jest
gen Zuftand mit feinen Opefulations-
möglichkeiten ıntereffiert ift. Wir wün«
fen eine Wirtfhaft herbei, wo jeder
Die Früchte feiner Arbeit anders als
heute genießt: jest Hat er entweder fei-
nen Zutritt zum Boden, zur Arbeitsge-
legenheit, oder er muß einem untätigen
©Orundbefiger den Lömwenanteil abtre»
ten. Wer fid einmal flargemadt hat,
wie fehr jede Arbeit an den Boden ge
bunden ift, wird die allumfaffende
Deutung der Brdenfrage nıe mehr bere
fennen fönnen.
Wir haben in diefer Betradtung die
materielle Seite der Grage boranges
ftellt, weil man bei der heutigen Gine
ftellung der meiften Menfden fo am
ebeften Oehör findet. Aber worauf wir
hier eigentli abgielen, ift die tiefe
Wirkung auf feeliidem Gebiet, die cine
roße Klärung der Boden- und Sieds
ngsfrage herborbringen muß, es ift
die Krife ded Materialismus, die fid
bier am wirffamf{ten vorbereitet. Wenn
wir allenthalben über den Materialis-
543
an ftöhnen hören, oft von folden, die
felber ftarf drinnen fteden, dana wol-
[en wir all den flagenden Stimmen zu⸗
rufen: Kommt zu uns, bier könnt ihr
eure ®efinnung beweifen!
Sft es nicht gottlog, wenn einer ben
®rund und Boden, der einem Golf als
Wohnſitz gegeben ift, gufammenfauft,
alle andern dapon ausſperrt und ihn
unbenüßt liegen läßt, bis er, ohne einen
Ginger zu rühren, durdh die blofe
Wertfteigerung reich geworden ift, eine
en die er Der Arbeit
ber bon usgefperrten zu danken
ift? Die ——— Oottloſigkeit unſe—
rer Zeit, die auch der beklagen muß,
der jedes poſitive Religionsbekenntnis
ablehnt, hängt ſicher aufs engſte mit
der Zerſtörung der Familie durch die
Srofftadt zuſammen und mit ber Bee
berrfhung unfres Lebens durd die
Sedhnif. Dagegen baut die Siedlung
das Gamilienleben wieder auf, fie bie-
tet Das feelifche Segengemidt gegen Die
forperlide und geiftige Gabrifarbeit
und die Haft des Lebens. Wir fonnen
die Technik nidt ausfdalten, ohne bas
Dafein der gewaltig angewmadfenen Bee
pdlferung Guropas in Frage zu ftellen,
aber die Siedlung ermöglicht ung, wer
nigftens die Grauen und Kinder aus
den Srallen der Medanifierung zu
befreien. Die Grau des Giedlers
braudt nidt in Fabrik und Büro eine
Arbeit zu verrichten, die ihrem Wefen
widerfpridt, fie ift dem wahren und
Ihönften Grauenberuf wiedergegeben,
der Kindererziehung, und fann daneben
aud die edtfraulide Sartenarbeit und
Kleintierzucht betreiben. Und wie ders
ändert das Leben in der Siedlung We-
fe u —— Art der armen bleichen Oroß⸗
ind
Sind her Mann felbft: das eigene
Heim in erreihbarer Nähe tft ein Ziel,
dem zuliebe er jedes Opfers fähig —
er verſagt ſich jeden Feiertag, ja, auch
den Feierabend, und gönnt ſich in einer
förmlichen Sparleidenſchaft nicht das
kleinſte Vergnügen außer der Arbeit
an ſeinem Haus. In dieſer Arbeit
liegt eben Weihe, das myſtiſche, reli—
une Moment im Hausbau fühlt duns
lL aud ein abgeftumpftes Srofftadt-
gemüt, die antifen Bolter ftanden eben«
fogut im Bann diefes Gefühls wie afri-
fanifhe Gingeborene der @egenwart.
Welde religidfen Antriebe liegen erft
in der Landarbeit! Warum ift denn
der Bauer fein Marzift? Gr ftößt im
544
Let ead Leben immer wieder auf
Iten der Natur und erfennt
darin, oft unbewußt den Urgrund aller
Dinge, den Willen Gottes, indes Der
Städter, befonders der Snduftriearbei-
ter, in feinem Wirten medanifiert und
in den engen Kreis der Tehnif eins
gefdloffen, in den Widerftänden des
Wirt Haftslebensimmer nur menfdhlide
Bosbeit erfennen midte und unter dem
rationaliftifden Einfluß feiner Führer
fid einbildet, mit dem Berftand alles
Reid aus der Welt fchaffen zu fonnen.
Daher die ohnmddtige Wut eines ein«
gefleiſchten Marziften, wenn ihm als
Fe ärtner die Wetterungunft die
Früchte feines Sleißes raubt. Da gıbt
e8 feinen Kolleftippertrag, der auf Ko»
ften der Allgemeinheit, auf die Der
Sinternehmer die Laft abmalgt, den
Induftriearbeiter por den Ridfdlagen
der Konjunktur ſchützt. Konjunktur,
was ift fie denn im großen gefehen als
die Welternte und ihre Folgen, mithin
das Walten Gottes? Was an menfd-
lidem Schwindel, an Spetulation da»
bei mitfpielen fann, fällt nie fo ftart
ins ®ewidt, wie man oft meint. Bor
©ott will fid der Materialift ſchützen,
der Landmann aber muß auf ®ott vers
trauen!
Kann der Snduftriearbeiter, der wie
fo viele vom Land ftammt und als
Siedler jeden Abend und am Sonntag
wieder Bauer wird, Marzift bleiben?
Wird er nicht durd die Beldaftigung
mit den Geſchöpfen Sottes, Tier und
Pflanze, ftatt mit den Erfindungen ber
Wenfdhen, pon felber fromm, gläubig
werden nidt im Ginn einer Sirde,
fondern der tiefen GHhrfurdt por dem
inbegreiflichen, das über ung waltet?
Oehört nidt ſchon zum Pflanzen von
Bäumen, die erft künftigen, ungefann-
ten Wefdledtern Frucht und Schatten
Ipenden follen, fromme Denkungsart,
die grundoerfdieden ift pon dem eine
tagsfliegenmäßigen Sagen des Orof-
ftadters nad Augenblidsporteilen? In
dem fteinernen Strafgefängnis unfrer
Proletarierviertel wird folde Oeſin⸗
nung freilid faum je erblühen fünnen!
Darum möge fid jeder, dem bie heu-
tige Not unjeres Bolfes auf der Seele
brennt und dem es mit Der Hilfsbereit-
{daft ernft ift, vor allem anfehen, wie
unfer Dolf in den großen Städten lebt
und wohnt, und was es fi fdon in
den nod fo fpdrliden Siedlungen auf
gebaut bat, dann wird thm Sefibl und
Berftand deutlid fagen, welche Rid-
tung er am heutigen Scheidewege eine
ſchlagen muß und wo der Pfad auf-
warts in die Butunft führt.
Joſef Schneider.
Aacktkultur.
an ſetzt die Ounſt der deutſchen
Jugend aufs Spiel, wenn man
heute nod gegen actfultur redet,
und erntet allerlei liebe» und ehrenvolle
Titel, Die nicht geeignet find, die Gelbft-
adtung zu ftärten. Auf die Gefahr Hin
fet e8 trotzdem gewagt, zu Diefer Ta-
gesfrage, die [bon eine ganze Anzahl
Berlage und BudHandlungen ernährt,
ein paar Anmerkungen und ein paar
Sragegeiden zu maden.
Wenn Heute pon Nadtkultur geredet
wird, fo hat dies immer den Beige
Ihmad des Gefdledtliden. Daß es fo
ift, wird am beften dadurch bewielen,
daß jeder, der Darüber redet, aus-
bridlid beftreitet, daß es fo fei, und
den bündigen Nachweis zu liefern
tradtet, daß eS febr wohl Nadtkultur
ohne jedes ,finnlide’, Tuftpolle Bei⸗
efühl geben fönnte, und die Beweis-
führung Ihließt gewöhnlid wie in
einem ſchulgerechten Penndlerauffag
mit Biftorifhen Beifpielen, d. h. meift
nur mit einem, dem der Orieden.
Nun fällt mir nicht ein gu beftreiten,
daß in ©riechenland zu der Zeit, Die
Srwin Rohde in feinem Wert „Piyche“
geradezu die agonale nennt (bon
Agon, der Wettlampf) etwas wie eine
Radtkultur blühte. Ebenſo wenig bee
ftreite ich, daß jene Zeit im .Zufammen-
bang mit der Pflege des nadten Kör-
pers aud eine Bildkunft hervorgebracht
bat, die wie feine fonft den nadten
Körper zu formen verftand. Was, nidt
wahr, liegt näher als au folgern:
Wenn wir nur erft wieder eine Nadt-
fultur baben, fann die finftlerifHe
Bite nidt ausbleiben. Aber der Bee
weis ift fo adbnlid wie der ®edanten-
gang jenes verjüngungfüdtigen Alten
im Schwank, der da glaubte nod einmal
jung werden zu lönnen, wenn er fid
in Windeln midelte und findifd
fallte.
Mit andern Worten: die griedhifde
Nadtfultur ift erwachſen aus frühzeit-
fiden indogermanifhen Anlagen der
Griedhen, unter dem Einfluß eines ganz
beftimmten Klimas, ganz eindeutiger
gefellihaftlider Sdhidtungen und eben
nur in Hellas wirfender Ginfliffe vom
Morgenland herüber, furz, fie ift ge»
wmadfen,ift Sitte, hängt mit den
religiöfen Lehren, den Redtsbegriffen,
mit dem ganzen griebifhen Wefen eng
zufammen. Die Hellenen jener Tage
hHidteten ihren Göttern aud ungezählte
Riebesperhältniffe an, fie trugen bei
manden Seften riefiae männlide See
[Hledhtsteile auf Stangen im Geftaug
mit, fie gaben die Liebe zwiſchen Mann
und Knaben fret, fie empfanden
und Dagdten völlig anders als wir,
und fie dadten fo, weil eg ihnen
natürlich tar.
Was heute bei uns verfudt wird,
ift wieder einmal der Ausdrud bes
Iogih-aufflärerifhen Denkens: Nadt-
fultur hat die und die ungemeinen Bore
züge, alfo „führen“ wir fie „ein“.
Go etwa wie an Stelle der Pferde
bahnen die Gleftrifdhen „einneführt“
worden find. Haben wir mur erft die
Nadtiultur, fo fann Die griedifde
Natirlidfeit des Denkens, wie man’s
nennt, nicht fehlen.
Leider aber find wir ein gang „altes“
Golf (bas braudt man nidt mit Bee
rufung auf Spengler zu beweifen, da8
wußten fdon Goethe und Schiller) und
in unfrer gefdhidtliden Sntwidlung
ift nihts, was die Nadtfultur als
Sitte ftüht. Schon bei den Germa-
nen gab es fie nidt* und anderthalb
Sahrtaufende Chriftentum mit dem
Kampf gegen das „Sleifh" Haben
ihre tiefen Rungeln in das geiftige Gee
fit unfres Bolfes gefdrieben, Rum
zeln, die fid nit mit nod fo viel
Druderihwärze wegſchminken Laffen.
Wer Heute mit gewiffen griehifchen
Symbolen auf der Stange durch Die
Straßen ziehen würde, ware nidt nur
fider, alsbald verhaftet und hernach
etliden Monaten ftillen Nadden-
ns verurteilt zu Werden, er würde
aud unferm Sefhmad als ein
fHamlofer Narr erfdeinen und mit
Ret, weil das Redt etwas gee
{[Hidtlid gewordenes ift genau wie
unfer fittlider Oeſchmack in Diefen
Dingen. Und unfer OGeſchmack wmte
unfer Schidlichleitsgefühl find genau
wie die der Griechen beftimmt burd
* Wer fid auf die befannte Stelle
bei Sacitus beruft, beweift damit nur
feine hiftorifhe und philologiſche Un«
fenntnis.
545
Anlage, Land, Luft, Sonne Umwelt;
Umftande, die wir von uns aus und
auf logiſchem Wege leider nidt ane
Dern fonnen*. So wird fid denn aud
Die driftlide Kirche, epangelifhe wie
fatholijde, immer gegen eine Nadtkul«
tur im griedifchen Sinne auflehnen,
weil die griehifhe Denkweiſe heidbnifd
tft, nicht weil die Kirhe eine Gamme
lung bon Dunfelmdnnern und zimper-
lihen alten Sungfern wäre; e8 geht
ter um die lebten Grundlagen des get-
en Seins überhaupt. Gine Nad t-
fultur aber, welde die Rew
ligion felber gegen figd bat,
wird niemals Gitte.
Bielleiht find wir nicht mehr allgu-
fern bom Ende der Religion (womit ib
als die einzige für uns möglidye bas
abenbdlandijde Ghriftentum meine),
und dann ware die Bahn für Hellas
frei, wenn nur nicht mit der Religion,
alg innerlih verbunden, Sitte, Sefeg.
Kunſt, furg alles dem Menfden Hei-
lige mit zum Teufel gehen müßten und
das, was dann bom MWenſchentum
nod übrig bleibt, wirflih nidt mehr
bes Aufbebeng wert wäre.
Inzwiſchen wollen wir nod einmal
Die wirflide griechiſche Nadtkultur mit
dem Bilde vergleiden, das ihre Lob»
tedner bon ihr im Kopfe tragen. Da
ift es denn unridtig, fid das ganze
römiſch⸗griechiſche Altertum ungefähr
fo vorzuftellen wie ein Berliner Fae
milienluftbad, bloß ohne die ba nod
borgefchriebenen Badeanzüge. Sunddft
eitlid. Die Nadtkultur beſchränkt
* während der Antike, d. h. etwa
iſchen 1600 por und 400 nad Ehri-
auf rund zwei Iahrhunderte. Das
zu beweijen, liegt fein Beifpiel näher
alg die griechiſche Bildkunft felber:
{Hon im vierten Jahrhundert (Praxi⸗
tele’, Leodares) ftellt fie nidt mehr
den fportge{dulten Iüngling dar, fon-
dern ein weidlideres Idealmodell oder
— ben DBerufsathleten. Aber wir
wiffen’s nod aus hundert Seugniffen,
Daß eS feit dem Hellenismus feine
Nadtfultur mehr gibt, fondern bloß
nod Zirfusiport. In Olympia begei-
ftert man fid) überwiegend für Renn«
pferde und Preisboxer. Und nun
pollends Rom! Wer in Rom auf
* @ottfeidbanf nidt ändern fönnen.
Was würde die Fuge Menidbheit fonft
alles aus fid maden. Anm. d. Her-
ausg.
946
Bildung Anfprud madte, hütete fid
bor jedem Auftreten in griedifder
Nadtheit aufs peinlihfte; im Zirkus
arbeitete der breffierte Sklave, ber
@ladiator, und aud ber nidt einmal
nadt. In den lebten vier Jahrhunder⸗
ten des AWtertums (die nicht zu fennen
Den Lobrednern der Antife fo wohl an»
ftebt und die dod recht eigentlich bere
dienten, mit unfrer Zeit verglichen au
werden) Tehnten Heiden und Früh.
@riften gleiherweife die altgriedhifdbe
Nadtfultur ab, und die Neigung des
Kaifers Hadrian zu Antinoos ift weh-
mütige Romantif.
Aber jene altgriebiihe Weile unter
{died fid) noch in einem andern fehr
merflid pon dem, was heute betrieben
wird. An ihr Hatten Die Frauen
feinen Zeil, bie fpartanifden
Schnelläuferinnen in Olympia ausge»
nommen, die freilich eben nur bei Dielen
feltenen Gelegenheiten und aud dann
im Oportrod und zu guter Lebt vor
einem Kreis auftraten, den nidts bes
herrſchte als fportlide Teilnahme und
religidfe Weiheftimmung.
Sind da find wir am entfheidenden
Puntte: Sin wohlgewadhfenes junges
Weib wirft nadt auf den gelunden
Mann, der nidt mit intellektuellen
Hemmungen belaſtet ift, finnlid rei»
zend, folange nidt das Nadtgebn zu
jeder Zeit und bei beiden Gejdledtern
Regel geworden ift, d. h. folange wir
nit unter den Standpunft der Gries
Hen auf den der Auftralneger und der
afrifanifdhen Zwergpölfer Binabfteigen.
Das aber fommt nicht ernftlid in Bee
tradt.
Nun höre id fhon den Sinwand: &8
ift ja gar nidt nötig, daß die Gee
Ihledter gemeinfam MNactfultur
betreiben. Nein, nötig ift es allerdings
nicht, aber unvermeidlich, feit unter dem
fegensreiden Einfluß ungehemmter
Aufflärung die Schranfen zwifchen
Mann und Weib im Red, in der Ere
ziehbung, im Beruf und in der Gefell-
Ihaft bis auf fimmerlide Refte ge
fallen find. Dah es wirflid zu fpat
ift, bier noch geihwind eine Schranke
zwiſchen den Gefdledtern aufguridten,
ift leicht zu ertwoeifen mit den Jugend»
bünden freierer Richtung, bei denen gee
meinfames Baden (im „Lichtfleid“,
ein pradhtpoller Ausdrud für erheu-
@elte feelifhe Reinheit) auf AWande-
tungen eine felbftverftandlide Sade
ift. Sreilih fühlen fie fih meiſtens
ihrer paradiefiiden Naturfindlidfeit
nicht fo ganz fider: wenn ein Ynbe-
rufener fommt, fudt man dod lieber
Dedung gegen Sit — der unanfedte
bare Deweis dafür, daß im nadten
Beifammenfein der Sefdledter etwas
im Spiel ift, deffen man fich ſchämt, foe
bald die Natur, durch einen unerware
teten LUeberfall ertappt, fi nidt Hin»
ter Hodtrabenden Bernunfterwägungen
gu berfteden Zeit bat.
G38 hilft nichts. Wie bei jeder Grage,
bie den Menfden gum Segenftand
pone e3 fid) aud) bei Der Grage be
adtfultur nidt darum, ob fie gut, ge
fund, niiglid fei oder nicht, fondern ob
wir, die Menfden, Danagd
find. fie gu löfen {Ind da eben
liegt der Kmüttel beim Hund. AUnfre
abgehette Oroßſtadtbevölkerung aller
Stände, unraftig, überladen mit Reis
zen, unberdauliden ®edanfen, nad
@iften bHungrig, von fdleidenden
Krankheiten angefreffen und aller gee
wadhfenen Wdtung por Gitte, Gefeg,
Ueberlieferung entwöhnt, giert vor
allem andern nab SGenfation
Hätten wir nur mit elementaren
Ausbrüden gefdledhtlider Genußgier
qu rednen, wie fie der frühe Griede
nnte, wie wir fie bei den Naturpöl»
fern treffen, fo braudten wir nidt zu
erfdreden; aber die Genfation ift das
Gurrogat des zeugungsunluftigen und
sunfabigen Geſchlechts, das fid gerade
nod bis gum Nervenrauſch fiteln
laffen mag, aber zu mehr nidt, das
aber dieſes Nervenrauſches fo krankhaft
bedarf wie der Worphiniſt ſeiner
Spritze. Was die meiſten Anhänger
der Nadtkultur in ihr fuden, iff die
Genfation, fo fider wie ihre literari-
den und vereinsmäßigen Berfedter
allermeift zu dem Tppus des Refor-
mers gehören, jener Sorte Menfden,
bie irgendeine allein feligmadende
Heilswahrheit ausgebrütet Haben und
nun bon der Welt erwarten, daß fie
fid ſchleunigſt ne dem neuen Rates
chismus verbeffern laffe.
Nein, ih Habe feine Ang ft por dem
Belhlehtlihen, Ih würde por einem
Bachanal nit erihreden, dag mit
einer allgemeinen Bereinigung der Gee
Ihlehter endete, wenn — dieſes Zeft
nidt pon Menfchen gefeiert wird, die
in Berlin WO. Aderftr. 342 U. drei
Treppen hinten, oder in SHalenfee im
Sigenheim wohnen; genau fo, wie id
feine Angft vor der Straffreiheit der
griehifhen Liebe hatte, wenn — wir
nod die Menfden danad wären. Aber
wir feiern feine Badanale mehr, fon-
dern faufen uns dide Bücher über bie
fezuelle Grage (die gar feine ift), über
den „Eros inverfus", über Nadtkultur
und über das, was der junge Mann
oder bas junge Mädchen vor der She
wiffen muß.
Ih beftreite nicht, daß ein erlefener
Menfdenfreis geiftige Zucht genug
aufbringen fann, nadt Sport zu
treiben, wenn er dazu Luft bat, aber
das bleibt Dann eine innere Angelegen«
beit weniger und folder, bie feine Nei-
ung haben werden, eine edle Zeier-
an zur allgemeinen Nadhaffung in
© Delt Hinausgupofaunen.
“Wer an einem Beifpiel See oe
was id) meine, Iefe das Bud „DO
pon ©ertrud Prellwit*. 3 eae eine
Zeitlang, namentlich bei jungen Mäd-
chen, fo etwas wie das Spangelium der
neuen @efdledter nad freideutichem
Wufter. Den Sipfel des fonft belang-
Iofen Sächelchens bildet der Auftritt,
too die Heldin mit dem Dingling, der
fie liebt und der im Orunde ein wiſſen⸗
der Großftadtjiunge ift, nah einer
Sabhrt hHüllenlos im Waldbach badet
und wo fid der Junge jubelnd zuflü-
ftert: „Ich fann es, id fann es ...
ndmlid fie fehn, ohne ihrer gu begeh-
ren. Sawobl, ein Mädchen wie diefe
Drude, aus einem religids verftiegenen
Menidentreis ertwwadjen, und Der
fiinftlid zu einer romantifd-fipliden
Watur guriidgepappelte OGOroßſtadtjun⸗
e, die „können“ möglicherweiſe eine
olde Szene aufführen, aber daß dies
fe8 Bud für das Spangelium einer
natürliden Sittlichfeit geaddtet werden
fonnte, verrät bie moralifhe Qungen-
füchtigfeit a ei N
mar Kußleb.
Lim bie Zukunft des Mannerdors
gefanges.
(Antwort auf eine Rundfrage.)
Qymicrfudungen, Die, wie Die Hier in
Stage ftehende, um Wefen und
Ziel wie um die Zufunft einer Gade
gehen, geraten zumeift in @efabr, an
der Srageftellung von vornherein zu
* Sieber diefes ſchlimme Wodebud
pgl. Heft 9 von 1922: „Warum id von
©ertrud Prellwibens ,Drude’ nur das
erite Kapitel lag.“
947
fheitern. Denn: faum zwei Mufifer
werden fid finden, die in ihrer inner»
ften fünftlerifden Heberzeugung in
Hinfidt auf den Männerhorgefang
übereinftimmten. Auf der einen Seite
falfder Stolz, auf der andern ebenjo
perfehrtes Gelbftbemuftiein: dem einen
ift nidt auszureden, daß diefes Sebiet
ein mufifaliih „münderes“ fei, dem
andern nicht einzureden, daß febr viel
au feiner Hebung gefdeben fünne, ohne
fein Wefen zu beeinträdtigen. Die
Golge ift, daß auf feinem andern See
biete ſich Schaffende und Nachſchaffende
fo verftändnislos, ja oft feindfelig ge»
genitberftehen, daß nirgend anderswo
fo viel ungehobene Schätze an Sefdafe
fenem bradjlliegen, daß in feinem andern
Bereih Her Runft fih fo zahlreiche
außer-, ja unfünftlerifhe Gefichtspunfte
eingeniftet haben, wie eben im Männer-
@orgefang.
Bertebri ift e8 Daber, hier rein finft-
lerifhe Theoreme zum Ausgangspuntt
der Srageftellung gu maden, ohne an
all das „Drum und Dran“ zu denfen,
ohne weldes eine Löfung der Hier por-
liegenden Fragen unmöglih ift. So
fommt e8 ja aud, daß immer und ime
mer ‘wieder Verbeſſerungsvorſchläge
erhoben, Umwälzungen geplant und
Rundfragen geftellt werden, ohne daß
ber Grfolg der Mühe entfprä de.
Stellen wir einmal rein hiſtoriſch feft:
der Männergefang ift bon jeher Anger
[egenheit eines Semeinfdaftsfinnes:
aus dem, die Grauenftimmen fernhal-
tenden, Rirdhengelang, aus dem Mei»
ftergefang, aus dem Goldaten-, dem
Studenten, dem Kurrendenlied, dem
Operndor, dem Belang der Greimau-
retlogen, der G®elelligfeitSpereine, der
paterlandifden, der TDurnbereine aus
der Zeit nad) den Befretungsfriegen
fließen feine Quellen. Im engften Zu⸗
fammenhang mit der politiihen See
{Hidte wie mit der Gntwidlung der
einheimifchen Literatur findet aud feine
eigene Blüte, fein Niedergang ftatt.
Damit ift eigentlid [hon das Widtigfte
gefagt, tas die Stage nad der Gin-
ftellung diefer mufifalifden Sondergat-
tung in unfere Zeit beantworten hilft:
erft unfern Gemeinfdafts{inn pflegen,
die Zerfplitterung in taufenderlet ge-
geneinanderftrebende Oruppen und
@riippden verhindern, die Sonderbün-
Delei, bie in fonderbaren Oegenſatz zur
Deutfhen Bereinsmeierei tritt, befet-
tigen.
548
Sind dann: fid deffen bewußt werden
und bleiben, daß rein mufifalifd ge-
Iproden, der Wannerdorgefang im
engften Sufammenbang mit dem Were
den unfres Bolfslieds, der Ballade
blieb. Aud die Berbindung mit allem
Zunftmäßigen fann nur gum Seile die»
nen, wie fie Damals dazu gedient bat:
Soldaten“, Jäger⸗, Wanders, See
mannglieder, und, tas unfere neuere
Zeit hingugebradt: die Poefie der Are
beit auf allen Gebieten: im Bergbau
(Bier nenne id den Dichter Otto Wohl-
gemut in Weftfalen, id nenne Heinrich
Rerih), im Berkehrsmefen (man lacht
Heute fon nicht mehr über des een
zer Honegger ,, Pacific). Was Fried
rid) Naumann entdedte: dre finftle-
tifhen Werte der neuen, angeblid fo
„unpoetifchen“ Zeit, haben Dichter wie
Engelke, DBröger, Lerih in Taten ume
geſetzt. Zum Teufel alfo mit den immer
und ewig aufgewärmten „Lyrismen“
der Baumbadhepode. Regt Diele Did-
ter, wenn fie, wie Engellke nidt don
tot und veridollen, an, Texte gu fdaf-
fen. Regt die junge Mufilergeneration
an, für die BolfSgefamtheit anftatt für
Snobiftengirfel zu fdreiben. Zieht Die
Sugendfingebewegung in Suren Kreis.
Damit bannt Ihr falfd angebradten
Düntel, Helft jenen, hebt Guern finft-
lerifhen Bereich und dient dem wahren
Fortſchritt.
Damit ſind wir auf dem gefährlichen
Gebiete der „praktiſchen Reformen“:
Setzt Preiſe aus für Werke, nicht für
Prunkſingen. Ihr unterdrückt damit
jene leidige Sucht Einzelner, ſeien es
nun Dirigenten oder Vereine, die eigene
Perſon anftatt der Sache in den Bore
dergrund zu fdieben. Ihr unterbindet
die bon allen SKennern und edten
Sreunden Gurer Kunft pon je beflagter
Mißftände im eignen Haus: Drill ftatt
fünftlerifher Grgiehung, Kleben an
einem armfeligen, auf wenige ,, Parades
ftüde“ beſchränkten Repertoire, bas gue
dem nicht immer muſikaliſcher Bewer-
tung ftandhält. Ihr fest der Siferfiid-
telet unter einander Schranken, dem
Hervordrangen eigennithiger Inter⸗
effen, fet e8 nun der Bereine, ihrer Lei—⸗
ter, der Berleger oder suguterlept der
Ridter, unter denen fid immer einzelne
„Ihwarze Schafe“ finden werden. Das
| das Dhr an foftbare, zum
„Schmud“ der Bereinsglasihränte dies
nende „Preife“ wendet, legt e8 an, um,
meinetivegen zum höheren Ruhme des
Bereins zu fhaffende neue Werke im
Wettbewerb entftehen zu helfen. Die
Zeit, die Ihr für Reifen, für Borpro-
ben au Sängerfeften willig aufbringt,
wendet fie an, um Ausihau in der Li⸗
teratur der DPergangenheit wie der
Sebtzeit zu halten.
Mind dann: forgt für „Niveau“ aud
in äußerer PBeziehung. Das Heißt:
nehmt Gud nur wirflid ausgebildete,
mufilalifh ernft zu ſchätzende Dirigen-
ten, feine „Induftrieritter“. Die Ihr
aber gewählt, bezahlt fie würdig, adtet
ihr Können, ehrt die Kunft in ihnen
als Menſchen. Zwingt fie nidt zu auf-
reibenden „Nahfigungen bzw. Nacht»
figungen“, die aus dem „Menſchlichen“
{eit das „Allzumenſchliche“‘“ werden
laffen. Laft fie e8 nicht entgelten, wenn
der Berein einmal „fehlgefungen“; ihr
madt fonft aus ihnen jämmerlide
Streber und Schmaroter der ,,Ronjunt-
tur“. Was Ihr an Reifen gelpart, ver-
wendet e3, um Werle mit begleitendem
Ordefter anzuſchaffen und porzutragen.
Seid nicht zu ftolz, aud einmal in gee
mifhten Chören mitzuwirken, wenn es
gilt, große Meifterwerfe aufzuführen.
Aid Hier wieder bat die perlönliche
Sitelfeit dem fünftlerifden Oewiſſen
Plab zu maden.
Sorgt dafür, daß in Heineren Orten
die Sonderbünbelei aufhbre: lieber ein
großer, leiftungsfähiger Berein, Der
imftande ift, fid einen angefehenen Di»
tigenten zu halten, als viele fleine, die
am Boden herumkrebſen. Stellt den
Shorleiterberuf unter ftaatlide Auf»
fidt: es darf nidt porfommen, daß es
folhde gibt, die weder eine Partitur
nod) einen Klapvieraudzug zu fpielen
vermögen, folde, deren geiftige Wus-
bifdung (von der gefellidaftliden zu
Idyweigen) feiner Nadpriifung ftand-
Halt. Aber aud die Vereine follten ge»
tihtlih eingetragen werden, um aud)
„ehrengerihtlih“ gefaßt werden zu
nnen.
Das ift ein Riefenwunfdzettel, den
Ihr erft gu erfüllen habt, bepor Ihr
daran geben dürft, nad den Sternen
u greifen. Daf Ihr jedod fo viele
Ofliehten haben follt, müßte Gud nidt
allein das Oewiſſen fdarfen, fondern
vielmehr das freudige Gefühl weden:
Stellung verpflichtet. Und die Sure ift
ob genug: aus dem Semein{dafts-
inne berborgegangen, babt Ihr den
neuen @emeinidaftsfinn zu weden.
Ans Bell Hermann Unger.
Reffings Nathan in Hannober.
a) ganze gebildete Liberale Deutſch⸗
land blidte mit Schmerz auf Han-
mover, wo bas finftere Mittelalter aus-
gebroden war. Dort rang ein einfa-
mer Wann von überragender Seiftes-
rdfe, ein Hodfdhullehrer, um Die
abrung feiner Gewiffens- und Lehr-
freiheit, umbrandet pom Oetöſe völ-
kiſcher Ritpeleien. Nur weil er Jude,
ae und Republifaner war, weil
er im freien Deutfchland feine freie und
ehrlihe Uebergeugung vertrat, wagten
es frebe und verhebte Liimmel, ihn
aus dem Amte verdrängen zu wollen.
Hugenberg zahlte Hilfsgelder, um Die
nationaliftifhen Radaubrüder die Seu-
be der Verhetzung aud nod nad
DBraunfchweig verfdleppen zu laſſen;
die Stadt, die Hodfdullehrer widen
Dem brutalen Terror. Aber der gütige
Martyrer, wiewohl verzehrt pon Gram
über mifbraudte Sugend, befaß aud
die würdige Strenge geiftiger Oewiſ⸗
fenbaftigfeit: er blieb. Mit feiner
Standbhaftigfeit war er zum Dorlämp-
fer der Geiftesfreibeit geworden; ihm
beiguftehen, hieß für Wahrheit, Oe—
redtigfeit und ftaatlide Ordnung ein»
treten. Gndlid — weldes Aufatmen!
— begriff der Staat, daß Hier ebenfo
die edlen @iiter der fulturellen Gre
rungen{daften, für die ein GFidte, ein
Arndt gelitten, wie Das Gefiige Der
ftaatliden Ordnung von ungeijtigen,
barbarijhen Glementeh bedroht feien,
und der KRultusminifter ftellte mit ern-
fter Feftigfeit Greibeit und Ordnung
wieder ber.
So mag fid der „Tall effing’ im
Kopfe derer malen, die fi gern nad
ruſſiſchem Borbild die „Intelligenz“
nennen. Sie glauben einen Menfden
pon warmer und weifer Menfdlidfeit,
einen Greigeift mit dem überlegenen
Wis feiner Raffe zu fehen, einen wei«
fen Nathan, der inmitten des ungeifti«
gen Rudels larmender Blondlinge den
ewigen Kampf höherer Menfchlichkeit
führt.
Es ift [eit genug, diefe fogenannte
Intelligeng, bie fid auf ihre geiftige
SInabhängigfeit etwas gu gute hält,
gründlih zu nasführen. Ihre Litera-
riide ©efräßigfeit in Verbindung mit
ihrer Snftinftlofigfeit läßt fie immer
auf irgendeinen Leim frieden; fie ver-
bringt ihr Leben auf Gliegentiiten:
549
Das ift e8, as fie ein bom ®eift be»
ftimmtes Sdidfal nennt.
Sreilih, Daß nidt Hugenberg, fone
dern die Studenten die Fahrt nad
Braunfhweig bezahlt Haben, drei
Warf auf den Kopf, zwei Warf adt-
gig für Die Gahrt und zwanzig Pfen-
nige als Steuer für unbemittelte Teil-
nehmer, fonnte die „Intelligenz“ nicht
wiffen; in ihrem Welttafeblatt F hatte ja
nur geftanden, daß ein Schaffner —
der Sewdhrsmann des Welttäfeblattes
— die Koften auf fedstaufend Mark
hätte —, wer anders als Hugenberg
fonnte Diefe Summe bezahlt Haben?
Lind der Nummer, in welder der Gere
lauf der Stubentendemonitration ge
fhildert war, entfann man fid nidt
mehr; wenn man immer pon Rüpe»
leien, Terror und brutalen ®ewalt-
alten las, fo war e8 wohl firdterlid
zugegangen. Und daß wir in eine Ore
ganifation [heinbaren Redtes fo
jämmerlih verfilgt find, daß jede
Wahrnehmung natirlider Redte
als gewalttätige Störung der Ordnung
erfdeint, und daß diefe „Ordnung“ der
®üter hödftes nidt ift, daß ihr Brud
bas Offenbarwerden natirlider Ord-
nungen erft ermöglidt —, dies zu ere
fennen, müßte man freilich mehr gei-
ftige Sreiheit befiten, alg fie unfern
„freien G©eiftern“ eignet, die fo Hart
verihwören, feine Spießbürger zu fein,
und das Eleinbiirgerlide Fett nicht
mehr gewahren, das ihre abonnierte
„Anabhängigkeit“ angefebt hat, feitdem
ihnen Ullftein und Moffe die geiftige
GSelbftändigfeit ing Haus Tiefern. Go
leben fie alle Sage ihrer modernen
Weltanſchauung, welde die gedadten
Berlage achtzehnhundertachtzig — bil-
liger Bezugsquellen fundig — beim
Althandler und aus der Konkursmaſſe
bes bürgerlichen Viberalismus wohlfeil
erworben haben
Die techniſche gochſchule in Hanno⸗
ver bat, um der Einſeitigkeit nur fach⸗
fiher Ausbildung entgegenzumirten,
einen Lehrftubl für allgemeingeiftige
Sntereffen. Go begrüßenswert diefe
Ginridtung ift, fo ſchwer mag ed fein,
für fie den geeigneten Wann gu finden.
Gr foll fein Spezialift auf irgendeinem
geiftesiniffenfdaftliden Gebiete fein; er
muß, da der Befud feiner Dorträge
nicht pflidtmafig ift, feine Hörer durd
Die Anziehungskraft feiner Perfonlid-
feit gewinnen; er wird mehr als An»
reger denn als planvoller Bildner wire
550
fen können. Das alles birgt die Ge
fahr in fid, daß ein Mann mit viele
feifigem, aber ungriinblidem Wiffen,
ein intereffanter, aber feidter Plau-
derer fid am Ieidteften zu fo
Amte findet, bas dann leicht gegenüber
den fadliden Lehrfadern auf Die feu-
illetoniſtiſche Ebene herabſinkt. Aber
gerade bas madt die Wirkſamkeit zu⸗
ſchanden, welde Ddiefer Lehrauftrag
Dem Dozenten ermögliden foll: feine
Aufgabe müßte e8 fein, den jungen
Menihen, deren Stand als Trager
unfrer tednifden Zipilifation eine
immer toadfende Bedeutung im Volks⸗
gefüge haben wird und denen ihr Be»
rufsftudium nur intelleftuelle Gadlide
feit anergiehen fann, feelifde
Werte ins Leben mritgugeben, fie in
Berührung mit den ethifden und gei«
ftigen @rundfraften ihres Bolles zu
bringen, wie fie in den großen Seftal-
ten und Greigniffen unfrer ®eihichte
fid geoffenbart haben.
Der ganze Streit dreht fih darum,
ob Leffing zu diefer Aufgabe befähigt
tft —, und wir nennen das eine Deute
{de Schande, Daß diefer Streit über»
haupt nötig tft, und daß er den Kul⸗
tusminifter endgültig auf der Seite der
Berteidiger Leffings zeigt.
G8 begann damit, daß Leffing in
dem deutidfeindliden , Prager Tage»
blatt“ vor den Augen Des ringenden
©Orenzdeutfhtumg eine Rede Hinden-
burgs in entftellter Gorm mwieder-
gab. Hindenburg, den Leffing einen
„treuen Dernhardiner“ nennt, Der
nur fo lange ber ,brabe Hort und
Schirm“ fei, als ein fluger Menfd
ibm in fetne Dienfte fpanne und appor-
tieren lehre, hatte gefagt: ,,Deutide
land Hod in Ehren, fo will idh’s
toiederfehen bon dort oben.“ Lefe
fing madte daraus einen Einmarſch in
Paris, den Hindenburg für die nadfte
®Seneration in Ausfidt ftelle. Dabei
muß man im Auge bebalten, daß —
warum weiß feiner — die Borftellung,
daß Deutfhland mit dem kriegeriſchen
Stanfreih nod) einmal die Klingen
freuze, bei allen guten Guropdern als
unfagbar fdandlid und ausgemadt
gemein gilt. Der hannöverſche Patri
ard) redjtfertigte Die vertaufchten Sage
Damit, daß es fein gutes Redt als
Scriftfteller fei, um den beablidtigten
Erfolg herbeizuführen, von der Dirk»
Iichteit abgumeiden und Gindriide zu
fombinieren.
Aber eS Handelt fid Dabei nit um
eine politiihde Stellungnahme, fondern
um einen allgemein menfdliden Drang
zum Niedrigen Hin, der bei Männern
pom Sdlage Leffings in aller hoch⸗
fliegenden Ideologie wirffam bleibt.
Die nächſte Senfation bes Hochſchul⸗
[ehrers war denn aud feine ——
erftattung im Haarmann⸗Prozeß, we⸗
gen deren Unſachlichkeit ihm bie Preffe-
= entzogen wurde. Gin Bud mit
dem ſchönen Titel: ,Haarmann, die
SGefdhidte eines aoe blieb er
uns doch nicht ſchuldi
Die Studentenkhaft“ atte nun ge
Tug bon ihm und aud der Minifter
Drobte mit GEntgiehung des Lehrauf-
trages, aber Lelling blieb, jeder Zoll
ein Borlämpfer für Sewiffens- und
Lehrfreiheit.
Das ift bie Borgefhichte; bis Dahin
Batte Leffing nod wenig Perteidiger
gefunden. Srft als die Studentenfchaft
zur Selbfthilfe griff, wurde Nathan
der Weife in Dem zweifelhaften
Seuilletoniften entdedt. Aud nicht auf
einmal. Während das Berliner Tage
blatt furdtlos für Leffings Seiftesfrei-
Heit eintrat, gauderte die Frankfurter
Zeitung, fich einem ſo fragwürdigen
Bundesgenoſſen a ete Sie
fonnte nidt unthin, das pbilofophifde
Hauptwert Leffings, deffen , weidlide
Lnfabigfeit™ Thomas Wann Thon vor
em Kriege dem „alternden Nidts-
mth” porgetporfen hatte, als difettan-
tiſch und zuchtlos abzulehnen, fie rüdte
aud) bon der BPerfonlidfeit Leffings
ab, der ihrem fultivierteren und adt-
fameren Leferfreis aus den gablreiden
Peinlidfeiten befannt fein dürfte, Die
por dem Kriege fdon feine Laufbahn
verzierten. Gor allem aber ließ fid
eben die Yeberzeugung, Die geiftige
Idee, für die Leffing angeblid Litt,
nidt auffinden. Ihm eignet nur jener
feuilletoniftifhe Liberalismus, der im
runde unpolitiih tft und von den
Serualproblemen bis zum ftaatliden
und gefdidtliden Sefdehen mit wei-
nerliher Menfhlihleit und einer
zwanghaften Vorliebe für das Anril-
@ige alles befchmiert, was er anfaßt.
Profeffor Hans Driefh nennt Leffing
zwar im B.S. „Den Rulturphilofophen
unfrer Zeit. Seit Schopenhauer und
Nietzſche fei feinesgleiden nidt dage-
wefen. Herr Profelfor Driefdh verfteht
aber wohl unter Kultur wie unter
Philoſophie etwas anderes als mir.
Da Haben wir bret Auffähe unfres
weifen Nathan. In einem malt er fid
aus, Daß er einer fünfundpierzigjäh-
rigen Stau Plutusfohn den Hof made,
Dingegeben an ihrem Antlib feftge-
faugt, und die Stirnlode dämoniſch zu⸗
redtgelegt, bis fie „jugendlih aufge»
fidert bie ſchwärmeriſche Hingeriffen-
beit des fehnfudtstranfen Künftlers
erwidert. Endlich ſchenkt fie ihm zwan⸗
gig Warf, die er einftedt. Dann wen-
Det er feine patriardalifhe Phantafie
einem fiebzehnjährigen blonden Arbei⸗
termaddden mit ,flaren, arglofen
Sternaugen” zu, und weiß gar zum
Sdluffe mit „wehem Schmerze“ in gare
ter Rührung zu maden.
Der zweite Aufſatz ift aus demfel-
ben ®eifte feuilletoniftifder een
geboren; nur Haftigt er fic ftatt
mit Der tulturpbilotepeiiden Sezuali»
tat des Patriarden mit Hindenburg.
Da ift er mit feiner Geliebten Gan
bei der Befreiungsfeier in Köln. A
Ganch eröffnet ihm, daß bie „ftarre
Maffe in Uniform“ gar nidt Hinden-
burg fei, Der in Berlin penne, fondern
eine Shmbolfigur aus ihres Papas
Repräfentantenfabrif. Dergleiden
braudten die Staaten zu ihrer Dare
ftellung. „Mein Bunge, wenn man (bei
einer foldhen Symbolfigur) links unten
drüdt, dann tönen aus dem Wunde
Die warmen paterlandifmen Worte:
„Heimatfholle; Alle für Einen; Hel-
denbruft”; drüdt man redts oben,
dann ſpricht die Symbolfigur interna-
tional: „die beiligften ®üter Paneuro-
pas; Fortſchritt; Menſchheit; Kulture
entwidlung.” Driidft du gegen Die
Leber, fo wird die Shmbolfigur fenti-
mentalif®: „Zieferfhüttert; unaus-
löſchliches Angedenfen; Beileid aus
tiefftem Herzen.“ ... „ine ridtige
Spmbolfigur muß did fein, zwei Meter
groß und Wulfte im aden haben,
... eine gute Illuſionsfaſſade haben,
nicht grübeln, nidt philofophieren, fon-
nn fefte dafigen und Baterland dar»
en.“
So fibt Nathan der Weife fefte in
Hannover, wo ihn niemand haben will,
pbhilofophiert und ftellt Kultur Dar.
Kleinere Blatter legen fid ſolche Kul-
turphilofophie für den Sommer Bin,
Profeſſor Driefh gleih für bas Jahre
hundert.
Genug? Noch lange nicht. Während
des Konflikts erſchien der vorige Auf⸗
fag im „Prager Tageblatt“, egen
551
im „Vorwärts“ ein Geuilleton Lef-
fings über feine Blumen, in dem unfer
Nathan fi der Freundſchafi Oottes ver⸗
ſichert halt. Gr fühlt ſich hier als So—
krates, aber demütig beugt er ſich den
Blumen, die nidts von dem Logos und
Sthos feiner geiftigen Kämpfe wiffen;
Demütig ftreichelt er Blüte und Blatt:
„Blumen, verzeiht ung!“ —
Manden fommen dabei Tränen, ande»
ren anderes Hod.
Man fage nidt, daß das Private
auffabe feien, die bei der Bewertung
des Hochſchullehrers außer Anfag Ble
ben dürften; e8 ift bas Menſchen⸗
tum, das hier unerträglich ift. Nicht
alg Republifaner und Gogialift, als
Perfonlidfleit darf Leffing feiner Ala-
demie zugemutet werden. Gin Kultur»
philofoph, deffen Aufgabe gerade das
Seingefühl für feelifhe Werte erfor
dert, Darf nidt fo geringes menfdli-
hes Sormat haben. Der Lehrauftrag,
deifen Gntgiehung DBeder felbft anger
droht Hatte, gilt ihm jest als unent-
giehbar; Leffing erhält als Entſchädi—
gung für feinen Bergidt einen Gor-
ſchungsauftrag: alfo fefte Befolbung
eines Seuilletoniften, weil er fid
öffentlih unmöglih gemadt bat.
Man fann es der Frankfurter Zei⸗
tung nadempfinden, daß fie fid in fol-
der Berbindung nidt fo wohl fühlt
wie Herr Profelfor Driefh. Sie fann
nicht einmal für effing als Suden ein-
treten. Denn er, der Heute als verfolg-
ter Sude zum Märtyrer gemadt wird,
ift wie ein ſchlechter Feuilletonift, fo
aud ein ſchlechter Jude. Zwiſchendurch
war er einmal Chriſt; als folder griff
er Samuel Lublinsfi, den Kritiker der
damaligen dramatifhen Moderne, mit
folgenden ,,antifemitifden NRüpeleien“
an: „Samuel heißt da8 fleine Zalmüd-
den, an hohen Gefttagen bat ihn wohl
feine ältere Schwefter einmal gewa-
fhen. Auf ein paar furgen Beinen ein
fettes Spnagöglein aber das
Männlein maufdelt fid gar naib ins
Zimmer und läßt Wortwiirmlein fal-
len. Und maufdelt mit den Beinen
und beißt Samuel Lublinsfi und
fommt aus Binne in Bofen.“
Das alles erzählen wir nicht Lef-
fings wegen. Nicht um die Intelligenz
aufzuflären. Sondernmweildeut-
Ihe Studenten, Die Diefen
Mannni@talsibren Lehrer
dDulbenwmollen, relegiert und
mit dem Staatsanwalt bee
992
dDrobtwordenfind. Weil diefer
Mann mit den WMitteIn ber
StaatSautorität verteidigt
wird. Weil Herr Beder, ber „aus
Sründen der Staatsautorität" © hi il»
lings friftlos entließ und
„aus Gründen der Staatsautorität“
Theodor Leffing Halt, nod
immer Kultusminifter iſt. Obwohl er
niht weiß, was Staatsautoritat ift,
fondern fie mit feinem perfönliden
Preftige verwedfelt. Das aber ift
nun wirllid nidt mehr au retten. An
Kultusminifter Beder ift Schilling gee
radt; wer den Künftler verrät,
an dem bleibt der Veffing RT
Der Zall Hauptmann.
G* gibt gar feinen Gall ©erbart
Hauptmann namlid; es gibt nur
einen Gall Didterafademie. Und im
Dielen hat Hauptmann — es mag gleid
gefjagt fein — eine höchſt erfreuliche
Klärung gebradt. Alles Drum und
Dran von Alnterredungen, Schriftwech⸗
feln, Mifverftandniffen ift bodenlos
gleihgültig und langweilig — es Bane
delt fid nur um die Gade, Und zu ihr
muß dies gelagt werben:
Afademien der Wiffenfdaften find
böhft notwendig Es gibt gemwilfe
große gelehrte Unternehmungen, die
nur eine Vielzahl von Arbeitern be-
wältigen kann — Beifpiele find un«
nötig. Man wendet wohl ein, die Ala-
demien feien nidt ſchöpferiſch. Sang
ridtig. Dann müßte man aber aud
alle Behörden, Schulen, Inftitute ein-
gebn laffen. Schöpferiich ift immer nur
einzelne @eift, die Cinridtang
IHafft ihm die bequemen Hilfsmittel
und Mitarbeiter; der eine ſchöpft, und
die andern bilden Kette, Durd die der
Gimer mweiterläuft, die Gabe verteilt
wird und frudten Tann.
Zweifelhafter fteht e3 [don um die
Alademien der Künfte. Wer das Olid
gehabt bat, Hermann Grimms Schüler
gewefen zu fein, erinnert fid) mit Bere
gnügen der lädelnden Stepfis, mit der
et bon ihnen [prad. Immerhin: hinter
diefen Atademien fteht eine Anzahl
großer Lebranftalten — tmann
hat das ja hervorgehoben — und aus
der organifmen DVerbundenheit mit
ihnen rechtfertigt fid die afademifde
ziftenz
tun — die Didter-Afademie? FH
Habe immer im ©egenfab zur {dnell-
fertigen Abftempelung der Vielguvielen
GSrnft von Wildenbrud für einen Dich"
ter bon großer, wenn aud nidt lester
pon vorbildlidem, heiſchendem
ali8mus gehalten — feinem immer wie»
der umrungenem Plan einer Dichter-
afademie aber permodte id nie zu fol»
gen, er war ein Suftbau.
Was foll eine folhe Afademie? Un⸗
terftiipungen geben oder befürworten?
Das ift feine alademifche Aufgabe. Das
zu ift die Sdiller-Stiftung da. Sie Hat
ihr Kapital verloren, und wenn Reid
und Länder Nittel haben follten, ihr
aufgubelfen, werden fie ein gutes Werf
tun, indem fie diefe Mittel nad Weis
mar geben.
Aber weitere „Aufgaben“. Preis-
perteilung. Aud Hier liegt wieder die
— ae DBerwedflung bon Wiffenfaft
unft vor. Gir die glattefte Lö-
fung eines mathematifden Problems,
Die reinlidfte Ausgabe eines verderbten
antifen Tezteslann man Preifeausfegen
und fie re va verteilen, aber bod
nidt fir Run e. Hat man an der
leidvollen Oeſchichte des preußifchen
Schillerpreifesnihtgenug? Der alteRai-
fer Hatte ihn in feinem tiefen Refpeft por
Der Weimarer LUeberlieferung geftiftet
— er ift in einem halben Jahrhundert
nur einmal fo vergeben worden, Daß der
Entfheid por der Nachwelt beftebt, an
Hebbel für die Nibelungen. Anfonften
waren e8 mehr oder minder Berlegen-
Heitsentideidungen. Sd Habe Roden-
bergs Tagebiider Surdgearbeitet und
weiß alfo aus den Aufzeihnungen
eines KRommiffionsmitglieds Befdeid;
aber man braudt ja nur Ouſtav Greh-
tags Grinnerungen zu lefen. Lauter
Herborragende Männer, aber das Ure
teil durh Zufall, Neigung, Ricfidt,
Rompromif ——— Politik lebt von
Rompromiffen, der Kunft gibt es
diefen Begriff — Go fam e ein⸗
mal dahin, daß die zwei ausgefproden
undramatifcheften deutiden Didter
Deutihlands, Klaus Groth und Theo⸗
dor Gontane, den für das befte Drama
ausgeichriebenen Preis belamen.
Und weiter? Soll die Dichterafade-
mie „Aufgaben ftellen“, wie etwa june
gen Arditeften aufgegeben wird, die
Antertunnelung einer Straße oder die
MUmbauung eines Plabes zu entwerfen?
Avenarius Hat einmal in den Tagen
des Naturalismus [ehr wibig gerufen:
Mins fehlt der Roman des Drofhlen-
36 Deutides Dollstum
futfhers! Soll ihn im „Bedarfsfall“
die Didterafademie von dem Wad-
wuchs (unter Umidlag mit Kennwort)
fordern und dann nad Oottſcheds Bore
bild eine Didterfrinung vornehmen?
Im Grnft: was fol bie Atademie?
Sie foll, Hören wir, den Dichter ein»
gliedern, ihn neben den bildenden
Rinftler, den Mufifer ftellen uf. Wo»
zu? Wilhelm Steinhaufen wurde über
fi ig, Kathe Kollwig mehr als fünf-
gig, bis die preufifhe Alabemie fie
aufnahm. Sind fie dDadurd mehr gee
— Der Stand fol in feinem ſo⸗
tal A — gehoben werden. Mit
laub: es gibt gar keinen Stand der
Dichter, es gibt nicht einmal einen
Schriftſtellerftand. Oildemeifſter, Licht»
wark. Schleich, Rathenau örten zu
den bedeutendſten und einflußreichſten
Schriftſtellern der letzten vierzig Jahre:
der eine war Senator, der zweite Mus
feumsdireftor, der dritte Arzt, Der
vierte Orofinduftrieller und dann Mi⸗
nifter, dem fogenannten Schriftſteller⸗
ftande Haben fie nidt angehört. Boll
ends aber, wo ift die fogiale Drage
bride für einen Didterftand? Stefan
Weorge und Heinrid Lerfh, Friedridh
Lienhard und Peter Altenberg — bil-
den fie eine ftandesmafige Semein-
{Haft irgendeiner Art? leberlaffen
wir dod foldhe Dinge den Franzoſen,
dann bleibt ihrer Akademie aud die
Blamage, Sola den Gintritt verwei-
gert und das brabe Mittelmaß, dag une
—— gefrint zu haben. Sit Dau⸗
dets HLöftliher Immortel ſchon gang
pergeffen?
®erhart Hauptmann Hat Redt und
dreimal Rect. Und auf dab das Gas
tprfpiel nicht fehle, wird ihm, der auf»
redt und gerade gehandelt und gef
hen hat, der Borwurf gemadt, er habe
der Autorität Hes neuen Staates
zuwider gehandelt. Dazu ein lettes
Dort. auptmann bat fid alsbald
nad) der Staatsummdlgung zur Repu⸗
blik befannt. Gr tat e8 ohne Nati
gung und obwohl er wußte, wie fehr er
Deshalb angefeindet werden würde. Hat
er Damit Das Recht zur Oppofition vere
ſcherzt? Gontane rühmt immer wieder
den ftolgen Widerfprud altpreußifcher
Monardiften gegen Regierung und
König als beifpielhaften Ausdrud un»
abbangiger @efinnung. Goll folde
Denlart und ihre Aeuferung gerade
dem unummwundenen Anhänger neuer
Staatsform verwehrt fein? Nein, ge»
553
rade weil Hauptmann da fteht, wo er
den Platz nad feinem Gewiffen gewählt
bat, foll ihm fein offene Wort, die
Ablehnung einer als Auszeihnung ge-
meinten Berufung zu problematifdem
Swed gedankt fein — von denen, die
politifh anders denken, und erft recht
pon denen, die politifd ‘auf feinem Bo»
en n.
nd die Didterafademie ohne Sere
Hart Dann Ih Bitte um die
Erlaubnis, mit einem feinen franzöfi-
{den Wort [hließen zu dürfen, es ift
pon Alfred de Vigny: Geul le filence
eft grand, tout Te refte eft faibleffe.
Heinrid Spiero,
Budacihuung oder Sdhauwerl?
Mer muß died Thema ohne Black»
handſchuhe mit der bloßen Hand
anfaffen. Wir laffen Sarum alle darauf
begiiglide Literatur außer adt.
G3 ift bezeichnend, daß ef für „Bud
—— kein treffenderes Wort gibt.
er — dehnt hier lau und
allzu tolerant aus, wo er ſcharf und
unnadfidtig einengen follte. Wud das
Wort „Slluftration“ trifft nidt das
Wefentlide, weder in feiner Yeber-
fegung „Buchſchmuck“ nod in der Bee
Deutung, die es mittlerweile für das
Speasaetapl angenommen bat. Man⸗
geit e8 aber einem Worte an der ge-
anfliden Tragweite, fo ift in den mei-
ften Gallen fein Begriff frank. Hier
ift er es beftimmt.
Schon der Begriff ,geidnun
unflar und hart umitritten. Un
Wort „Buch“ bedeutet in unferer 3a
da ber alte ebrlide Satan aus Den
Giern des Jahrhunderts die vielen mo»
dernen Teufelden ausgebrütet bat, aud
nidt mehr das befte — in ge⸗
druckter Form, ſondern der papierne
Teufelsjunge fat mehr Unkraut in den
edlen Weizen der deutſchen Seele, als
uns lieb if.
Minter Zeihnung verftehe id
eine Ausdrudsform, für die der Künft«
ler nidt durdaus die Berantwortung
wie für ein mit feiner ganzen Perſön⸗
nn gededte8 Werf zu übernehmen
braudt. Gie gleidt dem, was der
Schriftfteller fid fo beim bloßen Hin-
erzählen notiert, und fährt dem Zeich⸗
ner fo aus dem Stift, ohne ap
irgendeinen Einfall vorher geftaltend
im Kopfe mit fid herumgetragen bätte,
Sie foftet ihm feine M Mühe und ift pom
Olid und Zufall abhängig. Das foll
554
nicht etwa befagen, Daß die Zeichnung
nidt wegen) pober — erif Werte
fein Tamm. r friſche
und ſchöne ass Sufälligteitde
ngen und mandes unfterblide
Kunftwert ging aus einer folden her⸗
por. Aber zu einem Werf wird die
Zeichnung erft dann, wenn der Kinftler
mit dem Können feiner ga gangen, bes
wußten Perfdnlidfeit Hinter Dem ge»
ar Einfall ftebt.
Se naddem, wie diefer ihn nun
Teitet, entfteht etwas Verantwort⸗
liches. Bringt er — bildlich gefproden
— Rhythmus und Reim in die Sladen
und Stride, um die Harmonie mit dem
Charakter des zei en Einfalls
pollfommen berzufte entftebt eine
Darftellungsart, für die man gewöhn«-
lid graphiſche Methoden bevorzugt. Die
©raphit ift die Schwefter der Poefie.
Seder Strid, jeder Puntt Hat auf der
Wagſchale des Klanggefühls gelegen,
ehe er im Kupfer oder auf dem Stein
sum Leben erwacht. Ein Fehlſtrich ge-
ia, um das ganze Blatt gu zerftören.
iepiel mehr Sorgfalt erfordert nun
diejenige zeihneriihe Darftellungsart,
die Begleiterin der Wortkunft fein foll.
Sie nimmt dann eine Stellung ein, wie
fie die Mufif oder dod mindeftens das
Ordefter bei der Oper inne Hat. In
Wirklichleit erfüllen aber die Buchzeich⸗
nungen — mit wenigen Ausnahmen —
diefen Swed nit. Wie felten erreiden
fie daß ihnen gewiefene Ziel, das bom
Dichter geſchaffene Seelenland mit dem
Olanze des Lichts und der Sonne zu
überftrahlen. Gin ſolches Wert fest
penal ae Kräfte der Anſchauung und
er reinen Ginfalt poraus. Schwerlid
wird? man duch die Begeidnung
„Buchzeichnung“ oder „Buhihmud“ an
fol ein Schaffen erinnert. Es fommt
ja auf „Buch“ oder „Schmud“ fo fehr
gar nidt an. Beide find nidt welent-
lider als die Diihnendeforation einer
Oper, die den äußeren Rahmen bes
dramatiihen Lebens bilden. Aber auf
da8 innerlide Schauen, das in
einem zeichnerifden Werf wiederge-
legt wurde, fommt e8 an. Das Wort
‚Shauwer! würde den Begriff
„Illuſtration“ unter Ausfheidung alles
Dertlofen uns aller Halbheiten eine
engen und pom Buchſchmuck unter-
ſcheiden.
Wie oft kann man feſtſtellen, daß ein
Gedichtband mit burdaus „unrhyth⸗
miſchen und ungereimten“ Zeichnungen
ausgeftattet ift. Trotzdem preift man fie
als fongenial. G8 fehlt dem modernen
Deutiden anfcheinend an Gefühl für
ibeelle Widerſpruchsloſigkeit auf diefem
©ebiet. Und wie felten find die wirk⸗
lid guten Schaumerfe für Profafhöp-
fungen. Man adte einmal darauf, wie
wenig die betreffenden Zeichner fid um
die Dreite und den Aufbau, mit Ber
das dichteriſche Werk angelegt ift, um
Eraählfluß und Geftaltungstyp fiim-
mern. Wan follte nur das Unmidglide
einmal erfennen und bedenfen, das in
der Zumutung Dep. Leg hingewor⸗
fene Skizzen als chbilder eines mit
Ber Liebe und Meiſterſchaft geſchaf⸗
fr Romans Tieb zu gewinnen.
Giner unferer wenigen großen Kön-
ner auf dem Gebiet der Schaumerfe,
Menzel, ervreicht in der Sefdidte
Sriedrihs des Großen allermeift die
Gollfommenheit. Und wenn er für died
Dud weiter nidts gefdaffen hätte als
die verbundene Hand, Die in ben ge
erten Handihuh fteigt, fo wäre
on mit diefem einzigen Werf Boll-
fommenes erreidt.
Wir find verfudt, dies glidlide Zus
faffen Menzels davauf zurüdzuführen,
daß er sid bewußt rein hält pon dem
finftlerifden „A la mode⸗Weſen“ der
neueren Zeit. Gr Tehrt fidtlid die
welſche Formen⸗ und Farbenf{prade
ab, die die Runftausibung und den
Runftgenuß von dem Grlernen jener
bildnerifden Fremdſprache abhängig
madt, und redet gut deutſch mit Stift
und Pinfel. Der Deutide ift einwwendig
und bat auf die Dauer fein Sefallen
an bloßem, wenn aud) dielleidt {din
flingendem OGeſchwätz. Das Gegen»
ſtändliche ift ihm zu aller Zeit Grund-
lage feiner Kunft gewefen, an dem fid
das „Wie“ emporranft. Und fo wird
e8 aud in Zukunft fein. Trob der ber
— Spargelbundtheorie wird es fo
n!
Das „Was“ ift aber aud der Rare
Dinalpunlt der Schauwerfe. Und fo-
lange da8 Grangdfeln in der bildenden
Aunft nit bet uns abgemwirtfchaftet
bat, wir Deutfche aud arm an
ollen Schaumerfen bleiben.
Stdde Biehl
Zidde Diehl.
Ye Fidde Diehl mit adt Jahren
nad der Watur zu geidmen bee
gann, war nicht eingufeben, woher der
Sunge bas Hatte. Unter feinen oft
36°
bolfteinif{hen VBorfahren war niemand,
pon dem man gewußt hätte, daß er mit
{pegifiid fünftleriiden Neigungen bee
gabt gewefen wäre. Die Bererbung
gehört zu jenen merkwürdigen Natur«
gefeten, die manchmal ftimmen, mand-
mal aber nidt. In etliden Familien
ift die Sntfaltung einer Begabung auf
Das verblüffendfte zu verfolgen, in ane
dern aber — man denke an Hebbel —
ift pliglid, anfdeinend aus dem
Nits, eine ,nidt totgufriegende* Be⸗
abung da. Gidde Diehl Hat freilich
rt feine Neigung und Begabung in
Der Jugend nicht zu fampfen brauden,
man fieß ihn ruhig zeichnen. ur
fudte man verftändiger- und verant«-
wortliderweife das Angenehme mit
einem Wigliden gu verbinden, und fo
wurde er Lehrer auf irgendeinem Dorf.
Der Krieg warf den jungen Lehrer
und Zeichner aus der bürgerlichen Leo
bensbahn. Gr bat in der Sarde an
ber franzöfifhen Gront gefampft. Nad
dem Srieg fehrte er nicht in ein gee
fidertes Lehrerdafein zurüd, fondern
entſchloß fi, fein Leben an die Kunft
zumwagen. Gr wurde zunädft Schü-
ler bon Arthur Illies. Nad der Aus-
bildung Be Ole er, Illies' Rat fol»
end, auf Das Herumtreiben in den
unfthauptftädten des Reiches, begab
fid in die Stille und madte fid daran,
feine eigene Art Herausgubilden. Auf-
merffamfte Hingabe an die Natur, Bee
ſchränkung auf das ihm Semafe, une
verzagte Selbftlritif brachten ihn vor⸗
wärts und werden ihn Hoffentlich zu
einem guten Ziele führen. Gine f alge
fünftlerifhe Selbfterziehung nötigt bas
zu, fi immerfort vor fid felbft Ree
haft zu geben. Dadurd fommt
eine gewiffe Bewußtheit und Willens-
baftigfeit in die Runft, was ja durd-
aus dem niederfadfifden und befon-
ders dem [dHleswig-holfteinifHen Wer
fen entipridt.
Die Bilder GFidde Biehls — er
wählt mit Borliebe ein faft quadra-
tifdes Gormat — zeigen eine gut
abgewogene Rompofition. Sn Der „zer-
a ic Hallig” Halten Land und Hime
mel einander die Wage, und der Priel,
der fchließlich in den Horizontalen, die
das Bild beberrfhhen, verläuft, ift fo
Dineingefegt,” daß man fühlt, Hier
„Frißt” das Waller ins Land hinein,
daß man aber über diefem Gingelbe-
gebnis nicht den Gindrud der ungebeu-
ren Deite verliert. Bet dem Nord-
555
— Kirchhof ragt der Grabſtein
mit dem Kreuz an einer im Bildgan⸗
vortrefflich gewählten Stelle auf,
o daß er die ſtark betonten Einzelhei⸗
ten aufammenhält. Gr unterbridt bie
Weite des Hintergrundes als das ein-
gige, Bas bon der Erde in den Himmel
ragt. So fudt Biehl daratteriftifjde
und ſymboliſch finnvolle Ausfchnitte
aus der Landihaft, durch die das
AN fen der Landidaft zum Ausdrud
mmt.
Außer Land{dhaftsbilbern malt Biehl
gern aud Bilder aus dem DHeimatli-
den BolfSleben mit darafteriftifden
@eftalten. Gr ftudiert die Köpfe der
Sriefen, Holften ufio. und bat eine
nze ae Angabl in Seidnungen feftge-
Aber die Bilder malt er dann
ea Modell, nah dem Seddadinis.
Die Beldhrantung auf beimatlide
Landſchaft und Heimatlides Bollstum
zeigt, daß der Maler fic) mit feiner
Kunſt eine Aufgabe, und zwar eine
nidt nur ane be, gelebt bat. Gr
bezeichnet fie felb „Die Seftal-
tung des — Menſchen und der
nordiſchen Landſchaft, wie ich ſie als
Nachkomme alter holſteiniſcher Bauern⸗
al eect fehe, erfenne und Liebe.“
ehl begann, ohne Schulung, eines
Sages mit Der Holzfhnigerei. Und
gerade in diefer ungelernten Kunft bat
er feither Borgiiglides geleiftet. De»
adtenswert ift, daß er fid in der Pla-
ftif auf das Holz befdrantt. ,,Bronge-
plaftif, überhaupt jede Oußplaſtik ift
mir wegen der zu großen Glaftizität
beim Schaffen zumider.“ Das ift edt
norddeutſch und wirft ein Licht auf die
Gorliebe deutfher Künftler für Das
Arbeiten in Hola (im Mittelalter o
Eichenholzl). Der Künftler braudt
Widerftand, er will aud in der
„Kunft” ein tidtiges Stüd fodrperli-
her, Ichweißtreibender „Arbeit“, ein
Schlagen und Stehen und Schneiden.
So vergidtet Biehl aud auf das Mor
dellieren in Ton, ebenfallS auf bie
Punttiermafdine. Gr nimmt fi den
Holgblod oder Die Solgtatel, bringt
feine Borftellung in ein Berhältnis zu
dem gegebenen Stüd Material und
Dann das Material in ein Verhältnis
gu feiner Borftellung. Gr gebt alfo
pon Anfang an mit feinem Werkzeu
aufs ®ange. de härter das Materi
defto {diner und erhabener das Gee
fühl, den Stoff zu weden.“ GEs ift alfo
int Widerftand, der die Schaffensluft
t.
Die plaftiide Arbeit Diehls ift nai-
ber als die malerifhe. Gr Sn im
ol3 weniger aus ber forgfamen
eberlegung als vielmehr unwillfirlid
aus dem Zaftgefühl. Diefe Wnmittel-
barfeit merft man der Arbeit an. Das
ausgezeichnete Relief, das wir abbil-
den, lohnt eine aufmerffame Betrad-
tung. Die Schniterei ift in ihrer dere
ben Art (die vorzüglich zu dem Wefen
Der dargeftellten Menfhen und des
Raumes paßt) gang aus dem grob-
maferigen Tannenholz entwidelt. Sehr
gut ift die Raumaufteilung: unten der
Slur, wo Bettler und Hund ihre Mahl»
eit einnehmen, oben bas ba nen.
eide verbunden burd die Treppe, bie
Durd) eine Kate belebt ift. &8 ift gotifde
Naivitat in dem Relief, und zugleich
„Tat“ alles, es ift feine Unbeholfen-
beit darin. — Als Beifpiel der Rund»
— zeigen wir den „Frieſen“ mit
einen mittelalterliden Waffen. Herr-
lich find Schädel und Sefidt auf dem
unterfegten Körper — edter Ausdrud
altfriefiihen Bollstums. In der Holz-
fniberei ift Biehl atweifellos dem
Ziel, Das er fic gelebt bat, nahe.
Dies aber, daß der Künftler nicht
nur „KRunft“, fondern mit feiner Runft
etwas will, daß er fic eine objettine
Aufgabe ftellt, ohne dabei bas Künft-
lerifde untritiid einer Tendenz zu
opfern, ift die innere Haltung, die wir
wieder allgemein erftreben miiffen. Ot.
Der Beobadhter
Künftlernotbhilfe
Immer wieder ruft man zur Unters
ftübung notleidender Künftler auf,
und 23 gibt feine „Kunſtſtadt“ von
irgendweldem Namen in Deutfdland,
die nicht ihre „Künftlernothilfe“ hätte,
996
Lienhard wirbt eben wieder im Tür»
mer für Die notleidenden Künftler.
Man follte Diefe Not aber nicht ifoliert,
fondern in ihrem Jufammenbang
betradten.
Sede “peutide Kunſthochſchule tweift
zur geit eine mehr oder weniger große
Zahl Schüler auf, deren weitaus größ-
ter Teil mit der un ftudiert, freier
Künftler zu werden, d. 5. frei pon je
dem anderen Beruf oder Handwerf.
Gbenfo hat jede deutſche Kunftftadt ihre
Künftlernothilfe, die troß aller Spen⸗
den an einem — Oeldmangel
leidet und kaum imftande iſt, den bee
fannten „Zropfen auf den heißen Stein“
abzugeben. Hier liegt ein Mißperhält«
nis vor. Ich glaube nicht, daß ein ge»
funder, nad] fener Menld im Deute
{den Reich heute pon borne Herein das
Redt auf Unterftigung hat, und eben»
fo hat niemand das Redt, einen Bee
tuf als Drotberuf zu ergreifen, bon dem
er mit einer Wabhrfdeinlidfeit pon
mehr als neunzia v. 9. annehmen
fann, daß er ihn nit ernähren wird,
fo daß ber, der ſolchen Beruf „er⸗
greift“, irgendeiner Gorm bon Wohltä⸗
tigfeit anheim- und damit der Allge-
meinbeit zur Laft fallen muß. Aud
pon einem Künftler fann man derlane
gen, Daß ‚er, fo lange er ein Menfd
ift, der Hunger und Durft Hat, in dem
Deutfdland bon 1926 lebt und nicht im
Lande Utopia. Im Deutſchland von
1926 aber, als in dem er nd nad)
der ‘Revolution von 1918, nad dem vere
forenen Krieg, nad) dem Griedenspere
trag bon Berfailles und nad der Ine
flation ift mit gang geringen
Ausnahmen fein Plab fir jemane
den, der bom Didten, bom Bilderma-
len, der bom Bildhauen leben will. Ves
des Dabrhundert Hat für feine Künft-
ler eine andere Lebensform. Die alte
Lebensform des „freien
Künftlers" paßtnihtmehrin
unfere heutige Zeit. Man muß
heute von jedem Künftler fordern, daß
er einen Brotberuf ergreift, bon dem er
unterftügungslos leben Tann; das ift
er der Allgemeinheit {huldig. Sft fein
Künftlertum unmiderftehlih und wirl-
lid groß, fo wird er aud neben feinem
ufe Runft fdaffen zu fonnen, und
zwar unbeeinflußt pom Publitum und
ohne daß feine Kunft nad Brot gw
gehen braucht. Dabei ift diefe Lebens-
form des Künftlers gar nidt fo befon-
Ders neu: Storm hat nicht von feinen
Novellen, fondern von feinem Amtsride-
tergebalt, und Wörike nicht von feinen
Sedidten, fondern von feinem Pfarrer-,
fpäter von feinem Lebrergehalt gelebt.
Stwas anderes freilid ift ein Reife»
ftipendium für SKünftler, und etwas
anderes i one die Unterftügung alter,
not! Künftler. Ribler.
NMeuesaus bem „goldenen
Sriedenslamm”.
Er kann das Wort nicht an ſich hal⸗
ten, der wackere alte Onkel Frie⸗
densgeneral: Wieder ſitzt er mitten in
der biedern und treuergebenen Demo⸗
fratenrunde im Lederfofa des „goldenen
— — ndem er mit der
auft auf den Tiſch Ichlägt, donnert der
tubmbededte Herero, fdladter® (fo
muß man ja wohl im Bazififtenjargon
fagen ?) durchs Lokal: „Alle Mann an
Die Urne!“
„Das hidfte Redt der Bolfsfouve-
ränität”“ ift für ihn der fogenannte
„Volksentſcheid“'. „Dieſes Redt foll
jegt zum erften Male feit Beftehen der
Republift ausgeübt werden. Da ge»
{Hieht da8 LUnglaublide, daß bie Yüh-
rer der realtinnären Parteien ihren
Parteigenoffen furgerhand die Zeil»
nahme an Abftimmung verbie»
ten und fie fo an der Ausübung ihres
höchſten verfaffungsmäßigen Staats-
bürgerrechts Hindern wollen. Auf
rechte Manner und Frauen werden fid
ja biefem berabwürdigenden Entmün-
digungsperfahren nit fügen, fondern
fie werden trop de8 Berbots der
Barteigrößen zur Urne geben. Nur
Knechtsnaturen finnen fi das Partei-
hängeſchloß vor dem Mund ig ge⸗
fallen laſſen.“
Der Intelligenz des ragenden
Pyrgos demotratifos fiel ed nicht bei,
daß man diefe Sage gang san ume
fehren fann, nämlid: ,,. eſchieht
das Anglaubliche. daß die pa sa Der
Serfepungsparteien ihren Parteige
noffen erden) Die Teilnahme an
der Abftimmung Befehlen und fie
fo der %reiheit ihres Hddften ver»
faffungsmäßigen Staatsbirgerredtes,
entweder Hingugebn oder nidt hinzu⸗
geben, berauben wollen. Uufredte
Männer und Srauen werden fid ja
diefem Herabwiirdigenden Entmündi⸗
gungsperfahren nicht fügen, fondern fie
werden trop des Befehls der Pare
teigrößen nidt zur Urne geben. Nur
Knechtsnaturen können fid von der
Parteibebpeitide willigen Rüdens zur
AUrne' treiben laffen.“ Der Vorwärts
namlid droht denen, die nidt zur
Wahl geben, damit, „Daß unfre Gee
noffen Liften führen.“ „Diejenigen, die
597
aus Geigheit fernbleiben“, follen „den
Zorn der arbeitenden Waffe aud ge»
ſchäftlich und tm Arbeitöper-
hältnis“ zu fühlen befommen. Wo
alfo ift der Mut und wo die Zeigheit?
Zudem fteht (aus guten moralifden
@riinden) nigdt in der Berfaffung,
daß man abftimmen muß.
Deimlings dröhnende GFauftidlags-
reden toundern uns nicht mehr. er
daß die Granffurter Zeitung folde
Sprüde nidt dem DB. T. überläßt,
wundert und. Im Gifer findet (bee
kanntlich) mandes ftatt, tas fonft wicht
ftattgefunden bat.
Die Frankfurter Zeitung drudt auch
Das folgende Waulvoll des Generals
ab: , Mur die Feigen und Blei
gi Itigen (pon Deimling gefperrt)
leiben gu Haus.“ Dante, Herr Bene
tal, aber wir nehmen Ihre moraliſchen
Mrteile nidt mehr tragiſch. Denn,
nit wahr, Sie wollten dod das Boll
nur Deshalb zur „Urne“ treiben, dae
mit es gegen die Enteignung Ihres
einftigen oberften Kriegsherrn ftimmt,
dem Sie mit unverdorrter Hand den
Treueid geihmworen und von dem Gie
fo mande Sunft, aud das von Ihnen
fo hochgeſchätzte Adelsprädifat erhalten
haben. Ewas anderes hatten Sie gee
wif nidt im Sinn. Und wenn Sie dag
in Ihrem Aufruf nidt ausdrüdlich ge-
fagt haben, fo war das von Ihnen
fidertid wicdhts weiter als — Feigheit.
Sdelquatid. 7.
Wi Tefen diefes Oedicht Walter von
Molos im Aprilheft einer Zeit-
ſchrift:
„Wenn ihr wüßtet / wenn ihr wüß⸗
tet, wie Die Härte ſchmerzt / in die ihr
mid preßt / wie zerfebt / wie gebest
fih das Herz in der Bruft mir preßt /
werm id hart fein muß / bart / wie
©ranit / damit ihr weid fein und fröh-
lid fein fonnt / ihr dämmtet die Flüſſe
auf und ftemmtet die Berge bod / im
verzweifelten Mitleid mit mir / aber
/ ibe feid zu hart zu mir, und id muß
bart fein zu euch / ad, wie ift Diele
Härte, in die ihr mid zwingt / Pein“
Ob, wir willen! / Web, armer Wolo!
Weh, unfer Mitleid! / Wir Flettern
verzweifelt die unbezwungenen Gis-
wände des Saurifantar empor / wir
ftürgen ung / unjaglides Weh im Here
zen / in die tiefften Tiefen des Ozeans
/ um dem berzzerreißenden Anblid zu
558
entgehn / wie Die liebe, zarte, gütige
Molofeele / auf der tüztifhen Sir
{dale figend / feftklebt / und gappelt /
und nidt entfliehen fann / der granit-
nen Härte des Sirups , und den Welt-
raum erbeben madt / mit beiligem
Seufzen / daß die Himmlifmen Shire /
mitfeufzen / über die Tüde des Honigs
/ und der allmadtige Gott / beiliges
Mitleid im Dunkel feines Auges / dem
Didter mit verzweifelten Dliden ent»
gegenbebt / und mit uns ul / Ohhh!
Gottfried Keller: N iefbetveg-
ten Lebenslaufden. .
Molonie.
rt Menfden wie den beliebten
Boltsichriftfteller Walter pon Mo«
lo fommt immer einmal der Augenblid
der Demasfierung. Seine Nlaffenlefer
find fid wohl faum darüber Far
worden, daß er im @runde nichts
andres ift alg der übliche fluge libe—
rale Durchſchnittskopf, fo fehr er fid
aud Mühe gab, fid an Königen und
Helden emporzuranten. Irgend einmal
berlieren folde Köpfe, mögen fie nod
fo umfidtig zu mittern verftehn, Die
Borfidt. Walter bon Wolo wird von
nun an vergeblich flug fein. —
Der Adjutant des Kronprinzen warb
für einen Aufruf gegen die fogenannie
„Sürftenenteignung“. Greilid: nie»
mals hätte ein folder Aufruf aus der
:imgebung des Kronpringen fommen
dürfen. Zudem: aud abgefehn von
diefer innern Unmöglichkeit — Die Art,
wie die Männer, die den Aufruf aus-
gebedt haben, an die Werbung gins
gen, war mweltfremd. Die ungeldicdte
Sprade des Aufrufes und gewiffe
Raivitäten in der Lifte der Perfdn-
lichkeiten, Denen man die Unterfdrift
antrug, waren gutgemeint, aber weiter
aud nichts.
Sener Adjutant wandte fic aud) an
Walter pon Molo, den Autor Des
Berliner Tageblattes. Alsbald fam
Molo auf den Sedanfen, an der arg-
Iofen Naivität des Mannes, der fid
an ihn gewandt Hatte, ein Leitartilel»
bonorar und den Beifall jener Art bon
Parteigdngern zu verdienen, Die gegen
folde Dinge Surd Politif und Wee
Ihäft abgebdrtet find. Gr verdftent-
lidte das arglos-vertraulide Runde
fhreiben im B. 3. und bradte dabei
folgende Gnthillung feines Verhält⸗
niffed gum Kronprinzen in bie für per»
— atm — —
fönliden Klatſch empfanglide Deffent-
lichkeit:
„Herr b. Müldner und id haben
allerdings einen gemeinfamen Bekann⸗
ten, auf deffen Wunſch hin id dielem,
für den ehemaligen Kronpringen, als
diefer nod in Holland war, eines mei-
ner Bücher gab, ohne den Namen
Des ehemaligen Kronprin—
zen einzufeten, mit einer allge
meinen Widmung, wie ih es jedem
Ladenmddden, jeder alten Tante, je
dem Arbeiter und jedem Studenten
genüber zu tun pflege, wenn der An-
rm nidt allzu gewaltig ift.“
Alfo: Molo fhlägt den Wunfd des
Kronprinzen nidt etwa mit Königs»
thron-Mannesmut ab, denn ein Krone
pring ift ebenfo gut „Menſch“ wie jede
alte Tante, fondern er erfüllt ihn. Gr
erfüllt ibn mit Vorſicht. Hinterher
erflart er laut: Haha, wie Hug bin
ich gewefen! Die Dummen haben mid
für einen der Ihrigen gehalten! —
Damit der Leitartifel die Breitfeite
augfüllt, wird er mit dem üblichen li»
beralen Wannerftolg por Königsthro-
nen (pon dem man bet Molo nichts
mertte, alg bie eg nod au} dem
Thron fafen) geftredt.
Selonie darf man Dies Borgehen
Wolos widt nennen, denn e8 handelt
fid nidt um eine Moralfrage, Sondern
nur um eine Zaltfrage. Molo war
dem Kronpringen nidt verpflich—
tet. Gr bat „nur“ getan, mas —
andre aud) Dann nicht tun, wenn fie
nicht verpflidtet find. Gir ein fol-
hes Berhalten fehlt es unfrer Sprade
an einem Wort. Wir fdlagen dafür
Die Bezeichnung Molonie vor.
Geuilleton-MNeurofe.
Die Oräfin Franziska Reventlow ift,
ſo um die Jahrhundertwende, nach
Minden» Schwabing durchgebrannt
und hat ein literarifhes Zigeunerleben
in Liebes- und Seldndten geführt. Da-
pon bat fie redt unterhaltend zu ere
an gewußt, vielleidt gerade, weil
ie feine äfthetifhen Prätenfionen be-
ſaß, fondern fdrieb, um Geld für ihren
paterlofen Sungen zu belommen.
Anders der Geuilletonift im Bere
liner Zageblatt, der über fie
Ihreibt: er will aus dem Gall nidt
Seilenhonorar, Tondern Philoſophie
ſchinden. Infolgedeffen fhürft er tief
nah dem Problem des Adels. Fol-
gendermaßen:
„Der Adel: If er nit die ſchickſals⸗
pollfte und ratfelbaftefte Neurofe,
die die Menſchheit je in fid ausbilden
fonnte? Man bebdenfe dod, was das
heißt: weil por adthundert Sabren
einer eine Tat getan, Jid ausgezeichnet
Dat, gum Ritter gefdlagen wurde, des-
bald in all feinen Nachkommen (damit
fie bor fic) felber beftehen!) diefer dä-
monif@e Zwang, jene Tat wieder»
holen zu müflen. Deshalb (automa-
tiſchl) alle dreißig Jahre Krieg (auf
einer Grde bon Aderbauern!) — und
pon Sejdledt zu SGefdledt, die Er-
giebung auf Die Defriedigung des
einen Quftmoments Hin: auf bas
Dlutopfer, auf den Gelbftmordb mit
Roß und Reifigen, auf den Liebestod
im verbrannten Ader... G8 ift nicht
fo fehr die Berneinung des Lebens, Die
fi Hier ausraft, fondern der Wille zur
Ausnahme. Alle Wenſchen Tieben
bas Leben, folglid will und barf es
der Samurai nidt lieben...“
Die Sräfin Reventlow nun foll ihren
Sohn, als er bereits Soldat war, wäh-
trend des Krieges unter eigener Le—
bensgefahr gewaltfam über den Boe
Denfee in Die neutrale Schweiz ge
Thleppt haben.
„Sie hat“, bemerkt der Geuilletonift,
„Da8 Karma eines adthundertjahrigen
AbelSbriefes in fic gebroden, bas
Krieg und Kriegestaten heifdte: fie hat
Die Ausnahmetat, die ihr guftand, nidt
mehr aufs Serftdrerifde, Tonbern aufs
Schöpferiih-&rhaltende, auf das Kul⸗
turelle gelenft.“
Die Sräfin Reventlow Hat ihre ehr-
Tide Lebenshege Hinter fid) gehabt, als
fie 1918 ftarb. Sie möge in Frieden
ruben.
Aber der Feuilletonift [ebt. Nicht
nur als ndivibuum, fondern als
Raffe. Dürfte jemand über die Gaue
rier fo baarfträubenden Unfinn ver»
zapfen, ohne als unwiſſend beladt zu
werden? Warum darf man in polls
oe Sragen nit mur fein
gnorantentum, fondern aud) feine In«
ftinftlofigfeit gur Schau ftellen, ohne
fein „geiftige8 Suropäertum“ zu ge-
fährden?
Zum Schluß zitiert unfer Feuilleto⸗
nift Gidendorff. Aud einer bon denen,
Die nur dag eine Luftmoment fannten:
den Selbftmord mit Roß und Reiligen.
Eine neurotifhe Srfranfung des Volls-
559
fdrpers, die fid in Stein und Dismard
hyſteriſch (automatifd!) entlud. Wil-
elm von Kügelgen rafte nidt fo febr
ie DBerneinung des Lebens aus, aber
Wolfram von Cf{denbad hatte das
Rarma bod nit in fid gebrochen, ob»
wohl e3 bei ibm nod feine adthundert
Sabre verbrieft war.
Da muß man fid bod wundern, wie
ber Grundsberg feine Landstnedte bei
Pavia gum Luftmoment bes Liebes-
todes beredet bat. Die wußten bod
faum, wie ihr Großvater hieß, ge
{dhweige denn, ob er ein Karma bee
feffen, das fie ddmonifh zwang, aus-
nabmstweife bas Leben nicht lieben zu
Dürfen! Warum haben fie fid nicht
dem Schöpferifh-SKulturellen zuge»
wandt: etwa Geuilletons gefdrieben?
(um bor fich beftehen gu können!) Biel-
leicht weil dag Feuilleton, diefe rätjel-
pollfte Neurofe, Damals (auf einer Srde
pon Aderbauern!) nod nidt ausge»
broden war? ©.
Der „neue“ Simpliziffimus.
Bis wird fo arg, daß darauf aufmer-
fend gemadt werden muß, denn es
bedeutet zugleih einen großen kultu⸗
rellen Gerluft. Wir hatten jahrzehnte⸗
lang ein fatirifhe8 Blatt, das einzig
war — nidt nur in Deutfhland, nein in
der ganzen SKulturwelt. Der Simpli«
iffimus war überparteilid. Gr teilte
feine Hiebe nad allen Seiten aus. Und
es ftand etwas — oder war e3 Einer?
— dahinter, das für Redt und Wahr-
beit fampfte. Des Gimpligiffimus Hal-
tung im Sriege nod — weld Ernſt
und welde Würde! Das ift nun feit
langem anders. Der Gimpligiffimus ift
aufgefauft, bon „Lints“ aufgefauft —
im Suge des jüdiſchen Auflaufgefhäfts
— aud die „Jugend“ gehört jest Herrn
flaum. Die Zeichmer find Die alten,
as äußere Gefidt ift forgfältig das
gleide. Aber der alte Geift ift heraus.
Der Simpliziffimus ift ein Cinfspartet-
blatt, und gwar ein Linksparteibepe
blatt gegen Redts geworden.
Als Beweis nur die eine willfürlich
beraugsgegriffene Nummer 10 vom 7.
Sunt 1926. „Die Hugenbergs“, Bild
pon Thöng, Unterfdrift: „Putſch ge
gen Republif — laderlid! Die Repu-
blik putſcht ejal gegen Diktatur!“ Alfo
der Putſch wird als beabfidtigt unter-
ftellt. Gedidt: Peter Scher: „Die Rete
ter“. Hebton. „DO Baterland“. „Wer
560
alles rettet fid) aus Not — Und kauft
fid dafür Seft zum Drot“... „Die
Aarbeit folln Broleten tun“. — we
„Lieber Simpliziſſimus“ nennt
bayeriſcher Profefforenfohn ——
einen Sauftall, ohne weiter dabei wit⸗
gig zu fein. Gine Gharlottenburger
Stadtperordnete Hefommt ihren Pah,
als fid ausmeift, daß fie einen Orden
pon ©. M. Hat, ohne Sdhwierigfeit.
Herr Meier wird bildlid verfpottet,
weil er ftolg darauf ift, eine „von
rittwih“ zur Grau zu haben. „Sin
reuße“, Gefdidte von H. H. Schef⸗
ter, die erft deutlih Kleinbürgerweien
in Paraguat zu veripotten ſcheint.
wird dann eine F Selhihte — wo ift
bie Pointe? — von einem jungen
Preußen, der feinen drüdenden Stie-
fel ausziebt und wegwirft, um ein paar
Pefo zu fparen. „Bine edt preupifde
Tat“, ein Spott ohne Sinn. Cin fanfter
Hieb gegen den Mehrheitsfogialismus.
Ratatöslar didtet gegen die Sefin
nungsgeſchloſſenheit der Reihswehr.
„Mann über Bord“: Luther auf dem
Meeresgrund mit der ſchwarzweiß⸗
roten es über fid — 9 eidnet bon
Sp. Heine, aber völlig witzlos.
Nichts gegen die Demokraten und Bus
den, nidts gegen das Zentrum. Das
me der ; innetp itifme Inhalt der Num-
ind > fo find fie feit Tangem alle. Es
ift nicht nur der alte Oeiſt des Leber»
fauenden, Dariiberftehenden, es ift
der Seift überhaupt heraus. Die Kri-
tif an den Dingen ift wirr, ohne Klar-
Beit, faft ohne Wis, jedenfalls ganz
ohne jene [höpferifche jatirifhe Kraft,
Die Schutt wegihafft, um gangbaren
Weg freizumaden. 68 ift ein Dame
mer und ein ernfter Berluft. Gin
——— Es war einmall
Sobannes Quade.
Der unglüdlide preupifde
Kultusminifter.
Ser preußifhe Kultusminifter, ein
@elehrter von Anjehn, Hat als
KRulturpolitifer eine unglück—
lide Hand. Wer in diefem Amt bat
je eine folde Kette von perfinliden
Niederlagen erlitten?
Erſtens: Im Gall Scillings Tebte
der Minifter die Staatsautorität für
Die Keftenberg, Seelig und ihren Ans
bang ein. Nidt bas Anfehn Sdil-
lings’, aber das Anfehn bes Staates
wurde ramponiert.
Zweitens: Im Fall Bode Holte fid
der Minifter unporfichtigerweife eine
peinlide Abfuhr. Wiederum wurde
das Anfehn des Staates ramponiert.
Drittens: Sm Fall Hauptmann
Bolte fid Beder als Bertreter der Re-
publif, die ihre mangelnde Rinderftube
durch Aufmadhung a la Neureid (man
detoriert den Galon mit geiftigen
Autoritäten) überglänzen möchte, eine
peinlide Ablehnung. Wiederum wurde
das Anfehn des Staates ramponiert.
Biertens: Im Fall Leffing geriet
Die StaatSautoritat mit der ihr eigenen
Sapfigteit auf die Seite eines Feuille-
toniften, der außer bon Grau und
Herrn Profeffor Drieih in Leipzig don
niemandem gefdast wird, und hatte
den Idealismus ehrlich entrüfteter Jur
d gegen fid. (Der Kultusminifter
ätte die Vorſicht üben fonnen, Die
Rüge für Leffing mit einer Klaufel für
den Wiederholungsfall zu verfehn.
Denn ein Berliner WMinifter follte
immerhin eine Ahnung pom Wefen der
Shußbe haben. Gr unterlieh es und
ftand alsbald in dem neuen Gall, der
vorauszufehen war, mit feinem „for⸗
malen Ret” in einer durchaus nidt
beneidengwerten Gtellung vor Der
Oeffentlidfeit.) Abermals wurde das
Anfehn des Staates ramponiert.
Sind in all biefen Gallen immer
nur die böfen Andern fhuld? Liegt
nicht die Schuld bei dem Minifter, der
Menfdhenfenntnis durch Parteieifer
und Perfdnlidfeit durch Parteibefennt-
nis glaubt erfegen zu können? Auf
folhe Weife erwirbt man wohl ben
Beifall der Partei, nicht aber Ruhm
für den Staat. Ruhm aber ift der Re-
— nötiger als formales Im⸗Recht⸗
in.
Snbaber der peperen Gitte
lichkeit.
—53 der höheren Sittlichkeit ver⸗
muten in ihren Kritikern gern un⸗
ſaubere Mucker, die mit der eigenen
AUnſchuld des Herzens aud den Glaus
ben an die Reinheit edlerer Menſchen
verloren haben, Nun bekennen wir uns
freilich zur Schwäche und Hinfalligfeit
der menfdliden Tugend und meinen,
daß das religidfe und geiftige Leben
aller Zeiten die fruchtbare Spannung
zwifchen Sinnlichkeit und Sittlidfeit
widerfpiegele. Reformer aber halten
einen fpannungslofen Zuſtand fo-
wohl für md glid als aud fir wün-
ſchenswert.
Wir — nicht. daß dieſe Mög-
Ticfeit ſich in der Vacktkultur verwirlk⸗
lichen kann; wir ziehen einen Tren—⸗
nungsſtrich mitten durch alle Racktkul⸗
turprobleme hindurch und ordnen auf
eine Seite alle Borgänge, in denen die
Spannung zwifhen Gittlidfeit und
Ginnlidfeit zuungunften der Sitt-
fidfeit aufgelöft ift. Dabin gehört fo»
wohl dag rummelftädtifche aus,
das die ungelenfen Trampeltänge nad»
ter altgedienter Gtrafenmadden als
eine „Bifion pon Liebe, Lafter und
Srauen“ antindigt, wie die Schön⸗
heitszeitfchrift, welche die unberithrten
Körper deutfher Wandervogelmadden
einigen Hundert Abonnenten von
reformerifher Weltanfhauung und
mehreren taufend am Seitungsfioff
faufenden Lüfternen Fleiſchbeſchauern
in ,unretufdierten Altphotos“ vor»
eee An diefe Geite der Frage vere
Hwenden wir weiter fein Wort, fon
dern beadten nur die feltfame In⸗
ftinttlofigteit, welche die ehrlihen Ree
former auf @rund des gleiden „Pro⸗
ramms" mitten zwilden die Tod⸗
einde ihrer Beftrebungen führt.
Wir bliden auf die andere Seite ded
Problems, dorthin, wo die Spannung
zwifchen Gittlidfeit und Sinnlidfeit
gugunft en der Cittlidfeit aufgeloft
erfdeint. Hier haben wir den Kern
der Reformbewegung por ung; er ift
es, dem unfre Kritik gilt. Nicht an der
Qauterfeit der Beftrebungen zweifeln
wir, nod an ihrem Grfolge, jondern an
dem Wert dieſes Grfolges. Gin Bete
fpiel fann und die Begrimbung er-
fparen:
Sm „Zwielprud“ fteht ein Beridt
von der erften „Schwanenheider Lidt-
woche“. Mehr als dreißig Teilneh-
mer batten fid getroffen und zumeift
in einem Blodbaufe Plas gefunden.
Zwiſchen ftdrperliden Uebungen, Liew
dern und Borlefungen fanden lebhafte
Ausfpraden ftatt, die ,befonders auf
dem leidigen @®ebiete der politifden
und Raffefragen“ zu Ihroffen Oegen⸗
fäßen führten. ,,@ine befondere Weihe
erhielt Die Lichtwoche Hurd) ein junges
Shepaar, bas die erften Tage fei-
ner jungen Ghe in unferem Kreife vere
bradte.“ — Um den Wert diefer fte-
rilifierten und Desinfizierten, chemiſch
gereinigten Sittlichleit handelt es fid.
561
Der junge Ghemann, Der nad Der
Hochzeit fofort Luft Hat, mit feiner
Srau zu einer „Woche“ gu fahren, =
er mit dreißig Vertretern eines
meinfamen Brogrammpunftes in ie
intimfte Berührung tritt —, der feine
junge Ghefrau nadt in einen Kreis
nadter politifher und wmeltanfdauli-
Lider Difputanten führt, und Die nad-
ten Theorefifer, welche dieſe Preisgabe
aller Natürlichkeit an die Doftrin als
befondere Weihe empfinden, bieten
alle miteinander ein Bild von folder
Snftinttverfehrung, eine folde
„Viſion pon Ddeologie, Moral und
Orauen“, daß uns Die höhere Gittlich-
feit der Sihtfeeunbe weit —————
erſcheint als ihre Sündenfäll
Neue Bücher
Königin Luife. Briefe und
Aufzeihnungen. Herausg. und erläu-
tert bon Karl Sriewank 4326.
Seb. 8,50 ME. Bibliographifhes In⸗
ftitut, Leipgig.
Die Auswahl gibt ein umfaffendes
Bild von Art, Wefen und Leben der
Königin. G8 ftedt viel forgfältige und
unge Arbeit darin. (Die frane
öfifhen “Briefe find natürlich über-
Pat.) Eine ganze Anzahl Briefe aus
Dem Neuftreliger Orophergogl. Famie
lienardip und aus dem Thurn und
Taxiſchen Bentralardiv find erftmals
nad) dem Original veröffentliht. Dazu
Dildniffe (aud Totenmaste) und
Handidriftenprobe. Gin empfeblens-
wertes Werf. Die Ginleitung, die eine
iemlid ausfibrlide Darftellung der
eelifhen Entwidlung der Königin ver
fudt, ſcheint mir freilid nidt gelun⸗
gen, läßt fid) aber angefidts der rei»
hen Driefauswahl, die ein Urteil er-
möglidht, ertragen. Ot.
Bom Leben und Sterben
Der Königin LQuife. Gigenhändi-
ge Aufgeinungen ihres Gemabhls Kö-
nig Sriedrih Wilhelms Ill. Mitgeteilt
und erläutert bon Heinrich Otto Meis-
ner. 100 ©. QWappbd. 449 ME. 8.
&. Köhler, Leipzig.
Hier erfcheinen zum erftenmal Die
gefamten tagebudartigen Aufzeihnun«
gen des Königs über feine Gemablin
im Sufammenbang, darunter bisher
Lnbefanntes. Sie eröffnen einen Cine
blid in das Innenleben des Königs,
der unmittelbar Adtung erzwingt. Die
Innigkeit und Reinheit diefer She, die
fid aud in der Kritik Außert, hat ete
was Grgreifendes. ®erade in feiner
Schlichtheit ift diefes Büchlein eines
ber beiten Gamilienbiider, die id
fenne. In den Tagen, da der Schmutz
562
Der Girftenbebe nad allen Geiten
fpritt, ift bie Berdffentlidung Diefer
Papiere, Die für feines Men-
Men Auge gefdrieben wa»
ren (Sebete ufw.), die alfo aud nidt
einmal unbewußt auf „Wirkung“ ger»
ſchrieben find, befonders wertvoll.
Aud ein Republifaner follte nidt —
— —— geſchichtliche Wahrheit aoe
Neue Roma
AAG SarotteWetiet.
AHnenfaduld. Tiroler Roman.
Leinenbd. 5— WM, 236 6. Martin
Warned, Berlin.
Der Untertitel , Tiroler Roman“ tft
etwas irreführend, weil man gewohnt
if, nad biefer Begeidnung einen
Dauern- und Bollsroman zu erleben.
Die Hauptfiguren des Buches find feine
thpifden Tiroler. G3 find Adelige, wie
fie überall gedacht werden lönnen, Nur
Die ſchönen Naturfdildemingen Laffen
die madtige Bergwelt und die üppige
Begetation um Bogen, von füblicher
Sonne beftrablt, aufleuchten.
Die Idee Des Buches, die Menſch⸗
heit aufzurütteln zum Kampf gegen das
Leiden ungezählter Nadfommen um der
Ahnen Shuld Willen, ift gefdicdt mit
einer pſychologiſch intereffanten Hand⸗
lung verfdmolgen. Wir alle find ja
Nadfommen und wir hoffen, Ahnen zu
werden. Die ungeheure Dankesſchuld,
Die wir gegen unfere Borfahren füh-
[en müffen, wenn fie ihr Erbe des Kör⸗
pers und Seiftes heilig hielten und un»
befledt an ung weitergaben, wird zu
ebenfo großer Berpflidtung für ung,
es Kindern und Gnieln rein zu be
wahren.
Wir wünfhen Henriette Schrott»
Belzel eine möglihft grohe und ausge»
au Wirkung ihres Tegensreichen
eg,
Karl Kelber pon Franfen,
Sobannes GHhriftmann, der
Täufer Im viergehnten Sahrhun-
dert. 281 ©. Geb. 5,— ME. I. F. Stein-
Topf, Stuttgart.
Ins Mittelalter verfegt uns der
Gerfaffer, in die Zeiten wirrer reliv
gidfer Zuftände, Peft- und Kriegsndte.
Gr gibt nur einen winzigen Ausſchnitt
aus dem ungeheuren Dilde. Ueber eine
Waldwieſe und eine weltabgefdiedene
Burg am See fommen wir nicht hinaus.
Aber das ift wohl gerade das wirklich
Qute an dieſem Bude, dab fid uns
innerlid das Oanze entrollt, wo dod
nur ein Zeil enthüllt wird. Bom Klei«
nen weift e8 immer aufs Orofe, der
Bordergrund {deint nur der Perfpek-
tive wegen angedeutet zu werden. —
Wer ift Johannes Ghriftmann?
Seine Herkunft und fein tiefftes Wok
len bleiben uns verborgen. Gr ift da
wie ein euer und verlöfcht, ohne daß
er in feinem Gigentlidften bat ent-
brennen können. G8 ift die ewig lei«-
Dende deutſche Geele, die nad der
De onbeice ſchreit und nie begriffen
ur Sprade des Buches ift reid und
boll, fie rollt madtig dahin und müht
fih dennod, viel in möglidjfter Kürze
zu fagen. Sie fdlagt, funtenftieberd
i der Schwerterihmied, die Kri
bilder heraus, geißelt in fanatif
Wat die Sünder zur Buße und
daneben mit gleider Süße zartefte Lie
beswonne und fonnglipernden Wald»
gauber zu befingen.
oe ae ach me aan
dDerapoftel Geb. 650 ME. 450 ©.
L. — Leipzig.
Es ift ein höchſt merfwürdiges, aber
naddenflide Leute anfprechendes
Bud. Ss türmt die großen Fragen der
Menſchheit erdrüdend por uns auf und
entrollt in feinen Antworten ein gee
radezu gigantiiye8 Weltbild. Gott
wädft ins Ungebeuerlide und Die
Dud feiner wirltenden Gewalt würde
uns entjeßen, wenn nicht gleichzeitig
feine grenzenlofe Liebe uns allumfaf»
fend zu fi emporgige. Mit erftaum-
lider Phantaſie un beglüdender Poe⸗
fie werden wir fo febr im Bann dieſer
Sedanfen gehalten, daß uns das See
wagtefte nidt nur glaubhaft wird, fon-
dern Die Allbefeelung Des Kosmos uns
als fdftlide veligiöfe, Wahrheit tief er-
ſchüttert. Die Hoffnung erhebt ung,
Daß eine folde Welt- und Oottanſchau⸗
ung der Weg wäre, die germanifchen
Menfhen aus der Niederung wieder
emporzuführen zu fdidfalsbeftimmter
Sreiheit und durch heilige Bergeifti-
gung ins ewige Licht.
Midel Deder, Die neue
Stadt. 189 6. Sanzleinen 4,50 ME,
Oftdeutfhe Berlagsanftalt, Breslau.
G3 ift überpiel vom Kriege und feinen
Auswirkungen geihrieben worden.
Und eine Müdigleit bei den Lefern ft
deutlich feftftellbar gegenüber jener
Zeit, die fie alle felbft nur zu fehr mit
erlebten. Gin Berlangen zeigt fid nad
ganz eng gene entet Beiftesnahrung.
Man will n mehr immer wieder
rüdwärts —— und nicht immer wie⸗
der die furchtbare Not durchkoften, ſon⸗
dern man will Kraft ſammeln zum
Vorwärtsſchreiten und die Hoffnung
fid nicht rauben Taffen an lidtere Tage.
Michel Becker ſchildert nidt Kriegs-
erlebniffe. Aber der Krieg und alles,
was dann fam, ftebt als gigantifcher
Schatten im Hintergrund feines Buches.
Aus diefen Sreigniffen entwideln fid
die äußeren Sefdehniffe, die fid ums
feßen in das innere Erleben. Nur auf
> innere Grleben fommt e8 DBeder
n, alles ift nur mit dem intendigen
Seide geihaut. Das Seringfte wird
Symbol des Kampfes der Kräfte,
ie nidt zum Eee fondern
zum QAufbauen berufen find
Die „neue Stadt“ will er wadlen
laffen für neue Menſchen zu neuer Tat.
Die Türme des Herrliden Kölner Doms
werden ifm zum Wahrzeichen diefer
Aufwärtsbewegung und fteigen ind
Sinermeßlide. Bauen will er und wie
ein Bau wirkt aud fein Bud. Die
Struktur des Gangen und jedes eine
ease Dort, wie Stein auf Stein, bil-
n ein Ganzes. G8 ift ein tunſtlich ge⸗
fügtes Kirchenmoſaik, aber fein ſpie⸗
fend ftrömender Fluß. Der Dom als
Wabhrgcihen Kölns und nidt der
Rhein. Kein Baum, fondern ein Bau
ift dies Bud. Boll pon reidem Können
und flugem Wollen. Aber das Müffen
entbehren wir. Iedes Wort ift auf die
Dagidale gelegt, gewählt und ge»
pflegt, oft in föftlider einzigartiger
dung verwendet, oft aber aud
ohne Notwendigkeit überfchraubt, ger
madt und gefünftelt. Und gerade aus
Diefen hohen Tönen ins gang Platte
fallend. Warum bas? Die Bauten
563
der fi Sabre neben dem Dom?
Durdh died Nebeneinander erft wird bie
Geſchmackloſigkeit traf.
Zu unferm Derftande redet Dies
Bud, ans Herz greift eS uns nid.
ind wir fühlen den merkwürdigen
Swielpalt, daß e8 zwar alles Außere
nur bon innen heraus faßt und dennoch
nit zu bverinnerliden vermag. G8
fehlt bie Wärme. Wirkt aber wohl
eine Kraft, die nur geiftig ift?
Adeline Oräfinpon Rante
zgau,RKRarenTShiefBundandere
Novel len. 321 ©., Sangleinen 5,—
We Martin Warned, Berlin.
Wer in ftillen Stunden etwas Fei-
nes, Edles [efen möchte, greife zu Dies
fen Mopellen. — freilid) verſtrömen
ſie nicht. Keiner der Charaktere ſteht
ſcharfumriſſen vor uns. Nicht nur die
teilweife gewählte Nabmenerzählung
rüdt uns diefe Menihen in die Gerne,
fie ftehen alle wie halb verhüllt pon
Wehmutsihleiern. Aber gerade Dies
Zarte mag ja für viele bon höchſtem
poetifhen Reig fein. Iedenfalls braudt
diefe eder Liebevoll verftehendes
Nadfihlen, denn das meifte bleibt dem
Ahnen eines gleichgeftimmten Lefers
DORIS en Problematiſche Naturen,
deren Rätfel u ad bleiben, feben
uns — s8vo
Doch nicht immer ſind wir ſicher, ob
ſie ſo und nur ſo ſein und handeln konn⸗
ten. Ein Wilhelm Thieß bleibt uns un⸗
glaubhaft, ja, er läßt uns kalt. Der
Trunfenbold, aus dem die „große Lie»
be“ pliglid ein gläubiges Kind werden
läßt und der durch den Tod feiner Frau
zum Geldftmord getrieben wird, ift nicht
padend gezeihnet. Aehnlid Otto Un-
ger, Sraf Rinne, Hermann Hunger und
Grif v. Brandner — darunter ift nicht
ein einziger wirflider Mann. Gie
find alle fchlaff, entidlupunfabig und
Taffen fi} treiben. Können dann nad“
her das entflohene Olid nidt ver»
{Hmergen, welches, im redten Augen»
blid zu falfen und zu halten, fie "die
Kraft nit Hatten. Solche Naturen find
der Typus moderner Idealiften. Und
deswegen legen wir da8 Bud) nur um»
befriedigt aus der Hand, obgleid ed
foviel Geines enthält. G8 gebt uns
ähnlich, wie bei den Herrliden Storm"
— Novellen, deren Schönheit wir
ng erliegen und gegen die wir ung
PSL eBlid bod faft Eben miffen —
los von all diefer Entfagung, Trübung,
564
Hemmung — zurüd — zei
vollen Lebens⸗ und Olideswille
Sächſiſche Dorfge(Hidten
—— pon Wilhelm Müller Ri
dersdorf. 284 6 Martin Warneck,
Berlin.
Die freie LeHrerpercinigung für
Runftpflege in Berlin gibt mit den
„Sählifhen Dorfgeſchichten“ den viere
ten Band ihrer Sammlung „Borfger
ſchichten“ heraus.
Diefe Sammlung und Herausgabe
ift fiderlid Faber in heutigen Seiten
eine dantenswerte Tat. GS find ſchlichte
— md pon allen hohlen
Aufbauf Tzerrungen,
Denen wir in Ber jungen Literatur fonft
auf Schritt und Tr —— Sie
verſtrömen unverfälſchten eruch.
finden von Heimat und Scholle, am
edteften, fon durch die Mundart, in
Rudolf GOärmers Tleinem: „suff'm
Hantihegutte“, am fraftvollften in
— Heubners „Winterſonnen⸗
Kurt Arnold Findeiſen über-
haucht die einfachen bäuerlichen Si⸗
tuationen mit innigſter Poeſie und Os⸗
far Schwär zeichnet prachtvolle Origi⸗
nale, die ſich von dem Hintergrunde des
derben Alltags feffelnd genug abheben.
Die ganze Sammlung zulammenge-
faft ift wie ein voller Chor aus grünem
Wald, auf den einen Ton ab nn
Heimat!
Albert Trentini, nn
Dies. Gine Tragödie. Geb. 6 Mt.
Georg D. W. Salleh, Münden,
Albert Trentini, Die Ber»
burt des Lebens Roman. Geb.
3,70 ME Berlag Gebrüder Gtiepel,
Reidenberg (Böhmen).
In feinem Ooetheroman hatte fid
Trentini einen großen gegebenen Stoff
gewählt, um zu den leßten Tiefen eines
überragenden Menſchengeiſtes nieder-
audringen. Diefer Zug zum Großen
und Leften in der Idee tft aud we⸗
fentlib für feine beiden neuen größe.
ren Arbeiten. Widt unmittelbare Lew
ben, wie e8 fid ihm darbietet, blutpoll
gu geftalten ift fein Streben, fondern
das Große, ja Monumentale des
Sdeenhaften daratterifiert ihn. Bon
den beiden Hier anzuzeigenden Werken
ftedt die bei weitem größere finftle-
riſche Kraft in der „Tragddie" Para-
dies. Kein Bühnenwerf, obgleich es in
ar
MM. Se
der äußeren Seftaltung bis auf Die
Afteinteilung dramatiſche Form zeigt.
Aber ein in jedem Sah fo ſchwer gei-
ftig geladenes Werf, bas dazu im gan»
zen wie im einzelnen fpmbolbaft ift,
das ift für die Darftellung unmöglid:
Mnverftanden müßte e8 am Obre bore
beigeben, wenn es nicht vorher gang
genau befannt und durchdacht mare.
Mit der Schöpfung Adams beginnt es;
findet im erften Wenfden {don die
Tragik des Menfdentums: feine Bivie-
{paltigfeit. In einem Alt einer idealen
antifen Welt, und dann in einem wei»
teren unferer modernften Zeit zerlegt
er diefen Zwieſpalt des Menſchen in
zwei Menfdenthpen: Den friedliden,
milden Menfden der Liebe, und Den
friegerifden, ftarfen Mann der Tat.
Swig im Streit die beiden, die nod am
Ende ibrer legten Aufftufung einander
ermorden. Dazwiſchen „das“ Weib,
das fid nit für einen biefer beiden
Menfidenthpen enticheiden kann, fon-
dern inftinftin al8 Eva fühlt, dad
nn. ufammen den einen Adam
bilden. Sdlub: Die beiden feindlichen
Brüder vereinigen fid) im wieder offe-
nen Paradies zum einen Adam, be»
rift pon Sottvater, der diefe Zwie—
paltigfeit, oder fagen wir: Diefe frudt-
bare Volarität des Menfdenfeins fo
wollte. Die Kinder aber werden
pom Paradiefe wieder zurüdgedrängt;
ihnen bleibt erft noch diefer tragifHe
ewige Streit der Menfchen, ehe fie als
Weifhaarige an feine Pforten Hopfen
dürfen. Gin Werf, por dem id höchſte
Adtung habe. Schwer, fehr ſchwer, an
der Srenge des DidterifHen und Hes
Sedantliden. &8 wird fider nur einen
Heinen Kreis von Lefern finden; id
laube aber, daß e8 zu Redt in diefer
auerhaften Ausftattung erfdienen ift.
In dem Roman „Die Seburt des Lee
bens" ift unbeftreitbar der Dichter der
©efahr erlegen, die da8 Redht zu
freiem, ungezügeltem Sidgehenlaffen
für ihn bedeutete. Wieder haben wir
eine umfaffende Idee, die dem Geſche⸗
ben zugrunde liegt. Sie Bat diesmal
die fiinftlerifhe Gorm endgültig ge-
fprengt, fo daß die Romanbandlung
mehr und mehr in Nebel verſchwindet
und weitgedebnten philofophifhen Bee
tradtungen meidt. Diefe wiederum
find in der bildreiden, gum Zeil ippi-
gen Sprade Trentinis pon befonderem
Sharalter, leiten aber bon dem finft-
lerifhen Erleben gang ab zur Ausein⸗
anderfeßung mit den vorgetragenen
Sdeen. Und Diele befriedigen mid
nit. Der zur Spite getriebenen Idee
fehe id) wenigftens, den feften Boden
unter den Füßen bebaltend, ntit fri-
tifden Augen nad, und finde e8 leicht,
bie ſchweren, fehr realen Probleme bes
irdifhen Lebens zu überfehen und in
ibealen Höhen fid einfach über fie hin»
wegaufeßen. ©. &.
Zwieſprache
Da dieſes Heft in die Ferien⸗ und
Reifegeit fällt, haben wir ihm zum
Teil einen landfchaftliden Inhalt ge»
eben, und zwar haben wir Diesmal
mob für die literarifhen Beiträge
wie für Die Bilderbeilagen charakteri⸗
ftifche (mit Humboldt zu reden) „An«
fihten“ pon der Tiederelbe und der
Rordiee gewählt. Das feudte Slement
* in den Hundstagen willkommen
ein.
Die Aufſätze über Nacktkultur oder,
wie man euphemiftifd für Nichtfleid
fagt: Lichtlleid, behandeln ein für
Tange Gerientage aufregendes Thema.
Ich weiß, daß id damit wiederum in
Das Wespenneft Der Reformer gegrif-
iS babe. G8 bat fid im porigen Sabre
ewährt, daß wir den WAlfoholauffag
ins Dulibeft ftedten. Die Angriffs-
und Abwehrbriefe der Apologeten
fammeln fid während der Serien an,
und id habe am Ende den ganzen Ef⸗
feft auf einmal. In Saden Altobol
baben die Krititer faft durdiweg das
Wefentlide meiner Ausführungen bere
fehlt, Haben fid über einzelne humori-
ftiihe Wendungen erregt und mir eine
dringlid all das zu Semiite geführt,
was id [bon längft wußte. Werden
Die Lichtbefleideten mir aud nur das
wiederholen, mas in ihren Verkündi—
gungen und WApologien fdon hundert⸗
mal geftanden bat? Die Wiederho-
lung gehört gum Wefen des Reformer«
tums. Und feinem Wefen muß man
treu bleiben.
Der Beitrag von Kubleb ift früher
gefhrieben als der meinige. Gr fam,
als id mir fdon vorgenommen hatte,
565
felbft da8 Thema zu behandeln. Da
er aber fehr Sreffendes enthielt, nahm
id nit Anftand, ihn abzudruden. Ich
babe dann meinen Auffab fo gehalten,
Daß troß der Sleidartigfeit ſowohl des
Themas wie der inneren Ginftellung
eigentlide Wiederholungen nur in ge»
ringem ilmfang ftattfinden. Daß die
®egner nun doppelt Anlaß zur
Sntrüftung haben, fheint mir ein See
winn.
Aud daß Molo im „Beobadter"
gleuh zweimal auftaucht, ift gunddft
nur Zufall. Die Sdelquatid-WAuslefe
war fdon für das vorige Heft abge-
fegt und blieb nur aus räumlichen
@riinden im „ftehenden Sat“ zurüd.
Inzwiſchen Hat WMolo fi in Der
Werbearbeit für die KRonfisfation des
ftrittigen und unftrittigen Gigentums
der Fürften protagoniftifh bemerkbar
gemadt. &8 ift nun ein finnpvoller
Zufall, daß Wolo gleid burd zwei
Bildchen haralterifiert wird: der zer»
fließende Sentimentale, der feine Härte
betränt, und der gefdidt fid An«
paffende, der, weil die Anpaffung es
als nutzlich erſcheinen läßt, das au⸗
{piel eines rückgratſtarken Charakter⸗
Demokraten der Oeffentlichkeit vor⸗
führt. Danach wird man verſtehen,
warum Wolos Bücher fo viele Auf-
Tagen erlebten: mit folden Gabigteciten
fowohl zur Sentimentalität wie zum
wortreich betonten demofratifden Die-
derfinn muh es einem Scriftfteller ja
gelingen, Liebling des Bolfs zu fein.
Nämlich: des Bolfs, das...
gu dem Beitrag „Siedlung, Boden-
reform und Scheidung der ®eifter”, der
aus dem Bedürfnis gefchrieben wurde,
das Srundfaplide der Bodenreform zu
verteidigen, naddem Herr v. Dis-
mard-Sniephof in unjerm vorigen
Suliheft an der Bodenreform Kritik
geübt hatte, midte id) anmerfen, dah
th heut in dem Bodenreform-Sedan-
fen, wie er von Damajfdfe entwidelt
wurde, nicht mehr einen zentralen Gee
danfen febe, der zur „Scheidung der
Seifter® führen müßte. Ich fehe das
Wefentlide in den gefunden biologi-
{Hen Zriebfräften, die aud (aber wee
der nut nod immer) in der Dewees
gung der Bodenreformer fid auswir-
fen. Die alte DBodenreformbewegung
ſcheint mir allzu ftarf an das ökono⸗
milde Denten der Vorkriegszeit gee
bunden gu fein, wenngleich fie der rein
aionomilcen Betradtungsweife einen
566
Zuſatz von ethiſchen G®emütswerten
ab (wodurd ihre Gerbreitung zu ere
ren ift, denn Nationalöfonomie mit
Wemiit übt eine unfeblbare Wirkung
auf den Deutidmen aus). Die Srund-
wahrheit, die in der Bodenreform
ftedt, fommt zu Sage, wenn man aus
der Sphäre der mehr oder minder gee
ſchickten Reformprojette bis zu den bio-
logifden Notwendigkeiten (denen mit
Reformen nicht Geniige geihieht) vor-
dringt. —
Snawifden ift die pon einigen poli-
tifmen Parteien infzenierte ——
um die Konfiskation des fürſtlichen
Beſitzes verflogen. Wie zu erwarten
war, iſt die Konfiskation abgelehnt
worden. Aber Die Zahlen der Ab»
ee find bedeutfam für den gei-
igen Suftand unfres Bolfes: fie gev
gen, wie weit die Nlaffenfuggeftion, die
nad Lage der Dinge auf Seiten Ber
„Snteigner“ weit ftärfer verwendet
werden mußte als auf Seiten ber Ent⸗
eignungsgegner, Sinfluß gu üben vere
mag. Der Suggeftionsapparat arbei-
tete mit famtliden Pferdefräften. Id
habe mir eine Sammlung der Kari»
faturen angelegt, die der „Vorwärts“
in den Monaten gebracht bat, Da der
Apparat unter Hoddrud ftand: bdiefe
Sammlung ift ein „Kultur"dofument
eindridlidfter Art. — Das Berliner
Tageblatt fragte, als die Hannover»
ſchen Studenten Theodor Leſſings wer
en Die Demonftrationsfabrt nad
taunfhiweig madten, in Riefenlet-
tern: „Wer bezahlt den Sondergug?",
obwohl fein Derichterftatter milfen
fonnte und zweifellos gewußt bat,
daß jeder Student drei Wark (die
Karte für den Sondergug foftete 2,80
Mt.) bezahlt hatte. Da Hugo Stinnes
nicht mehr lebt, fonnte für das Der-
liner Tageblatt nicht mehr Stinnes,
fondern nur Hugenberg in Frage tom-
men. Im Gall Sonderzug Hannover⸗
Draunfhweig ftimmte daher bie foli-
dariſche deutfhjüdiihe Preffe prompt
den Suggeftionsgefang an: Hu⸗Hu⸗
ugenberg! Hu-Hu-Hugenberg! Der
ugenberg gebt um! Aber weit be-
rechtigter ift Die Stage: „Woher bas
viele ®eld? bei der „Bollsenticheid".
fampagne. Daß man eine Stimmen-
mebrbeit erreichen würde, fonnten nur
einige unentiwegte Optimiften glauben.
Die Majoritat zu erhalten, war für Die
Sinfihtigeren immerhin nur ein Sffeft,
den man gern mit erreidt hätte;
aber aud) obne diefen Eifelt hielt man
ben Suggeftionsfeldzug für wichtig ge-
nug, um Die hohen Koſten aufgubrin-
gen. &3 find viele Millionen Hinein-
ftedt worden. Dir fragen: wer
alte ein fo intenfives In-
tereffe Baran, Bas deutſche
Bolf eini omen unter
Saude gu Neben, daß er fo
viel®elddbafürausgab? Wer
Die Zeitungen beobadtet, ift fid über
die Intereffenten flar. G8 find die
Leute, die ein foziologifhes und wirt-
Ihaftlihes Sntereffe daran haben, dah
bie vom Schauplag abgetretene Füh⸗
rerfdidt nie wieder Einfluß gewinnt
und Daß Die vergangene große Oe—
fhidte Deutidlands entwertet wird.
Sim ber Sicherheit ihres eigenen Auf-
ftieges und Oewinnes willen bez He
fie den Saudeapparat und feine
Dienung.
Die beiden intereffanteften Grfd@ei-
mungen in dem — orate waren
pupae Brief und Kundge-
g der Deutiden She
Gur Hindenburg war bie Frage der
Konfistation nidt fowohl eine Ange»
legenbeit der Politif als des fittliden
Sewiffens. Sin Fa-Ausfall ber Maf-
fenabftimmung bätte ihn gezwungen,
gegen fein Sewiffen gu handeln. Da-
tum entſchloß er fid — gwar nidt gu
einer Sffentlid-politifden, wohl aber
zu einer perfinlid- moralifden —
Kundgebung. Gr fprad nidt aus
irgendeiner Politif, fondern aus feinem
Gewiſſen Heraus. Diefen Unterfdied
au begreifen, wird allen denen unmög-
{id fein, denen das Bewilfen nur nod
Pbrafe if. Orundſätzlich aber hat
Hindenburgs Brief die Bedeutung,
Daß Der Reidsprafident nicht bloß als
medanifder Automat der jeweils ree
gierenden parlamentari{men Partei-
größen (fo hatte Theodor Leffing den
„Automaten“ Hindenburg nod jüngft
Doll Hohn Kharalterifiert) gelten will
und gelten wird, fondern daß er als
felbftändige fittlide ®röße
bandelt (wa8 in andern Demofratien
felbftverftandlid ift, nur Der demokra⸗
tifhe Deimar-Zauber will die fittliche
Gelbftandigfeit des Prafidenten weg⸗
eSfamotieren). Wir Hoffen, daß der
Reihspräfident fid über Die mora«
liſche Selbftändigteit hinaus aud Die
politifde Gelbftändigfeit erwirbt.
Lind zwar grundfäglid. Das wäre ein
großer fadlider Gortidritt in der
der Berfaffun = Denn
— acht nidt die Berfaffung
die Menfden, fondern die Menfden
maden die Gerfaffung.
Kaum minder beadytenswert ift der
Widerftand, den die Biſchofskundge⸗
bung gefunden Hat. Die Biſchöfe er-
Härten (und urteilten Damit genau fo
wie Hindenburg), e8 handle fid um
eine fittlide Frage, von der Daß
Religiöfe unabtrennbar fei. Alsbald
erflärten die Windhorftbünde, aud
einige Quidborngruppen (allo wefent-
lid) die tatholifée Jugend): Nein,
die Dilhöfe feien im Irrtum, es
handle fih nit um eine fittlide, ſon⸗
dern um eine politifde Fra
Alfo eine Fronde, die am empfindlich
ften Qunft der geiftig-foziologifchen
Struktur der Kirde anfest. Die moe
dernen Waffen, die im Parteidenten
roß werden, leben fid fo fehr in Ben
arteiforigont und in das Parteige-
fühl ein, daß fie alle Dinge nur
nod politifch, nidt mebr fittli be»
trachten fönnen. 88 ift der Sinn
Der Arbeit Hindenburgs (und feiner
Selbftopferung), Daß er, Der mit tie-
fem DBlid die Auflöfung a die
mit der Ausichließlichkeit Des Partei-
lebens notwendig beraufzieht, erfannt
bat, die —— das bedeutet
zugleich: die ſtaatlich⸗ſittlichen Bande
zu en ftrebt. Daher fein Kampf
für die „Sinigleit" gegen die Partei»
beidenfdaft. a8 fid) gegenüber Dem
Staate geltend madt, madt fid aud
gegeniiber der RKirde geltend. Die
fatbolifden Schichten, die als Arbeiter
mit der Geiftigfeit des Marzismus, als
Intelligenz mit der ®eiftigleit des li»
beralen Demofratismus in Berührung
gefommen find, feben alles nur nod
politifhb und ziehen Baber
alles ee dana fe Das Site
lide wird nidt mehr gefehn: das See
fühl de Intereſſes überwudert
und erftidt das Gefühl des Ret 8.
Die Gegenfundgebung fatholifder Bere
bande gegen bie Rundgebung der Bie
Ihöfe zeigt, daß aud auf diefem See
biet die auflöfenden Kräfte bei der Bee
rührung fiegreid) bleiben gegen Die
bindenden Kräfte. —
Dir möchten unfre Lefer auf eine
bortrefflihe Art von Künftlerhilfe hin⸗
weifen. Herr Pfarrer Klaer in Bwinge
(Südharz) Hat mit anderen Herren
eine Kunftgemeinde gefdaffen, die et-
wa 50 Mitglieder zufammenfaflen will.
567
Beitrag 10,50 mt. — og pon
Pfarrer Klaer Grfurt Wr. 17174).
Dafir eg entfprehend der See
famtfumme der Deiträge, bon Den
Kinftlern RKupferplaiten oder Holz⸗
ftöde gefauft, jedes Mitglied erhält
einen Originalabgug. Diefe Blätter
find im Handel ni u haben, aud
die Mitglieder der Kunftgemeinde dür-
fen nidt Handel damit treiben. Go
fann man allmählid in den Defis
einer Heinen Sammlung bon Hand»
druden der Künftler tommen. In dies
fem Sabre gibt es Blatter bon Wal-
ter Rehn, den unfre Lefer fennen —
wir haben zweimal Radierungen bon
ihm gezeigt. Die Runftgemeinde bat
eine Landſchaft und ein Blatt mit bem
barmbergigen Gamariter pon ihm ere
worben. Wir empfehlen diefe RKinft-
lerhilfe, man wolle fid an Herrn Pfare
rer Rlaer wenden, ibm aud ſchreiben,
wem er den Aufruf zur Werbung zu-
fenden fann. —
Sidde Diehl, pon dem die Plaftifen
und ‘Bilder find, die wir in Diefem
Hefte zeigen, wohnt in Pinneberg
(Holftein), Dangftedter Str. 43.
tr Film vom ,,Pangerfreuger Pow
temfin“ ift in Grantreid verboten wore
den. Wir warten feither pergeblid da-
rauf, daß unfre liberale Preſſe Grank-
reid) „aus der Lifte der Nulturnatio-
en ftreidt™ oder erflärt, daß Frank⸗
reid) „fi vor den gelamten ivilifier-
ten Nationen laderlid gemadt babe“.
So Tauten ja wohl die bombaftifchen
Hrajen, mit denen Iſidor bei ung zu
ande den funft- und fulturgläubigen
{iberalen Spießbürger ins äfthetijche
Maufelodh Iheudt. Granfreid — das
ift gang was andres! Die betreffende
Preſſe unterfhlägt ganz einfad bie
Nadridt, denn es ift Bem liberalen
deutiden Spießer nicht ziemlich, zu ere
fahren, daß fid die übrige Welt nicht
um Die Normen des DB. 3. fümmert. —
Die Worte am Sdluf find aus Im-
metmanns „Mündhaufen“. Gs ift
nod vieles der Art in diefem piel zu
wenig gelefenen Werte. St.
Sur Notenbeilage.
Sie proteftantifde Kirchenmuſik ift
bas Srgebnis des Wirlens einer
unabfehbaren Zahl von Weiftern ber
Zonlunft wie der Poefie. Zugleich Haye
tet ihr nod ein gut Zeil der urfpriing-
Tideren, fatholifden geiftliden Mufit
an, und bezeichnend Dafür ift es, wenn
fatbolifde Mufifer für die Kirche Qus
thers lomponieren, wenn Luther feiner
Gerehrung Meiftern der ftreng fatho-
liſchen Mufif offen Ausdrud verleiht
Aus Marots, bes 1544 verftorbe-
nen Sranzofen Anregung geben © o u»
Dime 18, für die Hugenotten ge
fHriebene Palmen hervor, die wi
für Quther zur Anregung werden,
geen für feine Kirche zu wünſchen.
His, Schüler der DBenezianer,
überträgt die SKunft der von einem
Bah begleiteten melodifchen Oberftime
me auf diefen Pfalmengefang und lenkt
damit in jene Bahn ein, aus welcher
im Anſchluß an die deutſchen Lieder-
Ihulen die Möglichkeit der Mittatige
feit der Gemeinde beim Sefang gefun-
den werden follte, naddem die Weiter»
entwidlung der Ghorfultur folde Zeil»
nahme gegen Luthers Srwarten per-
eitelt Hatte. Hu.
Stimmen der Meifter
Sun weiß, daß im Raden des Löwen Srbarmen wohnen fann und aus den
Krallen de8 Tigers Rettung gefunden werden mag, Daß aber feine Gnade ift
bei ben Propheten..
Die größten Berfolgungen, geliebte Erben, find bon jeber über diejenigen
ergangen, welde im Lehrftuhbl, auf der Kanzel, im. Staatsrat und im Heer-
a die alten Weiber ausfindig madten! ..
Ih aber fage: Gs ift ein großes Mifgeldie, wenn ein Siingling fein refor-
matorifdes Srauerfpiel madden, fein neues philofophifches Syſtem erfinden, feinen
Umſchwung in den politifden Ideen des Seitalters herporbringen fann...
Die Wenfden werden nicht bon den Dingen, fondern von den Meinungen
über die Dinge gepeinigt
Ih bin feft, er ift Pe dieſes gegenſeitige Feſtſein verbürgt mir eine geord⸗
nete Zukunft. Nichts Unangenehmeres als zwei Oatten, die einander mit weichen
Nachgiebigkeiten quälen. Jeder muß feinen Willen haben und den durchzuführen
wiffen, dann findet man fid gegenfeitig guredt, und es entfteht ein heiterer ge
regelter Qebensgang. G8 freut mid, daß mein Mann abgereift ift.
Karl ISmmermann
568 Gedrudt in der Hanſeatiſchen Verlagsanftalt Alttengefelfchaft, Hamburg.
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Aus dem Deutſchen Volkstum Fidde Biehl, Kirchhof auf Nordmarſch
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ntwurf eines Hochhauſes
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dopp,
Arthur S
Aus dem Deutihen Volkstum
Deutiches Bolfstum
8. Heft Eine Monatsihriftt 1926
Zinilifation.
ie Wirkung, welde Oswald Spenglers Bud bom Untergange bes
Abendlandes auf unfere Zeit ausübt, ift nicht nur dem Orade, fon-
dern auch der Art nad fo feltfam, daß dem naddenfliden Betrachter
der [hidfalbafte Sbharafter diefes Phänomens nicht entgehen Tann.
Die beiden Bände, Deren Umfang allein ihre weite Berbreitung ere
ftaunlid madt, und in Benen faft auf jeder Seite biftorifde Tatfaden
angeführt werden, Die nur der Spezialforfcher kritiſch nadpriifen, der
Laie Häufig nicht einmal verftehen Tann, erfdeinen eben jest in ber
Bundertften Auflage. Und dabei ift bas Werf — mit Ausnahme des
Sitela — Teineswegs für eine breitere Leſerſchicht hergerichtet; uns
mittelbar Hinter der auffchlußreichen Einleitung liegt, für Die meiften ein
unüberfteiglider Wall, ein mathematiſches Kapitel; feffelnde biftorifche
Gingelbeiten aus entlegenen ®ebieten find nur Burd Tnappe Namens
nennung angeführt, nicht dDurd fürzefte Wiedergabe anfdaulid gemacht,
Die berfodtene Grundtheſe ift nicht in populärer Bereinfadung ſchema⸗
tifiert, fondern ſcheint häufig im ®eranfe der Gingelbetradtungen zu ent
{Hwinden. Und das Bertrauen auf die YZuperläfligleit des Autors, das
bei fo ungebeurem Wiffensftoff bie kritiſche Nachprüfung durd den Lefer
erfeben muß, ift vielfach erfdiittert worden; Gadleute faft jedes der bee
rührten Spezialgebiete haben umfangreide Kritif an den angeführten
Einzelheiten geübt, ja bet der ſuperlativiſtiſchen und ausfchließenden
Ausdrudsweife Spenglers bleibt es nicht aus, daß Dem Laien zufällige
Kenntnis einen Widerfprud ermöglicht, gu dem ihn der bochfahrende
Zon der madtoollen Rhetorik des Autors ohnehin reizt.
Aber feltfamerweife beeinträchtigen alle dieſe Umftande weder die
Berbreitung nod die Wirlung des Buches. Sein Inhalt ift als Ganagbeit
in das deutſche Denten und, foweit die andern Golfer für bie Befonder-
heit und Höhenlage dieſer Betradtungsweife überhaupt aufnabmefabig
find, in das Denken unferer ganzen Seit eingegangen. Soviel Mißver«
ftändniffe Dabei aud unterliefen, — beftimmte ®rundzüge des Spengler-
hen Denfens laſſen fich als Lebensgut Hurd die ganze Seifteswiffen=
{Haft verfolgen, fo daß Ammann in der Ginleitung zu feiner inter»
effanten Schrift über die „Menſchliche Nede* darauf binweifen muß, daß
es geziemender fei, wenn die ®elehrten die Beeinfluffung durd Spengler
gugeftiinden, anftatt ihn als ,unwiffen{daftlid* abzulehnen und Dabei
feine Methoden anzuwenden. Diefer Befund gemahnt uns an die Wire
fung zweier anderer DBücher, des „Kapitals“ bon Karl Marz und ber
37 Deutides Bollstum 569
„Ö®rundlagen Des neunzebnten DSahrhunderts“ bon Houfton Stewart
Shamberlain. Beide Werke Haben troß abnlider Hemmmniffe, wie fie im
„Untergang des Abendlandes“ wirkſam find und troß autoritativen
Widerſpruches diefelbe Verbreitung erlangt und bor allem Diefelbe
dynamiſche Wirtung erreidt, wie wir fie an Spenglers Werk bee
obadten. Golde Bücher ftellen nicht Befdreibungen einer wiffen-
Ihaftliden Einficht Dar, fie find felbft Seftaltwerdung eines ge»
ſchichtlichen Borgangs. Darum liegen fie jenfeits bes Falſch und
Richtig der Wifjenfchaft; in ihnen treten Lebensporgänge, bie nit be-
urteilt werden, fondern wirtfam find, aus dem Dammer des
Seins in die Helle des Bewuftfeins. Deshalb ift es fo finnlos, Marz zu
„widerlegen“, wie das bon eifrigen RNationalifonomen gründlich und
wiffenfdaftlid beforgt worden ift: das Weltbild, bas Marz entworfen
bat, ift Die intelleftuelle Gntfpredung zum Lebensgefühl bes Prole-
tariats; darum muß Die nationaldöfonomifhe Widerlegung der Mehr-
werttbeorie unwirkſam bleiben, weil das Sefühl des Arbeiters,
tn ber fapitaliftifhen Wirtfchaftsform gu furg gu fommen, völlig
fpontan ift, und in jener Theorie nur feine rationale Rechtferti—
gung, nidt feine Urfade bat. Sbhenfo ift es belanglos, wenn man
Spenglers Sedanfenwelt aud) aus anderen Denfern ableiten will, — man
fann ihre Orundzüge gufammen aus Nietzſches Werken und Thomas
Manns „Unpolitifhe Betrachtungen“ refonftruieren — denn bie ent-
ſcheidende hiſtoriſche Tatſache ift eben, daß, wie in Marz bie pro»
[etarifme Shiht und in Shamberlain bie Raffe, in
Spengler die abendlanbdbifde Sivilifation ihrer felbft
bewußt geworden ift.
Wir denken und fprechen Heute in einer Sprache, bie vielfad nur
nod lautli mit derjenigen verwandt ift, in Ber Die Deutfde Kultur
ihr Lebensgefühl ausgedrüdt Hat. Das Wort „bedeutend“ verwenden
wir, ohne irgendeine Anlehnung an den anfdauliden Sinn, überwiegend
als einfadhen ©rößenbegriff; wenn ®oethe die Perfonen auf ber Bühne
eine „bedeutende ®ruppe“ bilden läßt, fo ift damit ohne Weiteres gejagt,
Daß fie die feelifmen Beziehungen der Perſonen finnfallig
made. Benne id dagegen Ernft Hädel eine „bedeutende Sri deinung",
fo meint man, id fpräche von feiner geiftigen Grd He, während id an
feine Tulturgefhichtlide Rolle Denfe. Wenn wir bon bedeutenden An«
lieferungen an den Hamburger Heringsmartt reden, fo meinen wir nicht
einmal, wie der Wortlinn vermuten ließe, einen Borgang, der auf Die
Sunabme der Gangergebniffe oder den fteigenden Berbraud bon See»
fiiden Hinmweife, fondern nur die Tatſache, daß viele Fiſche ge-
bradt worden find. So geht es mit vielen Worten. Wir werden fpäten
einmal auf den fremdartigen Reichtum des früheren Spradgebrauds gue
tiidfommen; bier genügt es uns gu wiffen, daß in Der Sprache eine Ab-
wandlung aus qualitativen und funftionalen Bedeutungen gu quanti-
tativen ftattfindet, Die einem ®eftaltwandel unferes Welterlebeng ent-
[pridt.
570
— — um seein Oe 8. en om eee - Fin Ve
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Sene verfintende Sprachwelt drüdte bas Leben der Seele aus wie
Die neue Das bes Beiftes. In ganz frühen Kulturzuftänden, wie man
fie nod in Afrifa aufdeden fann, wächſt Die Biehhaltung aus dem Bee
Dürfnis nad) Opfertieren berbor, zielt die Viehzüchtung allein auf bie
rtefigen, den Mond ſymboliſierenden Hörner ab. Diefe Zeiten haben tm
wahrften Wortfinne eine religidje Weltanfchauung: fie erfahren die Welt
nur als religidjes Gefdmeben. Solche Vorherrſchaft des Seelifchen über
das Swedbafte ift ung unfaßbar, bei uns geftaltet nicht Die Seele,
fondern regelt der Berftand die materiellen Beziehungen zur Um-
welt. Denn wir leben in einem zipilifatorifchen Seitalter, in bem die
bewußte und rationale Srfaffung ber Welt Durch ben
®eift Die Borberrfhaft des Geelifmen abgeldft Hat. .
Die Kultur fteht unter der Bormadt der Seele, die Sivdilifation
unter Der Des ®eiftes. Aber Seele und Beift lebten in den abenbländi-
fchen, bom ®ermanentum beftimmten Völkern immer nebeneinander. Nur
ift in den frühen Seiten das rationale Denfen des Beiftes noch ohne
den entjcheidenden Einfluß; es ringt mühſam um feine ®eltung und ge-
winnt nur langfam die Borhand, freilich nicht ganz allmählich, fondern
in Dramatiiden Durdbriiden. Darum fühlten ſich auch feine Träger als
bie Geftalter der Zulunft, Denen der Endfieg gewiß war. Giir die Re-
naiffance war der Ginbrud) des Beiftes durch die Ginfiihrung Der
Perfpeftive in die Malerei ein raufdbaftes Erlebnis, das die größten
Berfönlichkeiten erfchütterte. Ebenfo war der Rationalismus dem adt-
zehnten Jahrhundert Franfreids eine erhabene Offenbarung der inneren
Solgerichtigleit des Weltplanes, für Die gu marfdieren und zu fterben
Saufende bereit waren.” Aber durch dieſes Bordringen des ®eiftes wurde
feine Rolle im- Kulturgeicheben eine andere; fein raftlofer „Fortſchritt“
verlor den feeliiden Hintergrund, naddem die Spannung awifden ®eift
und Seele das Waß iiberfdritten hatte, das fid im Spätmittelalter als
frudtbar erwiejen hatte. Darum bedeutet das Belenntnis zum Seifte für
jebe Zeit etwas anderes, weil er in jeder Epoche eine andere Stellung
im feelifden ®efüge bat. Unfere heutigen „®eiftigen“, weldde fid mit
Sitaten aus allen Seiten und Bdlfern ſchmücken, maßen fic) Dabei Die
Würde des ringenden Geiſtes im Seitalter feiner ungefährdeten
Vorherrſchaft an: um im Zeitalter der Zipilifation zwedhaft und ratio»
nal Denfen gu lönnen, braudt man feinen befonderen perfdnliden Rang
gu haben. Denn etwa mit Der Ueberführung der Deutjchen Greibeits-
bewegung in den Liberalismus um 1830 löſt fic der fiegreiche ©eift der
Sivilifation aus der Bindung an die abfinfende feelifhe Kultur; von da
ab finden wir faum nod Perfönlichkeiten, die wie Alezander oder Wil-
belm bon Humboldt fulturelle Schöpferfraft und zipilifatorifche Leiftung
in fid vereinigten.
Gleichzeitig mit feiner Berfelbftändigung beginnt der Geift Die Um-
bildung der Welt nach feiner Lebensform, der Zipilifation. In wenigen
* Sergleide den Auffaß ,, Freiheit der Kunft und des G®eiftes“ tm Sanuarbeft.
37° 571
SabhrgeHnten wandelt er die Oberflade der Grde mehr, als es Jahr⸗
taufende der Kultur vermocht haben. Denn feine Methode ift die DBe-
herrſchung der Naturfräfte, fein DBetätigungsfeld die Welt der äußeren
Dinge. Die Intelligenz fcdarffinniger Scholaftifer des Mittelalters war
nicht geringer als die bon James Watt; aber fie erfanden Die Dampf-
mafdine nicht, weil fie für ihren Lebenswillen ohne Bedeutung war, fo
wie das heutige liberaliftifhe Theater ohne Intereffe für einen fonferda-
tiven Menfchen ift; Darum, nicht weil er dümmer wäre, fchreibt nicht
er, fondern Alfred Kerr die maßgebenden Theaterlritifen. (Der Segen»
fab des ®eiftes zur Dummbeit ift etwas anderes als fein Oegen-
fag zur Seele; daß unfre Öffentlide Meinung dieſe beiden Dinge nicht
auseinander halten Tann, ftiftet aud bei der Grontbilbung der nationalen
und internationalen Gruppen nicht felten lappifdhe Berwirrung.) Im neun»
zehnten Jahrhundert Tann man nod ganz Deutlih einen Widerftand
gegen Die Srfindungen des zivilifatorifchen Seiftes beobachten, der fid
nidt einfad als Dummſcheu abtun läßt; es war die inftinitine Oegen-
wehr des Bolfes und der autoritativen ®ewalten gegen Die fiegreide,
aber die feeliichen Bindungen aufldjende Wadt der Sivdilijation. Heute
ftößt jede neue Grrungenfdaft des awedbaft-rationalen Seiftes auf ein
gleichgerichtetes, empfängliches Seitalter, Bem folde Fortſchritte gemäß
und Darum wefentlid find.
Go tauchten auf den Sebieten der Wirtichaft, der Politik, des Geiftes-
lebens feelenlofe, abftrafte Sormblldungen auf, Die allein tmftande
waren, die ausgedehnten räumlihen und maffenbaften Verhältniſſe der
gipilifation gu beberriden. Die Banknote, die Partei, die Zeitung find
Gr[einungsformen eines neuen Lebensgefühls. Nicht mit dem Kino,
der Revolution, bem Radio wurde diefe Welt geboren; fie hebt fic, mit
einer Gafjabe jpießbürgerlicher Romantik verkleidet, 1848 bereits Deutlich
aus den abfließenden ®ewäffern der Kultur hervor. Sur Zeit der erften
Landtagsreden Bismards wehrten fi die Abgeordneten nod Dagegen,
daß man fie dem, „was man neuerdings eine Partei heiße“, zuaähle.
Sie wollten als perfdnlide Bertreter ihrer Wähler nad ihrem Gewiſſen
dag Staatsleben beauflichtigen und glaubten noch daran, ihre Segner
durch ihre Argumente überzeugen gu Tönnen, wenn DBosheit oder Dumm-
beit dem nicht entgegen ftünden, — eine Borftellung pom Wefen des
Parlaments, die ja Heute nod tm Bolfe und in der Szenerie Der Plenar-
fibungen fortlebt.
Diefe neue Welt hat ihre eigenen Kräfte und Formgefege, ihre
eigene Ordnung und Berantwortlichkeit. Aber wie alle Zeiten, fo erfennt
aud die unferige ihr Beftes nicht. So wie die mittelalterliche Kultur Die
wundervolle Geborgenbheit des einzelnen in ihrem fittliden und fogialen
©efüge objeftiner Ordnungen nicht empfunden bat, fondern nur bom une
aufbaltfamen erfall der Sitten oder bon der unausrottbaren Macht
veralteter roher Oebräuche ſprach, fo fällt es aud) uns fchiver, die
eigentlich Tebensformenden Züge der Sivilifation zu feben. Wie das
Mittelalter feine fulturelle Kraft mit den feindfeligen Maßftäben des
@®eiftes beurteilte, fo meffen wir die Kräfte und Ordnungen der Zipili-
fation mit feindfeligen romantifchen Sdabungen. Aber die [päte Zeit,
572
in welcher wir leben, bat, wie ihre eigenen Aufgaben, fo ihre eigene
Würde. Schon fühlen wir, daß unfer Mitgefühl mit notleidenden Lpri-
fern und Malern nicht mehr gang echt ift und dem Yüngling, der Beruf
und praftifde Aufgaben verjchmäbt, um den Opfergang eines fiinftle-
tijden Salentes anzutreten, folgt unfer Blid nicht mehr mit ungeteilter
Betunderung. Gin unausgefprodenes Wiffen, daß Hier biologifhe Note
wendigfeiten überflogen, Wirklidfeiten Illuſionen geopfert werden, mifdt
unferm Mitgefühl eine Ungeduld, unferer Sympathie für idealiftifden
Ueberſchwang Ironie bei. Und die farblofe Waſſenhaftigkeit unferer
Zeit, ihr raftlofer Arbeitsgang, die falte und befonnene Kraft ihrer wirk⸗
liden ®ewalthaber zieht uns an, obwohl wir der menſchlichen Diirftigteit
bes Gingelwefens bewußt bleiben. Wir bejaben, unabhängig bom Wohl»
gefallen, Die ®@emäßheit, die unwilllürlide Sinfügung in ein Oe—
famtgejchehen, das als foldes eine Würde Hat, bie es Dem einzelnen
verfagt. Eine Maidemonftration mag fic aus engftirnigen Kleinbürgern
gujammenfegen, — als Ganges Hat fie Pathos und Wudt. Gin großes
GSeſchaͤftshaus ift eine Stätte unerHdrter Arbeitsintenfität, aud wenn
jeder einzelne, der darin tätig ift, Kraft und Sntereffe bei weitem nicht
völlig einfebt. Es gibt ganz wenige Arbeitsplage, an denen wirklich „ge-
ſchuftet“ wird, fo wie etwa der aus dem Arbeitsperbande gefchleubderte
Einzelmenſch ſchuften muß, um außerhalb des organifierten Wirtfchafts-
progeffes aud) nur das Eziftenzminimum zu erlangen, — und dennod
bietet der Arbeitsgang der Sipilifation im ®anzen den Anblid aus“
Ichöpfenden Sempos.
Weit mehr als das Zurüdtreten des Perfönlichen por dem Sad
liden giebt das Herbortreten überperfönlicher Kräfteballungen unfer aufs
Pofitive gerichtetes Intereffe auf fid. Denn die Zipilifation, in Der
unfere Söhne leben follen, muß don denen gefdaffen werben, in melden
Das Abbild der Kultur fortwirkt, in der unjere Borpäter lebten, wenn fie
arteigen werden foll.
Hier feht eine Kritif unferer gipilifation ein, welche nicht Ndrgelek
{[Haffensfreudiger Kulturfentimentalität, fondern Wefenserfenntnis bes
{Hraniter, aber notwendiger Sufunftsaufgaben darftellt. Spengler Hat
Darauf hingewiefen, daß Die arteigene, allein Iebensfraftige Gntwidlung
unferer Sibilifation gefährbet ift, weil fie fid) unter der überdedenden
Führung durch die ausgebilbdetere, ältere, aber artfremde, jüdiſche Zivili⸗
fation vollzieht. In der Tat beobachten wir in der abendländifchen Zivi⸗
lifation zwei fo grundverfchiedene Tendenzen Der überperjönlichen Form⸗
bildung und das Judentum fo ausichließlich ber einen bon ihnen zuge»
fellt, daß bon Hier aus ein neues Licht auf die Bedeutung des Anti»
femitigmus fällt. Wir finden dabei unfer fpontanes Befremben gegen-
fiber manchen antifemitifden Richtungen beftätigt, deren wefenbafte
Unterſcheidung wir nicht nad der größeren oder geringeren Hochachtung
bor den biirgerliden Sitten vornehmen. Wir trennen vielmehr die Pro-
pheten, welde die technifhe Welt der großftädtiichen Lebensform
nad) den Idealen einer bäuerlich-beroifchen Frühzeit orbnen möchten,
573
bon den Tätigen, welde die Arteigenheit unferer werdenden Sivilt-
fation gegen die erdrüdende Macht der fremden, fertigen jüdiſchen burd-
fegen wollen. Ich verweije bier auf den Deutfchnationalen Handlungs-
gebilfen-Berband, deffen Antifemitismus, der Juden den Eintritt verwehrt
— nur dadurch läßt fid) der Uebergang der Leitung an fie in einen
großen Organijation vermeiden — nicht in der Berfiindung arifcher Licht“
gottheiten, fondern im Kampfe um eine arteigene [oziale Lebensordnung
wirkſam wird. Damit ift aber in der Sat das Schlachtfeld der Zukunft
betreten.
In dem Kampfe um Die foziale Ausgeftaltung der Sivilifation näm«-
lid ringen zwei ordnende Prinzipien miteinander, Die fid nicht Durch
ihre Programme, fondern Durd ihren biologifchen Charakter unter»
ſcheiden. Die eine ift propagandiftifd; fie Schafft Maffenballungen
Durd) einen Appell an Die Wünjche des einzelnen. Die andere möchte
ih ,fategorifd* mennen, denn an Stelle des fuggeftiven Anrufs der
Propaganda: „Du möcdteft“ tritt das Erwachen eines Bewuftfeins:
„ih foll*. Beide arbeiten am Sozialismus der Zukunft, das heißt an
der unindividualiftiiden Lebensform der gipilifation. Die Sricheinungen
des propagandiftiiden Sozialismus find befannt, ebenfo wie die Sate
fade, daß die Juden auf diefer Seite der zipilifatorifhen Cntwidlung
tätig find.
Der „tategorifche Sozialismus“ aber, der ebenfo wie der propagan-
Diftifche mitten durd alle Parteien und Gruppen Hindurdgedt, beginnt
erft feine Umrijfe zu zeigen. Wir erfennen ihn an der notwendigen Bere
Inüpfung zweier Gmpfindungen, die feine piychologiihe Struftur be—
ftimmen: am Kollettipftolz, den eine geordnete ®ruppe auf ihre
Veiftung und ihren Beiftand empfindet, und an dem fameradfdaft-
lichen Solidaritätsgefühl, mit dem getviffermafen ber einzelne
dem ftändijchen oder politiichen Berbande gegenüber feine Danlespflidt
für Die Lebengfteigerung erfüllt, die ibm allein die Zugehörigkeit zu
einem mächtigen und geadteten ®ebilde verleiht, fon ohne daß ibm
materielle DBorteile aus ihr ertpadjen. In der nationalen Bewegung
etwa grenzt fic diefe, eine arteigene Zipilifation begründende und zu
praltiiden Aufgaben drängende Gruppe deutli gegen die propagan-
biftijde Stimmungsmade biirgerlider Wahlpereine ab, obgleich beide
Sormen in den gleidhen Berbänden wirlfam find. Die feltiame Manie
der vaterlandijden Geiern erflärt fich daraus, daß diefer jungen Be-
wegung nur in der Feftftimmung, nicht wie einer ftändifhen Organi«-
fation in notwendiger fogialer Arbeit die Möglichkeit gegeben ift, Den
Kolleftivftolg zu erleben. Aber ſchon jieht man die Berbände fich felbft
praktiſche Arbeitsgebiete erichließen, freilich noch unorganifch, weil ihnen
thre natürliche Betätigung, die praltiich-politifche einftweilen berfagt ift,
für die unjere ptopagandiftijche Staatsform dem Tategorifchen Sozialis-
mus feine Wirkungsmöglichleit bietet.
Wie Spengler in feiner Schrift „Preußentum und Sozialismus“ zeigt,
find aud im proletarifchen Sozialismus Wefenszüge des Tategoriichen
zu erfennen; fie allein verleihen einer Maffendemonftration ihr Pathos
durch Kolleltivftola und Solidaritätsgefühl. Daß bierbei die jüdtiche
574
&
Führung in eine feltjam [diefe Stellung gerät, beftätigt unfere Deu-
tung. Denn gerade das Pathos folder Beranftaltung zeugt gegen ben
jüdifchen Agitator; ber SKolleltipftolz: „Wir Arbeiter“ fchließt ihn
ebenjo aus, wie das famerad[daftlide Solidarttätsgefühl ihn nicht in
feine Brüderlichleit aufnimmt. Noch find unfere Augen für die Sinfidt
in Diefe Zufammenhänge nicht gefchult, aber wir müffen fie erfennen
Iernen, um nicht als propagandiftiich geleitete Nachläufer Außerlicher
Programme im Lebensfampf unjeres Bolfes ftets auf der faljchen Seite
zu fteben. Denn eine gufiinftige nationale Arbeiterbewegung wird viele
bequeme Patrioten dadurch enttäujchen, Daß fie nicht wirtfchaftsfriedlich
ift; fie wird den Gewerkſchaftskampf — freilid) nicht in marziftilchemn
Sinne —, nicht Zutreiberfchaft für birgerlide Intereffen zum praftifchen
Inhalt haben. Nur die Erfüllung ftändifher Pflichten, fann Kollettivftolg
und Solidaritätsgefühl begründen, in denen fich Der fategorifde Sozia-
ligmus verwirklicht.
Im fategorifen Sozialismus wädft etwas beran, was id mit
einem fühnen Vergleiche aus dem Bierkeben veranſchaulichen möchte. In
der „großftädtifchen Zipilifation“ der Ameifenftaaten wird bas ®emein«
wefen nicht auf ®rund werbender Glugfdriften, fondern durd den im
Sinzelwejen lebenden Impuls des artgleichen Verbandes verwirklicht.
Solche gefamtheitliden Antriebe werden aud in den Individuen dev
Sivilifation mächtig, wenn ihre Gingelgeftalt tm organifhen Berbande
am Leben einer höheren Oanzheit teil Hat. Dann erwachen in ihnen
Kräfte überperfönlicher Art, die fie, ftatt zur Suggeftibilität
für Propaganda, zur Gefolgfdaft für autoritative
Bübrung fähig machen. Hier taudt aus dem Chaos der indivi-
dualiftifden Welt die Struftur einer arteigenen Zipilifation auf, um Die
es fic) zu fampfen lohnt.
Die Kritif an Spenglers Werf hat zwei Quellen, deren eine aus dem
wiffenichaftliden Mißperftändnis entipringt, bas organiſche Geiſtesſchöp⸗
fung mit Bem Sammeln und Mefjen bon Satjachen verwwedfelt; fie ver-
fehlt das Wefen des Sefamtwerfes. Die andere Quelle, deren unter
irdifher Zufluß wohl aud ftets die erfte fpeift, fommt aus dem Berdruffe
fiber das Refultat der Spengleriden ®edantengänge, das freilich durch
den Vitel unbillig in den Bordergrund gerüdt ift. Für den Verluſt unferer
Sllufionen pflegen wir uns zu rächen, indem wir ihren Serftdrer einen
Bellimiften nennen. Aber Spengler einen Kulturpeffimiften zu nennen,
gebt nicht an. Rulturpeffimismus, wie er in religiöfer ©eftalt bei. Sol»
ftoj, in rationaliftifcher bei Rouffeau auftritt, zieht den Wert der Kultur
in Grage und fann höchſtens daraus eine ungünftige Borausfage für ihre
Entwidlung folgern. Spengler aber erfaßt den Wert der Kultur mit
der ganzen Pietät des Abfchieds und fann fo wenig ein Peffimift
genannt werden wie ein Mann, ber das Herannabhen des Alters fühlt,
und die Vorausſicht feines Sterbens nicht mehr mit jener naiben Un-
glaubigfeit aus feinem Bewußtſein verbannt, die gu den wunbderlidften
Zügen bes menfdliden Seelenlebens gehört. Wit derjelben Verken⸗
575
nung ift er als Gatalift bezeichnet worden. Wie Die Jahrtauſende alte
Ginfidt in unfere individuelle Sterblichkeit bie Tatkraft des Menſchen
nicht gemindert, fondern ihre berantwortlide Anfpannung begründet Hat,
fo bewirft die Ueberzeugung bon der Enblichleit ber geſchichtlichen Gee
ftaltungsfraft eines Bolfes eine harte, mannlide Entſchloſſenheit, Die ge-
fete Srift rühmlich zu nugen. Der bequeme Wahn eines endlofen Fort⸗
fchritts Dagegen verleitet zum untätigen Harren und entwürdigt die ®e-
fchlechter zur bloßen Schwelle der glüdlideren Nachfolger, während Die
Spenglerfhe Auffaffung jeder Generation die Würde der Cinmaligteit
verleiht und ihr Die unausweichlide Berantwortlidfeit nicht übertrag-
barer, jeßt zu löfender oder endgültig verfehlter Auf
gaben auferlegt.
Gerade die Formung der Sidilifation, die unferm Gefdledte obliegt,
ift ein Augenblid bon dramatifder Pragnang wie bas Bießen eines
riefigen Formftüdes. Denn indem die Bivilifation in jedem Augenblid
in ganz anderem Ausmaße als die Kultur der Außeren Welt ihren
Stempel aufprägt, fic ftofflid verwirklicht, fdafft fie erftarrende GFor-
men, Die bas organijde Leben an Dauer übertreffen. Bon taufend Bei-
fpielen fei nur die ©rofftadt genannt, Die bereits Heute nicht mehr bon
der nadbinfenden Ginfidt in ihre Notwendigkeiten umgebildet werden
fann. Gbenfo aber gewinnt die Bevölkerung in beängftigender DBe-
fchleunigung eine Seftalt, welde felbft bie Snnebaltung der jebigen Zipi«-
lifationshdbe in Frage ftellt. Während Hie rafjilchen Reſerven unjeres
Volkes fich verbrauden und die aus dem lebten bäuerliden Sdage un-
gebrodener Volkskraft Auffteigenden nad) zwei ©enerationen fid nicht
mebr fortpflangen, zeigt jede Schulftatiftif, daß Die unbegabten Kinder
mehr ®efdwifter haben als der Durchſchnitt beträgt, während bie Fähi—⸗
gen aus Tinderarmen Gamilien ftammen. Ob bier ein unausweidlides
Schidial ben Lebenswillen der Hdbergearteten ausgelöſcht bat, ob Die
jebigen Lebensformen diefen Abftieg bedingen, dürfen wir uns nicht ane
maßen zu entjcheiden, — fider ift, daß dieſes Jahrhundert unfere Zipili-
fation als Gdulnisporgang oder als Verholzung erweilen, daß Das
nadfte einen gärenden Schleim oder einen für lange Zeit gefeftigten,
wenn aud nidt mehr ſchmiegſamen Stamm feben wird.
Solden Einfichten gegenüber fann bon Optimismus oder Peffimis-
mus nicht mehr die Rede fein. Die unferer Zeit gemäße feelifche Hal-
tung ift Die Des ſoldatiſchen Mutes, der bie Gefahr nad ihrem
wirklichen Orade, nicht nad feinen Gmpfindungen beurteilt, und aus ihr
den Antrieb für die Kraft, Schnelligleit und Borficht feines Angriffes
gewinnt.
Aus diefem Mute und dem Handeln, das ihm entipringt, Tann
allein die Würde unferes Gefdledtes fommen. Aber unfere ®eneration
verdanlt der Erziehung durch den Krieg die Furdtlofigfeit bor eigener
Bedrohung und die innere Ricdtungsfiderbeit, welche uns die Teilhaber-
[daft am gefdidtliden Rampfe unferes Bolfes verliehen hat. Sie über-
nimmt es, im ©eftaltwandel der Epochen das ewige Out unferer Art
zu bewahren. G.
576
Oropftadt und Land.
ereits bor dem Kriege ift eine Der Stadt feindlide Bewegung lebendig
geworden, ein neues Zurüd zur Natur, das ebenfo wie jenes erfte
durchaus bedingt ift und abhängig bon bem, twas verneint werden foll.
Hier wie dort wird gegen eine Laft proteftiert, die Bem Menſchen be-
drüdend und unnatiirlid erfcheint — damals gegen den Seift einer voll⸗
endeten Ariftofratie, gegen ein Leben, bor Dem Rande des Unterganges fo
leicht, zierlih und finftlid) wie ein Menuett, heute gegen den Geiſt Der
modernen Stadt, gegen ein Dafein, das bom eifernen Stil der Maſchinen
gerichtet wird. Und in beiden Fallen, wie es nidt anders fein fann, wird
die Natur, Der fic) der Menſch an die Bruft gu werfen fucht, Seftimmt
durch die Art deffen, dem er entfliehen will. Dort taucht ein Otabaiti
auf, in dem die Wenfdenredte als das a priori gejellichaftlicher Oeſittung
nod) feiner ®ewifjenlojigfeit gum Opfer gefallen find, bier wird um alte
Bindungen gerungen gegenüber der Atomijierung des einzelnen zum
Maffenteil.
Wir haben nad anderthalb Jahrhunderten boll ethifden Diskuſſionen
und Sandgreiflidfeiten mancherlei Art erfennen müffen, daß die Menſchen⸗
rechte gar nichts fo Natürliches, feine Art bon Gi des Kolumbus auf mora-
liſchem Gebiet, fondern daß fie etwas recht Kompliziertes find. Und wir
wiffen, daß auf jenen gliidfeligen Infeln ber Südfee der Menſch, das
„lange Schwein“ zu Zeiten Roufjeaus zu den durchaus üblichen Nahrungs»
mitteln gehörte. Daß die „Natur“ jener Zeit nicht objektiv greifbar ift
oder war, foll uns indeffen nicht dazu verführen, fie für nicht wirflich zu
balten, denn ihre Wirklichkeit ift bewiejen durd) Kriege und Repolutionem
bon Der beften Sorte. Und den ®lauben, Daß das, wofür Menfchen fterben,
jemals nicht im höchſten Sinne wirflid fein fdnnte, wollen wir anderen
überlajjen.
Der Wert eines ®laubens beruht nicht auf der Objeftivitat deſſen,
woran man glaubt, fondern allein auf der Intenfität, auf der Innigfeit und
Durchſchlagskraft Diefes Olaubens felbft. Und fo foll uns der DBergleich
mit Der franzölifchen Aufflärung nicht Dazu dienen, feftzuftellen, welde
Quellen der Kraft für uns, die Menfchen der modernen Stadt, in der Na-
tur, fondern welche tm Slauben an fie verborgen find. Allerdings fagen
toir in der Frageftellung bon Heute nicht mehr die Natur, fondern das Land.
Das Zeitalter der Naturwilfenfdaften bat den Begriff der Natur fo er»
tweitert, daß nichts Dagegen einzuwenden fdeint, ibm aud unfere Oroß⸗
ftädte unterguordnen als eine Art bon Ameijenbaufen der vitalen Energie,
unterworfen den Sraftitrdmen der großen kosmiſchen Rhhthmen, durd
deren Gerfiindung die Sefhichtsauffaffung unferer Tage im Begriff ftebt,
ben Lehren des Hiftorifden Materialismus den Todesſtoß gu verfesen.
Nicht Geſellſchaft und Natur, Sondern Stadt und Land heißt der Oegen⸗
fag, der in Frage ſteht als eine der wichtigften Fragen für die nationale
Beiinnung überhaupt. Denn bie Tatſache feines Beftebens geht auf dies
felbe Wurzel zurüd wie die Satfache, Daß der neue Weg zur Macht über
andere Gedanken, Taten und Sinrichtungen führt als über die bon Fichte,
Scharnhorſt und Stein. Das ift ein Weg, Der über andere Reden an die
577
Nation, über ein anderes Leipzig und über eine andere Staatsverfaffung
geht als damals, als mit dem Erwachen der Nation zugleich die eigent-
lide Macht der Dhnajtie gerbroden wurde.
Wenn wir nad dem Werte des Glaubens an das Land fragen, fo ift
biefe Frage nicht gerichtet auf Borteile Sfonomijder oder gefundHeitlider
Natur, die ja unbeftreitbar und durch den lebten Krieg ſcharf beleuchtet
find, nidt auf Wieſen, Felder und Wälder, den Bauern und die Lande
wirtſchaft, fondern fie ift gerichtet auf einen ideellen und willensmäßigen
Gehalt. Denn diejes Land, das man nicht müde wird, der ©roßftadt als
Spiegel entgegengubalten, ift aud) eine Art von Otabaiti, und genau fo wie
Die Natur Rouffeaus in den Salons der Ariftolratie ihre Wiege hatte, ift
bas Land, bon dem bier die Rede ift, eine eigentliche Grofftadtangelegen-
beit. Dort ift Die Geſellſchaft, hier die Srofftadt, bas Kranke, das Böſe
und Widernatirlide, Dagegen die Natur oder das Land dag Befunde,
Das Gute und Natürlie. Die Großftadt und das Land, das ijt fein Gegen⸗
fat zweier geograpbijder Räume, die aufeinander angewiefen find, fondern
es find zwei Schidfalsräume, die fid in bezug auf den Willen zur ©eftal-
tung der Sufunft gegenüberftfteben.
Aber Der Unterſchied ift, Daß Die Natur der Aufflärung wirklich der
Ausdrud einer neuen und großen Hoffnung war, die fich natürlich wie
alle Hoffnungen diejer Art nicht erfüllen fonnte, aber bod das zur Ar»
beitsleiftung nötige Gefalle fchaffte, während der Kampf unter dem Sym⸗
bol unferes Landes geführt wird aus dem Wertipftem einer vergangenen
Zeit heraus. Dort ein dynamiſches, mit redolutiondren Energien geladenes
Ideal, bier ein ähnliches von ausgefproden ftatifHem Gehalt. Dort wird
jener ewig wechlelnde und ewig zündende Begriff der „Bernunft“ an die
Ränder der Zufunft gefebt, bier ift es eine Bernunft, gu der „Die Leute
{don wieder fommen werden.“ Aber die Leute wollen keine Bernunft,
Die fie [don einmal bejeffen haben oder bon der fie beſeſſen gewefen find,
fie wollen felbft die älteften Wabhrheiten an einen neuen Ausdrud gebunden
feben. Und Die Leute haben Rect. Das Land unferer Seit aber gleicht
einem Watur[dubparfe oder einer Injel, die Durd Deide und Wellen-
breder miibjam befeftigt wird, und die Borftdpe aus ihm gleiden den
Ausfallen aus einem faft verlorenen Gebiet. Der Glaube an diejes Land
ift eng verwandt mit dem romantiſchen ®lauben an jene nordijche Rajfe,
mit der man das Bolf wieder „aufzunorden“ gedentt. Der Glaube an das
Land ift der Glaube eines untergebenden Beftandes, der, ohne es zu wiffen,
auf die Macht innerlich [don verzichtet Hat, er ift ein Symbol Der natio-
nalen Krijis unferer Zeit.
Wiederholen wir es, damit wir uns recht derftehen: diejeg Land ift fein
tatfächlicher, fondern ein geiftiger Raum. Aus ihm Heraus wird der größte
Seil bes Kampfes für die nationale Grneuerung beftritten, eines Kampfes,
der nod) beute nicht die richtige Front gefunden hat. Man könnte ihn aud
das Land Gidtes nennen — aber Diefes Land gibt es nicht mehr. Wir leben
einer anderen Seit und in ihr wird fih nur der durchſetzen, der ihre
wefentliden Kräfte bejaht der ihre Eigenart durchaus anerkennt und nicht
der, der fie verneint. Aud der Beift Fidtes war fein Geift der Erneue-
rung, es war rebolutiondrer Geift, der Kräfte entlud, die reif geworden
578
waren zur Sat und bie nicht länger brad) liegen wollten. Aber was geftern
rebolutionär war, ift heute eine Selbftverftändlichkeit. Und nicht auf die
zeitbedingte Argumentation diejes Seiftes fommt es an, fondern auf dad
abfolute Maß feiner ®lut und Spannung, die fic heute in gänzlich anderen
Arbeitsgängen als damals verzehren muß. Andere Kräfte find es, die
brad liegen für den Dienft an der Nation, und ein anderer Geiſt ift es, der
fixh ihrer bemadtigen muß. Nicht, daß wir fo werden wie Damals, ift das
efentliche, fondern daß wir alles, was wir Heute find, in Die jchärffte
Form gu preffen derfteben. Mit anderen Worten: ein neuer Nationalismus
tut not. Diefer Nationalismus deutet fic bereits an unter jener Schicht,
die bas „Land“ unter Tradition verfteht, ſcharf unterjchieden bon ihr und
aud mit einem gang anderen Bemwußtfein diefer Tradition. Denn was
bilft es, Diefes Wort herunterguleiern bis gum Ueberdruß? Nichts wird
dadurch geändert, daß man den alten Bris mit allen Mitteln der modernen
Reklame propagierrt. Gs gibt aber neben der bewußten Ueberlieferung der
®efdidte einen unbewußten Sharalter des Blutes, und auf ihn kommt es
an. Gs gibt eine Tradition des Toten, und gewiß ift bas Tote verehrungs⸗
wert, aber es gibt aud) eine Iebendige Tradition, und auf ihr beruht die
Möglichkeit der produttiven Fortſetzung jeder Hiftorifden Linie, fie allein
wird uns befähigen, wenn es not tut, ein Roßbad) zu fchlagen in den Fors
men unferer Seit. Das Blut wiederum ift für den neuen Nationalismus
nicht wie für das „Land“ ein vorwiegend biologifcher, fondern ein por»
wiegend metaphyſiſcher Begriff. Das Wort Raffe beginnt in feiner An»
wendung ebenfo peinlich gu werden wie das Wort Tradition, und es muß
betont werden, daß alle Reinheit und Hodgudt des Blutes bedeutungs-
Ios ift, wenn nicht jenes unfaßbare Mehr Hhingufommt, daß die Blut-
lörperchen, wie immer fie unter Dem Mikroſkop ausfeben mögen, mit ben
geheimmispollen Energien eines fpezifilchen Lebens begabt. Diefe Energien
laffen fi nidt „erneuern“, fie find vorhanden oder fie fehlen, und dann
ft alles vorbei. Sie miiffen aud vorhanden fein in der modernen Groß»
ftadt und dort ihre Gorm finden, wenn unfer Bolt nod Yulunft bat, denn
alles, was in dieſer Sufunft gefdiebt, wird immer mehr bom Seifte der
großen Stadt beftimmt.
Das Land, diefer geiftige Raum, für ben man unter vielen anderen
aud) das Wort Patriotismus einſetzen fann, wird fic mit diefer Tatfade
abfinden mülfen. Wir miiffen eindringen in die Kräfte der Grofftadt, in
bie Kräfte unferer Beit, bie Mafdine, bie Maffe, den Arbeiter. Denn Hier
liegt bie potentielle Gnergie, die für die nationale Erſcheinung bon morgen
in Frage fommt, und alle Völker Guropas find an Der Arbeit, fie nugbar
gu machen. Berfuden wir, die Einwände einer verfehlten Romantik in
uns zu befeitigen. Diefe ftellt die Mafchine in GOegenſatz zur Kultur —
übrigens aud eins jener Worte, deren Bedeutung wieder wachſen würde
Durch mäßigeren Gebraud. Mafchine und Amerifanismus find jedoch zwei
verfhiedene Dinge, und falls unfere Zeit eine Kultur befitt, wird fie nur
duch Majchinen imftande fein, deren Lebensraum zu erweitern oder zu
verteidigen. Wan fieht in der Maffe den Untergang der Perfönlichkeit.
Aber gerade die Maffe wird einen entfdloffenen und unbeſchränkten
Giibrerthp erzeugen, der weit weniger Bindungen feines Handelns befist
579
als felbft der Fürft in einer abfoluten Monarchie. Man fagt, Der Arbeiter
fet mternational. Aber gum ®lüd find aud Arbeiterjhaft und Marzis-
mus nicht dasſelbe, und nicht nur das Beifpiel bon 1914 bei allen friegs
führenden Böllern, fondern aud) Greigniffe der Nachkriegszeit Haben gee
zeigt, Daß ber vierte Stand aud) für andere Ideen als für Die des hifto-
riſchen Materialismus empfänglich ift. Schon heute treten Arbeiter, die
den Marzismus in fic überwunden haben, als nationaliftiide Maffen-
führer auf, und es beißt nicht, fic einer Utopie bingeben, wenn man den
Arbeiter bon Heute zu den Wationaliften bon morgen zählt. Das Wort Ra-
thenaus, daß dem vierten Stand die Führung ber großen Geſchicke nicht
mehr zu entwinden fein wird, ift richtig, aber es wird fic in einem anderen
Ginne erfüllen. GS werden feine weichen, weder Dbemofratijche, parlamen-
tarifche, internationaliftijde, noch pazifiſtiſche Organe fein, deren fid dieſer
Stand bedienen wird. Es werden bie Organe eines neuen Nationalismus
fein, der fic) wiederum als eine überperjönlide Idee die revolutionären
Möglichkeiten ber Arbeiterfchaft als Werkzeug und Motor fudt.
Diefer Nationalismus ift ein gropftadtijdes Gefühl. Mag er feine
materiellen ®rundlagen mit dem Lande verdanten, fo lebt bod) alles, mas
ihn auszeichnet an Geuer und Beweglichkeit der Idee im geiftigen Bann-
freife Der Stadt. Man mag fic zu diefer Satjache Stellen wie man will,
aber man foll fie nidt nad Maßen beurteilen, die nicht mehr gültig find.
Das Wejen diefer Wandlung und das Wejen des Nationalismus über-
haupt, der nicht nach dem Kriege wieder zu erweden, fondern Der erft mit
ipm und durch ihn entftanden ift, wird nur Der verſtehen f5nnen, Der eine
lebendige Tradition in fic trägt. Der große Krieg felbft ift em gutes Bei-
{piel dafür, wie Das Weſen ber Stadt fic Des gefamten Umkreiſes unferes
Lebens zu bemächtigen beginnt. Die Schügengrabengeneration zog hinaus
in der Erwartung, einen fröhlichen Krieg im alten Sinne, einen Feldzug
eine Gampagne erleben zu Dürfen, aber das, was fie auf den großem
Sdladtfelbern Frankreichs fanden, war etwas bon Srund auf anderes.
Sewif ftanden dort die Söhne aller ®aue ihren Mann, aber ebenfo wie
die Landichaft des Schlachtfelbes feine Naturlandfchaft, fondern eine tech“
nifde war, Jo war der ®eift, in dem der einzelne bewegt wurde, ein groß-
ftädtifcher Geift. Großſtädtiſch ift Die Materialfhladt und nod mehr die
[pate Bewegungsſchlacht der Maſchinen, die jid aus thr entwidelte, und
jede Art der Erhebung, die nicht bom Zentrum der Städte ausgeht, wird
bon bornberein gum Scheitern verurteilt fein. Oewiß find nicht die Mittel
Das Wefentlide, aber Durch die Wahl der Mittel fpricht fih das Weſent⸗
lide aus.
Hoffnung fehen wir Daber auf ben Srontfoldaten, der in einem moe
dernen ®eifte des Handelns, der Kühnheit und der Opfermwilligkeit er-
zogen ift. Seine Organijationen gehören ebenfowenig gum Land, wie fie
etwas zu tun haben mit Ben Rriegerdereimen einer früheren Zeit. Aus
ihnen fpridt ſchon der Salt der Maffe, Die aus der Form der BolfsHeere
des 19. Jahrhunderts heraus eine neue Gorm zu gewinnen fudt. Denn
aud) die Bolfsheere verförpern feinen an fic richtigen ®edanten, fondern
fie find verwurzelt in einem ibeellen @runde und eingebaut in em fogiales
Spftem, von deffen Aenderungen fie funktional abhängig find. Alles ftebt
580
in Beziehung gu feiner Seit, und alles wird beftimmt durch Die Formkraft
eines metaphyſiſchen Willens, den wir anerfennen müffen, ohne hoffen zu
dürfen, ihn jemals begreifen zu können. In der Hiftorifhen Betradtung
mögen wir die Abfchnitte der Manifeftation diefes Willens gegenein-
ander werten, tm tätigen Leben febod gibt es für uns als Träger Der
{ebenbigen Kraft nur einen, nur den Willen unJerer eit. Mur in ihm
und burd ihn fann es uns gelingen, den Bätern ebenbürtig gu fein.
Diefer Wille verkörpert fich Heute Durch die große Stadt. Unweſent⸗
lid ift es, ob man Die Oroßſtadt wertet als eine erfreuliche oder unerfreu-
lide Srimeinungsform. Weſentlich ift, daß fie das Oehirn ift, Durch das
der Srundwille unferer Seit Sent, der Arm, mit dem er ſchafft und jchlägt
und das vermittelnde Bewußtiein, durch weldes bas Endlide das auf-
nimmt, was bas Unenblide ibm zu jagen bat. Werfen wir uns hinein in
Diefe Seit, Die ihre verborgenen Schönbeiten befigt und ihre eigenartigen
und fafzinierenden Kräfte wie jede andere, und derfucen wir, ganz die zu
werden, die wir find. Das ift ein befferer Dienft an der Nation als jene
Romantit eines entlegenen Raumes und eimer verfloffenen Zeit, die den
großen Aufgaben, die uns beporftehen, nicht gewachſen find.
Srnft Jünger.
Der Proletarier.
1.
as Wort Proletarier hat heute einen fehr vieldeutigen Sinn; nicht nur,
Daß bie verſchiedenen Menjchen ganz derfdiedene Begriffe Damit ver
Dinden, fondern es läuft bei dem, der es ſpricht ſowohl, als aud) bei dem,
der es bört, ein oft nicht recht beftimmbares ®efühl mit unter: Haß, Mit
leid, Standesbewußtfein, ®efühl einer neuen Zukunft, einer anderen Raffe
ufw. Der Proletarier ift nicht mehr nur der Kinderreide, er ift zunächſt der
Berarmte, Der Ausgeraubte im Gegenfage zu feinem Rauber, dem ,,Kapi-
taliften“. Und wie man im Kapitaliften heute nicht mehr nur den fidtbaren
Bertreter einer gejchichtlich gewordenen und wiſſenſchaftlich begreifbaren
Wirtſchaftsform fieht, Sondern dies Wort gleichzeitig haßaufreizend wirft,
fo ift der Proletarier nicht mehr bloß der Diener des Gabrifherrn, fo wie
man früher Knedte und Mägde, ber Offizier feinen Burfchen, der Ritter
feinen Schildfnappen batte, jondern bei den Unterhaltungen der Rapi-
taliften untereinander und mit ihren „Oegnern“, den Arbeitern oder ihren
Bertretern, fchwingt fehr oft Der Nebenton des Triumphes, ja ber Vere
adtung über einen befiegten ®egner vielleidt ungewollt und ungewußt
= berborgerufen durd das Bewußtfein, daß es um einen Klaffenfampf
t
Ober aber der Proletarier ift der Ungebildete, er Hat feine guten
Manieren, weiß fich nicht zu benehmen in der „guten ®efellfchaft“, bat eine
andere Schulbildung, ein unvollfommeneres Wiffen, und man will ihm
helfen, Daburd, daß man das Wiffen ins „Boll“ bringt. Man bemitleidet
ihn und feine Lage, Mitleid aber beleidigt den, den es trifft, er fühlt
tn dem, der ihm helfen will, den Pharifäer, ber fid) mehr diintt als er
felbft, nimmt alles, was man ihm reicht, als ein Almofen, fühlt es als
581
einen DBroden, wie man ifn dem Hunde Hinwirft. Sr fühlt fic als ber
Angehörige der Kafte ohne Recht, fühlt fid als Paria ſchon durch Seburt,
wird angefeben als Der Angehörige einer niedrigeren Raſſe und verlangt
ein Recht, Das ihm Doch wegen feiner @eburt beftritten wird.
Und nod ein Drittes: Der Proletarier ift der ArbeitsfTlape. Seine
Arbeit ift ein Werfeln nur um Lohn, er ift in einen toten Mechanismus
eingeipannt, ſchafft ohne Sinn und ohne Freude, weil er nicht fiebt, was
und wofür er [hafft im Oegenſatz etwa zum Künftler Der aus der Lebendig-
feit Der inneren ©ejichte ſchöpft, fich mit feinem Stoffe müht und mit dem
Stoffe ringt, bis er ein Werk als Ausdrud feiner Sehnſucht Iebendig vor
fi) fieht und es genießt als [eine Sat. Dann ift das Proletarierfein
nicht mehr nur eine Frage des Befikes, denn Broletarier ift Dann ebenfo
der Angeftellte, ja der Beamte, der tm Mechanismus des modernen Wirt-
{Gaftslebens irgendwo an einem winzig fleinen Stellchen fist, wo er ftets
Diefelbe öde Alltagsarbeit gu verrichten Hat.
Und gerade weil in dieſem Worte fo ganz verſchiedene Begriffe durd-
einanderlaufen, eignet fids als Schlagwort für politijde Parteien. Ss
bringt ganz verſchiedene Menfden mit gang verjchiedenen Zielen unter
einen Sut. Gin jeder Unzufriedene fühlt fic irgendwie enterbt, an irgend»
was verarmt. Gs braudt ibn nur der Haß zu treiben und zu Blenden, dann
ift er Proletarterbon ®efühl.
Dagegen gibt es nur eine Hilfe: wenn es gelänge, das Wort aus diefer
Dumpfen Sphäre des Gefühls Herausguldfen, es Har zu durddenfen und
aufgubeben in Die reine Welt der Begrifflidfeit. Dann könnte aus der
ungeordneten und unfrudtbaren Streiterei ein tapferer Kampf der ®eifter
werden, in dem die großen Gegenfage der Weltanſchauungen ausgetragen
werden, wie fie bon je bie Geſchichte der Böller und der Menſchen bor-
warts getrieben und bewegt haben, lönnte ausgetragen werden im Ange
fichte der Swigfett.
2.
Der Proletarier gilt als entftanden mit Der modernen Wirtſchafts⸗
form, mit der Kultur und Dednif der Mafchine. Die Maſchine wiederum
ift nur möglich durch die neue wiffenfdaftlide Srforfhung der Natur.
Der Menfd verfudte die Natur Dadurch zu bejiegen, daß er fie begriff,
daß er fie bis in Die lebten Falten mit dem „lumen naturale“, mit dem
Lichte der Bernunft durchſtrahlte. Er ftellte {id Die Aufgabe, alles ſinnen⸗
haft Zufällige jo lange zu bearbeiten, zu zerlegen, zu zerdenten, bis er auf
legte unteilbare Elemente ftieß, aus denen er Die Gille der Einzelerjchei-
nungen mit Hilfe einer notwendigen Wirkungsgeſetzlichkeit abzuleiten bere
mochte.
Bet diefem peinlid rednenden, ſachlich ordnenden Geſchäfte ftörte
natürlid Der Menfc in jener Menſchlichkeit, fein fühlend, wol-
lend, durch Freud und Leid, Furdt und Hoffnung leidenjchaftlich bewegtes
Wefen, denn feine triebhafte Sinnlichkeit trübte doch immer wieder Die
leibenfdaftslofe, „objekitve“ d. h. vernünftige Erfenntnisarbeit. Das Ideal
Des Weifen ift deshalb zu dieſem Ideal der Durch Vernunft zu begreifen
den Natur die notwendige ethifche Entipreddung. Die Weisheit fonnte aber
582
nur perlörpert werden, wenn es gelang, Die leidenfchaftsperjochte, Den
Süchten feines Blutes unterworfene Impulfivitat des Menſchen fo abau-
droffeln, daß fein Intellekt bon der Gurdt und Hoffnung, don der ®ier
und Liebe nicht mehr geftört wurde. Die Vebenshaltung des Menfchen,
ber einer folden bis ing lebte wijfenjchaftlich begriffenen „natura“ als dem
Dafein der Dinge, foweit es durch) allgemeine Geſetze darftellbar ift, würdig
wäre, fonnte nur ftoifch fein; ftoifch bier perftanden als den denkbar ſchärf⸗
ften ®egenfat zum Chriftlichen. |
Der Shrift fucht Der Leiden und Leidenjchaften, Triebe und Sehnfüchte,
wie fie den Menſchen als dem in die Srdenbeit verftridten und der Sinn»
Itchleit verbafteten Weſen eignen, dadurch madtig zu werden, daß er fie
als feeliiche Energien, als dem Leben innerlichft entquollene Ströme bejabt,
fie als Satfaden anerfennt, fie aber bon ihrem irdiſch zufälligen Ziele ab-
leitet und überführt in Die Arbeit für ein von Heiligkeit umwittertes, Ewig⸗
teit verheißendes Sein, ein Sein, das bon Uranfang gejebt und deshalb
göttlich gültig ift, fid) aber aus feiner Gwigleit und Abgeſchiedenheit ins
Dafein feHnt und deshalb nicht nur fähig, fondern aud) liebend bereit ift,
bas menſchlich⸗ſeeliſche Leben in fid aufzufaugen, es zu heiligen, zu er-
Iöfen, fo daß die Blüten der Himmlifden Liebe aus uns [prießen. Den
Haß etwa, den er gegen feinen Geind empfindet, befiegt der Chriſt nicht
dadurch, Daf er ibn erftidt, nein Dadurd, daß er die Energie des Herzens,
die im Haß zutage treten will, umfchaltet, in die Bahnen tätiger Liebe
lenft und damit erlöft. Die Leidenfchaften finnlider Liebe, denen Erfüllung
verfagt ift, wirten fich aus in barmbergigem Dienfte, die Sehnjudten und
Qualen eines einfamen Herzens um Erhörung werden durch das Sebet
gleidfam transformiert, veredelt, aber nicht erftidt, jondern fie treten gue
tage als bie Berfündigung und das Befenntnis zu einer neuen froben Bot-
{daft an die anderen (Pauli Miffionsarbeit, Luthers „®laube“, ber fid
in Den Werken auswirkt).
Der Stoifer aber rettet fic por feinen Affelten durch die Flucht: er
verfapfelt ſich in eine Welt der ftarren Unerfchütterlichteit.
8.
Wie dürfte aud ein meffender, wägender, rednender Gorfder wäh-
xend feiner Arbeit bon Liebe oder Haß durchglüht fein! Da könnte Doch
Die Hand zittern, er könnte fich verrechnen, vermeifen oder verwiegen.
Damit begann aber gerade die Forfdung Galileis und Descartes, daß
fie die „Natur* — bis dahin noch ein gdttlid) Durdlebtes, mütterlich ge-
bärendes Wefen, das in allen feinen Zeilen blutet, pulft und bebt — mit
einem We bon Formeln und ®efeten fo durchzogen und umſpannen, bis
fie Dies mythiſche Weben fchließlich erwürgten, und fein Schöpfer mehr auf
unferer Welt und Erde twaltete, weil alles „more geometrico* augein-
ander folgte (Spinoza).
Genau ebenfo galt jest als wahres Menfchentum nicht mehr der Friede
und die Seligfeit ber Srlöfung — das war ja „nur“ mehr „®laube“, Den
man wiffenfdaftlid oder moraliſch überwinden mußte! — fondern man ere
ftrebte die ftarre Rube bes affeltgebändigten Weifen oder des klar bes
ftimmten Wiffenden auf allen ®ebieten der Vebensgeftaltung.
583
Diefelbe Zeit, bie in der Natur ein Buch erblidte, das in ,,Sriangely
Maß und Zahl gefdrieben war“ (Galilei) — und was hatten geometrifde
Sormeln und Molefularbewegung nod) für eine Aehnlicdleit mit Dem wirk⸗
lid Lebendigen, etwa mit bem röhrenden Hirfh oder dem grünenden
Baume! — diefelbe Zeit erfand aud das Ideal der Bornebmbeit, der Oa⸗
Ianterie, der Far errechnenden Lebensfunft.
Im der Antike übten diefes „Anfichhalten“ (epoche) gunddft bie „Skep⸗
titer“. Sie tradteten bon einer Frage zwar alles Material zu fammeln,
wollten aber felber in der Welt der reinen „Betrachtung“ (Sfepfis) blet-
ben, weil jedes Für und Wider als eine Willensentjcheidung die „Objel»
tipität“ Des Betradteten und des Betrachters verfälfchen würde. Aud
beute aber gilt eg, etwa in der Hiftorie, nod als wiffenfdaftlide Tugend,
wenn man bei einer beftimmten Frage alles Für und Wider wägt, felbft
aber jene „retentio affenfus* (Giceros Ueberfebung für epocde) übt, d. 5.
fid jeder Stellungnahme entgiebt oder fie fid) „porbehält“, um nur ja
nicht fein Herz fpreden zu laffen, felbft wenn es um Sein oder Widtiein
unferer innerlichften Wiinfde gebt wie etwa bei den Fragen unferer
Deutichen Ehre. Denn Has ift weije!
Diefelbe beberrichte Buriidbaltung übt aber ber antife Cpifurder,
wenn er fic in feinen ®efühlen nicht irgendwie zu binden tradtet. Gr
wollte fich nicht engagieren, fondern bon feinen Garten aus lüächelnd dad
Sreiben Hiefer Welt beichauen, zwar an allem nippen, aber ja nicht fid
feftfaugen oder Die Glut des Herzens entfachen. Dies ift genau die ,, Bore
nehmheit“ unferer Zeit: man will fid nicht beſchmutzen, die Erde nicht be»
rühren, läßt fic) Die Liebe und das Brennen feines „Mädelchens“ wohl
gefallen, nimmt fie aud mit, aber fobald man merkt, daß man felber
Wurzel fhlägt, zieht man fid zurüd und wahrt feine Unabhängigfeit (als
philoſophiſche Haltung verkörpert in Kedferlings „Tagebuch“).
Dasjelbe zeigt fih m der Kunft. Gin „hriftliches“ Kunſtwerk, fei's
bas Gdnibwerf eines Heiligen, ein Befperbild, der Bamberger Reiter,
eine Zeufelsfraße oder felbft ein tanzender Narr aus mittelalterliden Zei-
ten wirft fo, alg habe bier ein inneres Oeſicht Geftalt gewonnen, als fei
die Flamme überirdifher Sehnjucht inmitten ihres Loderns bier erftarrt
— der Adel Laiferliher Majeftät, das bölifche Segrinfe oder närrifche
®ehabe liegt nicht nur in der Körperftellung und Gliederbaltung, fondern
baufdt und fältelt aud die Kleider, zwängt fid ins Haargelod und ruht
nicht eber, als bis das Heinfte Büfchlein Gras pon der gewollten Wirkung
durchfättigt und burdgoffen ift — die Kunft der Renaiffance Dagegen
will flare Mafje, baut ihre Figuren in geometriſch fdinen ©ebilden auf
(Raffael), fuct den Körper nach mathematiſch begreifliden Berhaltniffen
gu beichreiben (Lionardo, Dürer) und lernt Anatomie und Peripeftive. Den
Griffel oder Pinjel oder Meißel führt jebt nicht mehr der Ueberſchwang
dionyſiſch quellender Empfindung, die nad Grldfung fchreit, das Kunft-
wert ift ein Abbild des augenhaft richtig Befebenen, nicht mehr Gea
ftaltung des bon Der Seele GSefdauten. Dem einen ift die Runft der Aus
Drud tieffter Grgriffenheit, dem anderen bloßer Schmud des Lebens.
Srünewalds Madonna entiprang der ehrfürchtigen Anbetung des Weih-
nachtswunders, fie ift wirklich die mit ®ottes Sohn begnadete Mutter,
584
Aus dem Deulſchen Vollstum Naturlandihaft
die raffaelifchen find nur irdiſch Ihöne Weiber. Dem einen ift dag Schaf⸗
fen Andadt, Sebet, Liebesqual, faugt alle Energien feiner Seele auf, Der
andere bedarf der Klarheit der Betrachtung, feine Begierden und Wünſche
miffen während feiner Arbeit ſchweigen, Danad) können fie ji — fogar
an Demfelben Segenftand — defto Hemmungslojer austoben. So aber ift’s
mit allen Lebensformen: es werden die Adern, Die die Wärme des Gre
Iebniffes aus dem miitterliden Urgrunde unjerer triebbaften Sinnlichleit
in Die ®ebilbe bes ordnenden Seiftes ftrömen laſſen, unterbunden, um
deren ,reine* Bernünftigfeit nicht zu trüben. Nun können zwar alle diefe
Seiftesformen: Kunft, Wiſſenſchaft, Religion, Redt und Sitte gang nad
den Forderungen der Bernunft fonftruiert werden, aber fie verlieren Dabei
ebenfo die erdhafte Kraft der wirklich gelebten Vebendigfeit, wie nun Ber
irdifhe Menſch der Lenkung des Geiftes entbehrt und dadurch verdammt
wird, Haotifd ungeordnet in den Niederungen feiner Tierbeit gu ver»
fdwelen. Das Sejellichaftsideal der Renaiffance etwa, das fid) bom
Staate des Gonnenfinigs über unfere ganze Welt verbreitete, ift Der
®alant humo, der ftets beberrfchte, geiftreich tändelnde, durch Wik und
Spott alles zerfebende Kopf. Unter diejer glasflaren Oberſchicht brodelt
Hemmungslos, weil ohne Lenkung eine ungebändigte, auf bloße Fleiſches⸗
und Sieresluft geftellte Gefdledtigfeit, Die man aud) zyniſch befennt.
Diogenes aber, der mit Abficht jchweiniihe „Hund“ — das Heißt Zynis⸗
mus todrtlid! — ift ja der Bater der Stoa. Kein Wunder, wenn man, ere
froden über diefe Sierheit, nun fie abgudroffeln fudte. Best lebt man
in zwei gang beziehungslofen Welten: mit dem Kopfe in den falten Gormen
des efprit gleichjam gläfern eingefargt und mit bem Unterleibe in einem
Hexenkeſſel bloßer Sinnlichkeit brennend; bie Welt des Hergens und der
Geelenhaftigfeit Dagegen, in der Dod bas wahre Menjchentum erft madft,
ift bon oben und bon unten abgefchnürt, erftidt und aus unferem lebendi⸗
gen Körper gleihfam ausgefchnitten. Am deutlidften tritt diefe Haltung
zutage in der Staatsweisheit des abfoluten Herrſchertums.
Hobbes ſpricht das flar und deutlich aus, Daß es fim darum Handle,
bie „Beſtie“ Menſch — beftia und Tier Dod nur deshalb, weil nit jede
feiner Handlungen der „reinen Bernunft“ entfprungen ift — gegabmt were
den müffe durch Die Staats-“raijfon*, eben weil feine natürliche Selbftfucht
fo geile Schöße treibt, daß fie den Gang der Staatsmajchine lähmt. Man
fordert alfo feine lebendige Staatsgefinnung, Die Gut und Blut dem ans.
geftammten Land der Bater zum Opfer Bringt, vielmehr ift der Staat —
man Denfe nod) an Kant — eine reine Negation, ein notwendiges Uebel,
der mir meine Rube garantiert, wenn id feine @rengen rejpeltiere, mehr
ein noli me tangere als eine Welt, Die unfer Denfen und Trachten in
fic faugt. Weld ein Abftand des Ideales eines heiligen rdmifden Reiches
ſaliſch⸗ſtaufiſcher Herrlichleit bon dieſer Maſchine zur Förderung Des
Wohlftandes der Nationen, wo die Rube erfte Pflicht des beichräntten
Untertanen ft.
Das Leben als Leidenſchaft ift aber aud) für diefes Staats- und See
redtigfeitsideal der Urgrund, Der von einer Welt der reinen Bernunft
überbaut wird, nur bat fid dieſe „lebendige“ Welt bon den Bufallig-
feiten des Lebens zu ftarrer, geltender Notwendigkeit gereinigt — das
38 Dentidhes Doltstum | 585
„natürlihe* Necht ift nicht das, was bon einem Bolfe mit gang be-
ftimmten Anfprüden an das Dafein, mit volfhaft eigenen Bebenszieden
in Auseinanderfegung mit dem ibm gegebenen Lebensraume entfteht —
das jus naturale ift Das Recht an fich, ift das Redt, das für alle Sei-
ten, für alle Böller gültig ift oder fein foll, wie das Naturgefes für
alle Galle gilt und auf alle Dinge zutrifft.
4, \
Dod Beiftesihöpfungen Haben ihre Dämonie: erft Ioden fie Ben
Menfden, dann wollen fie nicht mehr bon des Menſchen Onaden leben,
find fie fid dod in fic felbft genug, ja fie erheben fogar Anſpruch
auf den ganzen Wenfden. Das Sefddpf der neuen „Natur“ ift die
Mafdine. Durd fie gewinnt bie neue geiftige Welt ihre Macht übel
den Menfchen.
Gs handelt fid nun nidt mehr Darum, wie bewältige id bas Leben,
wie Tann ich das Lebendige Burd die Wiffenfdaft begreifen und in Die,
Gormen der wiffenihaftliden Erkenntnis überführen, wie fann id bie
toben Sriebe und widerfabliden Strebungen Der Menſchen bändigen,
fondern darum: welde Wirkung Hat das nun geformte und wiſſenſchaft⸗
lid) geformelte Weltbild im menfdliden Leben. Die vorher geſuchte
Ordnung ift nun gefunden und gegeben, das vorher als Tatſache ge»
gebene Leben wird nun zum Aufgegebenen — aufgegeben als das zu
erftrebende Ziel, aufgegeben aber aud) in dem anderen Sinne als das,
was feine Bedeutung mehr für mid bat oder haben darf.
Der Arbeiter an der Mafdine hat ein gänzlich anderes Berbältnis
zum Arbeitsproduft als der Handwerker zu feinem Werf. So wie Die
Wiffenfdhaft die Welt begreiflid madte dadurch, daß fie fie in kleinſte
unfinnlide Teilchen gerlegte, die nur ein fonftruiertes Hilfsmittel find,
um Die Srfdeinungen matbhematifd exalt durh Maß und Zahl zu be-
ftimmen, fo atomifiert der Sednifer den Arbeitsporgang. Der Arbeiter
bat nur mit einem ebenfo abftratten, mit Dem Sndprodult oft in feiner
Weiſe Ähnlichen Arbeitsteil zu tun; für ihn fommt es nur Darauf an,
den Zeil des Arbeitsporganges, der zeitlich und in der Raumabmelfung
Srtlid genau beftimmt ift, zu erledigen, er wird ſozuſagen felbft Atom
(Gord). Dazu ift er aber defto mehr befähigt, als er alle Leidenfchaft,
Greude, Hoffnung, Furt ufw., Die ihn davon abhalten lönnen, den be»
fttmmten Hebelbrud in der genau beftimmten Zeit zu tätigen, unterdrüdt.
Die Wirkung der Arbeit auf ihn, vergliden mit der des Handwerfers,
muß eine abnlide Seelenbaltung auslifen, wie fie der Stoifer bat im
DBergleih gum Chriſten.
Die Moral des Handwerfers, feine Sreue, Sparfamfeit, Sewiffen-
haftigkeit, fein peinlider Ordnungsfinn entipringen ja feiner Arbeit, Bie
Hn dazu zwingt. Die Arbeit, der er fid opfert, bejchentt ihn aud. Weil
fie beftimmte Kräfte fordert, übt und ſtärkt fie fie aud, fo wie fid Die
Musteln Hurd) Uebung ftärlen. Daber ftammt das Bewußtſein der
Würde, das die alten Zünfte befeelte, weil fie einen Inhalt und einen
fittliden Oehalt verlörperten.
AeHnlid wie beim Ehriften werden die Tatigfeitstriebe des Hand»
586
EE TET EEE Se eee Samen eee
werlers mitfamt feinem Aftbetifchen Fühlen, feinem fittliden Wollen vere
braudt und Sadurd geübt in der Seftaltung feines Werkes. Der Ar-
beiter aber wird in die ,epode* gezwungen und gezwängt. Die Mafchine
nimmt ihm die Arbeitsleiftung ab, Der organifierte Arbeitsporgang das
Denten. Die Ichaffenden Kräfte, die erft in der Seftaltung eines Werkes
poll zur Entfaltung fommen, werden gar nicht mehr benötigt, alfo aud
nicht mehr befriedigt und befriedet. Entweder fterben fie nun ab; Ber
Proletarier ift tatfächli der Gnterbte, er ift entfeelt und entfinnlidt.
Oder aber diefe Triebe und Kräfte werden verdrängt, um in Neurofen
auszuſchwären oder in Perverfitäten auszubrechen — man Dente nur an
bas moderne Gerbredertum. Der Handwerker wird beſchenkt durch Die
Greude und den Stolz auf fein Meiftertum, der Arbeiter wird entloHnt
burdh — Gelb.
5.
Das Selb aber ift die Srjcheinungsform des Atomes in der ratio»
nalifierten Wirtfhaft. Wie das Atom allen Memifden, phyſikaliſchen.
optiihen Progeffen zugrunde liegt und in ihnen zur Wirkung fommt,
obne daß es im entfernteften Die Eigenſchaften Der Sinnes- oder Seins“
qualitäten Hätte — es ift ja ein bloßes Quantum, aus dem alle Quali»
täten entfteben follen dur Bewegung — fo ift Das ®eld felbft feine
Ware, fann aber jederzeit in Ware umgewandelt werden. Selbft gänzr
lid) abftraft wie das Atom, braudt es, um wirkfam gu werden, wie das
Atom die Naturgejebe, einen geſetzmäßig funttionierenden, gänzlich ber
Abftraftheit Hes Materials bingegebenen Berftand. Die eigentlichen
Diener des Kapitals find affetifd — ftoifh in Ihrer Lebenshaltung, fie
dienen dem ®elde um Des Geldes willen. Der Haß macht fie wohl Zu
Büftlingen merowingtfhen oder garifdhen Sebliites, aber man darf bie
gänzlich ungebändigten ®enüßlinge, Die ung die Inflation aus dem Often
befdert Hat, nicht verwechleln mit den Fürften des ®eldes, lebten bers
feinertften Züchtungen einer ftreng affeti{den, Dem Ienfeitigen berbafte-
ten MReligioftät, Die Die lang geübte, puritanifch ftrenge Bußhaltung
ihrer DBäter im Dienfte für das abftraltefte Produkt, bas Selb ver-
brauchen.
So leben denn diefe Regenten des Kapitals wie ein König Midas;
was fie berühren, verwandelt fid in Geld: ein Land, ein Boll, ein jedes
Ding bat ®eldeswert, und wenn es nicht in Geld umzufeben ift, dann
bat es eben feinen Wert, genau wie jede Sinnesqualität durch Quan»
titäten ausdrüdbar ift. Das „Leben“ als der Strom der finnlid fatten,
feelifd erfüllten Griebniffe ift für fie vertrodnet, Dat fic verlaufen, weil
das Selb als Zwifchenreich eingefchoben ift. Gin Stüd Erbe als Heimat-
boden, mit dem ich lebendig verwachſen bin, ift ein finn», gum mindeften
ein wertlofer Begriff. Der „moderne“ Menſch, um den Thpus diefer
®eifteshaltung genauer gu bezeichnen, ift international, ift überall gu
Haufe, weil er nirgends eine Heimat hat. Der Raum war ja aud) für
die Atome ein gänzlich abftrattes, mathematifches Gebilbe, Die Raumlid-
keit ift in der Mathematik durch Zahlen, in der Wirtfchaft Durch Geld
ausdrüdbar.
see 587
6.
Der Bauer etwa ift nod gang anders mit Raum und Zeit ber-
wadjen als der Oroßſtädter. Sr ift im Boden verwurzelt, muß fid mit
bem Boden miiben und quälen, der Rhythmus feiner Arbeit regelt ſich
nad dem Ablauf des Jahres. Die Arbeit beginnt mit dem Grideinen
ber Sonne und endet mit dem Grldfden des Lichtes, fie drängt fic) gu-
fammen und verlangfamt fic mit dem Wechlel der Sabresgeit, mit der
Abfolge bon Sommer und Winter, fein Fiirdten und Hoffen hängt am
Wetter: an Sturm und Gonnen{dein. Der Hagel zerichlägt ibm jene
Saaten, zertrümmert aber aud die ftolgen ®ebäude, die fein Herz auf
ihren Segen baute, und fo entjteht eine Lebensperbundenbeit, Daß er
ben Weltenraum — für uns eine errechenbare aftronomifde Größe, ein
mit Maffenpunttsbeziehungen erfülltes Koordinatenipftem — nod als
ein unbeimlid) furdtbares, mit unfaßbar göttlichen Gebeimniffen ge»
ladenes Weſen empfindet, aus dem feiner Seele Ahnungen und Kräfte
guftrdmen, in Das er feine Aengfte und Freuden ausftrahlt als in ein
Wefen, gütig gdttlid und unheimlich teuflifch zugleich Himmel und Erde
find mythiſch Iebendige Perfonen, deren Fleiſch er ift in Brot und
Opferfleifd und deren Blut er trink und Die fic wiederum bon feinem
Blute nähren, in die fein Atem fic verftrömt und aus denen er felbft
den Odem allen Lebens faugt. Beben wurgelt ja nur da, wo fid Der
Menſch mit feinem ,@egen“ftande tätig auseinanderjegen muß. Leben
ift Kampf und Sieg über das Widerftrebende, Lebensgefiible wachſen
nur da, wo Kräfte verbraudt werden, Lebensperbundenheit ift bedingt
durch Bindungen. Die Dinge, an bie id mein Denken, Fühlen, Wollen,
meine Kräfte verſchwende, Die beichenten mid) wieder mit der Seele, Die
id erft an fie verloren babe.
®anz anders der moderne Menſch. Seine Arbeit ift unabhängig bon
Der Sonne, in der Nacht läuft die Arbeit genau fo und genau fo ſchnell
wie am Tage, Häufer maden mich unabhängig bon der Witterung, ge-
babnte Straßen löſen mid ab bom Boden, feinen Unebenheiten, feiner
Sabigteit. Sommer und Winter haben für ihn gar Leine Bedeutung
mebr — gang anders als beim Bauern. Das gefellidaftlide Leben im
Sommer ift dagjelbe wie im Winter, nur in anderer Umgebung. Zwifchen
mir und der Landichaft fteht die „Kultur“ genannte Zipilifation. Ob der
©lobetrotter am @letider der Sungfrau fist, Aeghpten bereift oder auf
dem Meere ſchwimmt, er diniert hier wie dort im Gmofing und weißer
Krawatte, überall bedient bon Kellnern, die nad) Demfelben Schema gee
[Kult find. Der Atem des Landes, die völkiſche Cigenart feiner Be-
wohner umgibt ibn wohl, aber die Schöpfungen feiner „Rultur* — Damp-
fer, Hotel, Auto und Dienerfhaft — bilden fogufagen einen Deich, dee
Das braufende Meer des wirfliden Lebens abdämmt bon dem Boden,
auf dem er bauft, er bat nur die Möglichkeit, am Strand zu fteben und
Wellenfhlag und Wogenfang als Schaufpiel zu genießen.
Dieje Lebensferne, dieje Entfremdung des Menſchen von den Wur-
geln des Dajeins, diefe Berddung des Herzens, Dieje Losgerijfenheit bon
den Quellen des Vebens trifft nun Reid) wie Arm in gleicher Weife.
Ob der Reihe den Winter in Berlin, den Frühling in Nizza und den
588
Sommer in Spisbergen gubringt, er bleibt ebenfo in bie ®ewohnheiten
und in die Nebe Iebensentfrembeter „Kultur“ verftridt wie der Berliner,
der feinen Sonntag bei „Muttern Irin“ verbringt: bie Großſtadt ift ihm
aufs Land vorausgewandert, er findet Dort Dasfelbe Bierlokal, dieſelben
Sanzläle, dasſelbe Kino» und Singeltangeltreiben wie im Qunaparf und
— genießt Natur! Der Unterfdied awifden Unternehmer und Arbeiter
ift vielleiht nod ein wefentlicher: der Unternehmer, der mit feinem
Wagemut und feiner Kraft neue Imduftrieanlagen fchafft, ift ja nod
nicht felbft induftrialifiert, er fteht gu feinem Werte wie der Handiwerter
zu feiner Hände Arbeit. Was er fdafft, entiprang bem Antrieb feiner
Wiinfde, drüdt aus, wie er fich mit Bem Leben und der Umwelt aus-
einanderfebt, ift Zeugnis feines Gleifes, feines Sieges. Gr ift erlebnis-
baft mit feinem Werke verknüpft.
®anz anders fein Nadfabr. Sie find ins Geld geboren. Sie find
des Vebensfampfes ledig. Bei ihnen find all die Ablöfungen bon Der
Erde, bom Rhythmus Der Jahreszeiten, bon den ©®ründen bes Volks—
lebens erfolgt. Gr gebört einer beftimmten Kafte an, den Oewohnheiten
Diefer Kafte, den Dorurteilen, der Denkweiſe feiner Menſchenſchicht.
Sorgfame Sut der Eltern, Sraiehung in einer weltüberlegenen, alles be⸗
fpöttelnden Seiftigfeit entbindet ihn Dabon, fidy mit den Natiirlidfeiten
bes Lebens — und das Natürliche, nidt nur auf gefdledhtlidem Sebiete,
ift Bas Unanftändige! — mit feinen Härten und Freuden auseinander-
gufegen. Proletarierfein wird damit aus einer Grage des mehr oder
weniger großen Befikes zu einer Frage nad) der Stellung des Menfchen
zum erlebnisgefättigten Sein.
T. :
Den Gabrifarbeiter, in ben zerftüdelten, atomifierten Arbeitsprogeß
eingefchoben, nicht mehr in dem natirliden Rhythmus bon einer gu-
und abnehmenden Sonne, bon Sommer und Winter — das Tempo ber
Arbeit bleibt immer dasjelbe, Beginn und Schluß der Arbeitszeit regeln
fic nad der Uhr — in feiner freien Zeit auf Mietsfafernen und ⸗höfe,
auf Kneipen angewiefen, wird Parteidoftrindr, aufgellärt über alle
tagen des Lebens, über das er Befcheid weiß, ehe er’s gelebt Hat, wäh-
rend wahre Lebensweisheit Dem gelebten Beben ent|pringt — tas trennt
ihn, im Lichte unferer Frageftellung gefehen, bon dem reichen Deladent?
Wenn aber fchon eine fo verhältnismäßig geringe Ablöfung aus Bem
Leben in der Natur und mit den Jahreszeiten, wie es Die Domeftifation
unferer Haustiere Darftellt, fo grundftürgende Aenderungen zeitigt wie
Das Rindern der Kühe, die in ihrer Brunftgeit nicht mehr an den
Sabhresrhhthmus gebunden find, die ein Kalb faum nod ohne die Gee
burtsbilfe des Menfchen zur Welt bringen fönnen, wie muß ba Die
bdllige Entfremdung bon der Erde in der Srofftadt auf das Leben
der Menſchen wirken! Der Proletarier ift ber Gnterbte, Sntthronte,
Ausgepowerte, aber nicht enterbt bom ®elde — er fann aud als Reider
Proletarier fein! — verwaiſt von feiner Mutter Erbe, entthront als
Sohn des lebendigen Oottes, verarmt an allen Sinnen und Trieben Der
feelifiden Organe. Homunfulus, im Reagenzglas künſtlich großgezogen,
tft Das Symbol bes Proletariers.
589
Der Menſch verliert dadurch Heimat und Seele. Gr Iebt in einer
Welt, Die gang von praktiſcher Berniinftigfeit gefdaffen worden tft,
[Hlaft Heute Hier und morgen Dortj Denn jede Wohnung ift der andern
gleich, in jeder Stadt findet man biefelben Möglichkeiten der Serftreuung
— man beadte nur, wie in der heutigen Sucht, fi) zu gerftreuen — alle
Andacht ift ja „Sammlung“! — Diefer felbe Drang, fic zu zerftüdeln,
waltet wie in der atomifierenden Naturwiffenfdaft, wie in der mafdie
nellen, technijierten Arbeit. Der Erde möütterlicder Atem erftidte unter
Aſphaltſtraßen, ja felbft die Nacht, aus deren dunklem Schweigen unfer
Dafein neue Kräfte faugt, wenn ihre Urtoelttiefen nad der Haft des
lauten Lichtes wieder Raum und Stimme finden, felbft die Nacht wird
pon uns abgelperrt: bom Lärm der Straßen übertäubt, bom grellen
Schein der Lichter Überfchrien. Wir wiffen gar nicht mehr, wie finfter fie
ift, wir wiffen deshalb aud) nicht mehr, wie bod) erhaben ber Gang ber
Sterne über unjern Häuptern waltet — ja, und das ift Die andere Seite,
wir wiffen nur nod felten bom Abgrund und der Nadt des Todes, don
der Geligfeit Der Himmelswelt. Nicht nur Die Erde ift gebändigt und
überwunden, aud) ©ott ftarb in den Striden unferer Berniinftigfeit.
Wer Dadte da nicht an das Sleidnis bom verlorenen Sohne, der
fic fein Erbe auszahlen lief und es verfdwendete mit Praffen. Wer
aber Hätte noch den Ölauben, daß er zum Bater ginge und ibm geftanbde:
» oater, id) babe gefündigt und mich gefondert bom Himmel und bon
Dir“. Wir find noch immer allzu ftolg auf unfere Künftlichleit und
nähren uns lieber bon den Srebern, die die Säue fraßen. Nun da eine
große Seuerung im Lande ift an allen ®ütern unferer Seele, tut sid
jeder ftolg auf feine Qumpen und ſchilt den anderen Proletarier, als ob
er felber im Fette füße. Denn wer hätte noch den Wut, fic felber feine
Armut gu gefteben? Denn das wäre wohl der Weg, wo wir nad Haufe
fänden. Und Dort Hörten wir die frohe Botfdaft: „Mein Sohn, Du
warft tot und Bem Leben abgeftorben, nun follft du wieder lebendig
werden! nun follft du Dich wiederfinden!“ Wilhelm Bauer.
Die Amerifanifierung Guropas.
1.
I: das entfräftete, entwaffnete und Hungernde Deutſchland feine
legten Energien zufammenraffte, um die europdifde Auseinander-
febung mit dem fiegreid) vordringenden Bolſchewismus innerhalb ber
Deutfchen Grenzen ausgufedten, fanden die Siegerftaaten bas Zuſchauen
Außerft bequem und billig. Se griindlider Deutſchland Hurd feine inne»
ten repolutionären Blutungen geſchwächt wurde, defto langwieriger mußte
der unbermeidlide Prozeß feiner ®efundung fic Hinausgdgern. Ine
zwifchen haben fretlid unfere europäifhen Nachbarn gemerkt, Daß es
eine getoiffe Solidarität im Leben und Sterben der Böller und Staaten
gibt, daß die Krankheit bes einen auf das Gedeihen des andern guriid-
wirkt, und fo find fie uns [dlieblid, wenn aud) nur widerwillig und
Binterhältig, bis Locarno und Genf entgegengefommen. Gs wird nicht
590
Dabei bleiben. Denn Die Seiden der Geit deuten darauf bin, dag
Deutihland den europdifden Borfampf in einer weiteren Auseinander-
febung zu führen haben wird, die weit fohwieriger ift, weil der Feind
teils ungefeben, teils beftaunt, bereits feine Pofitionen mitten unter uns
bezogen Hat. Diefer Feind ift der Amerifanismus.
Was Hat man unter diefem Schlagwort gu vderftehen?
Im Sabre 1878 meinte Bismard zu Lothar Bucher: „Bis zum
Sabre 1866 trieben wir preußiich-deutfche, bis 1870 deutfch-eurppäiiche
Politi, feitdem Weltpolitif. Bet der Berednung der zulünftigen Gre
eigniffe miiffen wir aud bie Vereinigten Staaten don Nordamerifa ins
Auge faffen, Die fid gu einer jebt bon den meiften nod ungeabnten Bee
fahr auf wirtihaftlidem ®ebiet entwideln werden und vielleicht aud
nod auf anderem. Das eine wird fid in Sufunft bom anderen nidt
mehr trennen laſſen. Der Krieg der Sufunft tft der wirtfchaftlide Krieg,
ber Kampf ums Dafein im großen.“
Bismards Borausfage ift eingetroffen. Durd die Unerfhöpflichkeit
feiner toirtfdaftlid-tednifden Hilfsquellen Hat Amerifa die militdrifde
Niederlage Der Mittelmächte entjchieden, es ift als der eigentliche Sieger
aus dem Weltfriege Herborgegangen. Das Bold Europas ift ihm gue
gefloffen, und alle Staaten Guropas, Rußland ausgenommen, find Hm
tributpflidtig geworden. Der nordamerifanifde Kapitalmarkt beftimmt
die Weltbdrfe; wer Heute Selb braudt, geht nidt mehr nad) London
oder Paris, wie das bordem felbftverftandlid war, fondern nad) Neue
hort. Sleidgeitig dringt Die norbamerifanifche Induftrie, Die bereits
während des Krieges in Südamerila und Oftafien den Wettbewerb mit
England um die verlorenen deutiden Abfabgebiete erfolgreid aufge»
nommen batte, aud) auf dem europäifchen Kontinent Iangfam bor. Die
gewaltig angewachlene nordamerifani[de Handelsflotte forgt Dafür, Daß
aud) die DBeförderungstoften der einbetmifden induftriellen und land»
wirtihaftlihen Ausfuhr den U.S.A. zugute fommen. Durd eine giem-
lid) felbftberrlide Schußzollpolitit laffen fie nad Möglichleit nur das
Gindringen folder europdifmer Waren zu, die fie unbedingt brauchen,
und deren Zahl ift nicht groß.
Die Energie diefer wirtfchaftliden Lebensäußerungen ift eine Seite
deifen, was wir unter Amerifanismus verftehen, bewundern und nadgu-
abmen tradten. Unfere Wirtfhaftsführer fagen: man müffe den Feind
mit feinen eigenen Waffen befämpfen, um ihn zu fdlagen. Man miiffe
feine Methoden ftudteren, feine ArbeitsmetHoben bor allem, die es Hm
ermöglichen, bei drei- bis vierfach höheren Löhnen billiger zu produ⸗
gieren als Guropa und befonders Deutichland. Die Steigerung und Aus-
nußung der menſchlichen Arbeitskraft, die Hddftgefteigerte Berwendbung
zeitfparender Wtafdinen, die ferienweife Herftellung pon Maffenerzeug-
niffen — Daraus erflart fi das Geheimnis bes amerifanifhen Wirt-
[haftserfolges; eine gefdidte und großzügig angewandte Reklame unter-
ftüßt Die faufmännifche Arbeit. All das ift aud in Guropa möglid. Wir
müßten uns nur auf bdiefen intenfiven Betrieb richtig einftellen und
* Poldinger, Dismard-Portefeuifle Bd. 4 ©. 127.
591
unfere veralteten Methoden dem neuen ®eifte, bem Doch nun einmal die
Zukunft gehöre, refolut anpaffen.
Der neue Seift ift ein Geift nüchterner Berechnung, praktiſcher Ber-
nunft, fapitaltftiicher SGpefulation. In feinem Zeichen gef@ieHt die Zu⸗
fammenlegung der Gropbetriebe, die Sruftbildung; die Zufammenfajfung
Der leitenden Arbeit, dadurch Ginfparung parallel arbeitender Kräfte;
Ausſchaltung ſchwacher Konkurrenten durd) Beränderung oder Stillegung.
Die Beichaffung der Robftoffe verbilligt fic, bie Mafchinen werden voll
ausgenutt, Die Herftellung wird vereinfacht und den Möglichkeiten des
Abfates genau angepaßt, der Markt für den Abfab wird rationell be-
arbeitet und verteilt. Verſuche zur Rationalijierung beftimmter Wirt-
{daftsgruppen und DBerbände im ®eifte biejer amerilanifhen Prazis
find aud in Deutſchland an der Tagesordnung, troß der außerordentlich
boben Steuern, mit denen das Reich Derartige großfapitaliftiihe Bere
ſchmelzungen belaftet. In der chemiſchen Induftrie, im Waſchinenbau, in
ber Großſchiffahrt haben die Zufammenfdhlüffe ftattgefunden. Beftrebun-
gen auf Internationalifierung der europdifden Produktion und Abfab-
organifation find im ange. Bon dberfdiedenen Seiten ber wird der Gee
Danfe der wirtfchaftlich vereinigten Staaten bon Europa ganz ernftbaft
erwogen: nur durch eine fontinental gejdloffene Wirtjchaftsfront fonne
fic Die alte Welt gegen die Tapitaliftiiche Webermadt Nordamerifas auf
Die Dauer behaupten.
| 2.
Gebor nun Europa Das Wettrennen mit feinem amerifanifden Geg⸗
ner aufnimmt, hätte es doch alle Urfache zu prüfen, ob das Ziel die
Mühe Iohnt.
Ale Fort[dritte, die uns bie neue Welt bisher geboten hat, waren
im twefentliden Berbefferungen oder Steigerungen Der tednifden Siviti-
fation. Der amerifanifche Dauerbrenner, ber Gabrifftiefel, Telephon und
PHonograph, die elettrifdhe Olühlampe, das Auto für jedermann — Das
wären ein paar Beilpiele. Die amerifanife Erfindungsfraft, fo nüchtern
fie auf privatfapitaliftifche Ausbeutung ausgeht, ift entjchieden auf eine
gewilfe Gemeinnützigkeit eingeftellt: fie erfindet oder verpolllommnet mit
BGorliebe Dinge, die bon vielen gebraudt werden. Die BVorftellung bes
Maffenderbrauds entbindet drüben eine tednifHe Phantafie, die im
Bunde mit der UnerfHrodenheit des Rolonialmenjden das [hier Une
mögliche ermöglit. Ueber nichts freut fid befanntlid) der Amerifaner
tindlicher, als wenn er irgendein ®rößtes, Hddftes, Schnellftes erreicht,
wenn er einen Relord gewonnen bat. Er häuft die Relorde, er fammelt
fie. Seit er im Weltfriege als ftarfer Sonathban das Nennen gemadt
bat, fennt fein Selbftgefühl vollends feine @rengen.
Den meiften Europäern, die Nordamerifa befuchen, imponiert diefer
Refordeifer auferordentlid. Der Pulsichlag des Lebens fdeint um Die
Hälfte [dmeller, fein Ertrag reicher nicht nur an Geld, Macht und ‚Ehre,
fondern aud) an unmittelbarem Kraftgefühl, am Ginflang mit fic felbft,
an ®lüd. Seder ift feines Slüdes Schmied, und ein jeder ſchmiedet fo
frdblid darauf Ios, ohne viel Hemmungen und Bedenfen, daß ber
592
ds
ag
Europäer ‘einmal übers andere erftaunt. Ad biefe Amerifaner, — fie
find eigentlid) immer guter Qaune, fo erzählen die Bejuder. Sie ers
ziehen fic) förmlih zur Seiterfeit. Und wenn es ihnen fchlecdht gebt,
was ja aud) einmal vorlommen Tann, fo gebt es ihnen niemals gang
Ichlecht, weil fie dem Mißgeſchick mit Frbblidfeit begegnen.
Wun wollen wir gewiß den Wert der guten Laune in allen Lebens-
lagen nicht gering ſchätzen. Aber irgendein fchrullenbafter deutſcher
Denfer bat einmal etwas über „frevelbaften Optimismus“ verlauten
laffen. Es könnte Doch fein, daß Die fo geflilfentli zur Schau ge»
tragene ameritanifche SHeiterfeit bei näherer Betradtung als etwas ober-
flächlich fic erweift; als eine Spielart jenes amerifanijden „Willens
gum Erfolg“, den die philojopbijd angelegten Schriftfteller Der neuen
Welt ihren Waffen als lebte und höchſte Weisheit predigen. Wer Ere
folg bat, das beißt: wer in Bem faum bejdrantten Wettlampf des Gre
werbslebens feine Konfurrenten übertrumpft, verdrängt, niederringt und
vielleicht für eine gute Weile Tampfunfähig madt, — ber muß nad
diefer Maffenpbilofophie glüdlih fein oder werden. Infolgedeifen be-
müht fid) jeder inftinktiv, ein Oliid zur Schau zu tragen, das ihm Den
Anidein bes Erfolges gibt und in der Sat in manden Fällen gum wirl-
liden Erfolg beitragen fann. Der Wille gum Grfolg in Berbindung mit
dem ®lauben an ihn müljen einen tiidtigen Menſchen natürlich ſchneller
borwärtsbringen als bejtändige Zweifel in feine Kraft.
Diefe pofitiviftifhe Lebensanf[dauung braudt an und für fid) nod
nidt oberflächlich gu fein; fie wird es erft Daburd, daß fie Erfolg mit
Glück verwedfelt, beide Begriffe in Diefelbe Kategorie einſchachtelt und
nicht begreifen Tann, daß es fid um zwei grundfäglich verjchiedene Ziele
bandelt. Das Denfen und Urteilen des Abendlandeg, feine ganze geiftige
Kulturarbeit ift gefdidtlid dabin erzogen, den Äußeren Grfolg bom
inneren ®ewinn zu unterjcheiden. Die Gage bom König Midas, dem
alles, was er berührte, zu ®old wurde, ift für ung ein uraltes Symbol
der Sragif des Grfolgmenfden. Diogenes, der arm und wunfdlos vor
feiner Sonne rubt, ift der Shpus des Sliidsmen|den ohne jeden Gre
folg. Im europäifhen Bewußtſein find diefe beiden Typen aud) Heute
nod flar gefdieden. Die Borftellung, daß der wahre Bettler der wahre
König fei, ift bet uns oolfstiimlid und ohne weiteres geläufig. Der
Durd{nittsamertfaner wird den tieferen ethifchen Sinn des Sages nie
begreifen; für ihn bleibt er eine paradoze Behauptung, ein Wis.
Gs ift alfo far, daß wir die amerifanijche Slüdstheorie nicht über-
nehmen fdnnen, weil wir ein anderes ©lüdsperlangen haben. Ich will
nicht behaupten, daß Erfolg und Oliid einander ausjchließen. Gs gibt
gewiß viele Menfchen aud bei ung, die ohne Erfolg nicht vollkommen
gliidlid fein finnen. Aber es gibt fiderlid) noch viel gablreidere, die
gliidlid find, ohne erfolgreich im amerifanifden Sinne gu fein. Gs ere
Kbeint uns dies als ein Hdbheres, wenn aud vielleicht ſchwerer gu ere
reichendes Lebensziel, ein Ideal, deffen Wert wir gerade in unferer
gegenwärtigen wirtihaftliden Berarmung neu erfannt haben und an-
ftreben müffen. Wir finden es im Chriftentum, in der Mahnung, feine
Schaͤtze gu fammeln, die Motten und Roft freffen, und unfer National»
593
Dichter meint nichts anderes, wenn er in der „Braut bon Meffina“ den
Shorführer fpreden läßt:
Nicht an die Oüter hänge dein Hera,
Die das Leben vergänglich zieren!
Wer befitt, der lerne verlieren.
Wer im Sli ift, ber lerne den Schmerz.
3
Rulturibeale find ftets national bedingt und aus der geiftesge[idt-
liden Sntwidlung der Bdlfer ertoadfen. Die Mannigfaltigleit ber euro-
päifhen Bdlfer war und ift die Quelle ihres Reidtums an nationaler
Kultur. Auf dem folonialen Boden Amerifas haben fich die überfchäffi-
gen Zeile europdijmer Böller zu einer neuen Nation vereinigt, und man
hätte meinen follen, daß in diefem Berfdmelgungsprogeh das Befte der
europälfchen Triebfräfte frei geworden wäre und fulturelle Perſpektiven
bon ungeabnter Größe, Kulturwerte bon beglüdender Schönheit gefdaffen
hätte. Das alte und in gewiffer Weife überalterte Abendland müßte
febr dankbar fein, wenn es feine ſeeliſchen Zrieblräfte, feinen geiftigen
Befis, fetne Anſchauung don Welt und Beben aus der neuen Emte bes
transatlantifchen Weftens Zräftigen und bereichern könnte. Die geiftige
Dantesichuld des Landes der „unbegrenzten Möglichkeiten“ an Europa
ift ungeheuer — ift man drüben in der Lage und gemwillt, die Sinfen
zu gablen?
Wenn wir in Religion, Kunft und Wiffenfdaft die eigentliden Blü-
ten der Kultur verehren dürfen, fo werden wir in Amerifa, vorläufig
wenigftens, nichts auf dieſen ®ebieten finden, was wir in Guropa nicht
ebenfo ober beffer befäßen. Die große Zreiheit des religiöfen Lebens
wirkt fid in unzähligen Selten aus, die einander in Glaubensreflame
überbieten, aber eben deshalb bon religidfer Berinnerlidung weit ent-
fernt find. Das ftille vornehme Gbriftentum der Quäter ift eine Einzel»
erfdeinung; als geiftige Bebensäußerung genommen, hat es feine Wur-
zeln in Europa. Die ameritanifche Runft hat uns bisher weder in Wort,
Son oder Seftalt neue Auffchlüffe gegeben. Walt Whitman, Den die
Amerifaner felber faum fermen und erft recht nicht nad ®ebühr fchäten,
bleibt, verglichen mit den ®rößen der Weltliteratur, eine bizarre Spezia-
litat. An den wiffenfchaftlichen Leiftungen des Jahrhunderts, foweit fie
kchöpferifch find, Hat Amerifa einen immerhin befcheidenen Anteil. Aber
es weiß ihn, wie auch alle anderen Sulturleiftungen, ausgezeichnet gu
verwerten. Gs Hat die foftipieligften Gorfdungsinftitute, die größte
Sternwarte der Welt, bie fchönften Uniderfitaten, die mit reidfter Muni⸗
figeng ausgeftatteten Büchereien für bie ®elehrten und das Boll. Seine
Mufeen, füllen fic mit den erlefenften Meifterwerfen Guropas. Und die
erften europdifmen Künftler werben durch Riefenangebote binübergelodt.
Damit fommen wir zur Quinteffenz amerilanifcher Leiftungen: es ift
Die Berwerterarbeit. Darin find fie faum zu übertreffen.
Meberall, wo es gilt, bie Srfindungen und Grfabrungen der Wiffen-
{daft für das praktiſche Leben zu nugen, ift der amerifanifche Unter-
nehmungsgeift pomean. Um bie Technik der Vebensführung gu ere
594
w —— - — —— — — —
leichtern, ift ihm fein Opfer gu bod. Der Pei ft der Lebensführung ift
für den Amerifaner gleichbedeutend mit dem ®eifte der tednifden Zivi⸗
lifation, feine geiftigen Bediirfniffe erfhöpfen fic im wefentliden mit
der volllommenen, mdglidft reibungslofen Beberridung der tednifden
Sivilifationsmittel. Srrationale Mächte wie die Kunft im weiteften
Sinne werden nad der techniihen Bolllommendheit ihrer Darbietung
bewertet. Wo dies Kriterium nicht ausreicht, unterwirft fid) der Ameri-
faner dem Xrteil europäifcher Autoritäten, die ibm die „Schtheit“ ver⸗
bürgen miiffen. Obwohl er fonft allem Diftorifden Denten abgeneigt ift
und als echter Demokrat feinerlet Tonfervative Hemmungen fennt und
anerfennt, hat er dennoch den Ehrgeiz, das in feinen Augen riidftandige
Abendland auf beffen eigenftem @ebiete zu fchlagen und fid in ben
Beſitz deffen zu feben, was uns das Seuerfte und unerfeblicd ift: Die
Dokumente und Wahrzeichen unferer alten Kultur. Aud bier wiederum
ift der RNefordeifer das treibende Motiv. Das Schönfte und Seuerfte
muß Amerifa baben. |
Der Stolz auf diefe Erfolge ift ungemein groß und färbt auf Die
Selbſtſchätzung auch des gemeinen Mannes ab. Neuporf ift für ihn die
SHauptftadt der Welt. Hat es nit die Hddften Häufer? Die größten
Bahnhöfe und fdmellften Untergrundbahnen? Den wildeften Straßen-
verfehr? Bon einer anderen noch [Hlagenderen Welthauptftadt träum-
ten jene beiden amerifanifden Arditeften Anderfen und Hebrard, die
ihren Plan mit einem „Turm des Fortfchritts* in 320 Metern Höbe
befrönten. Aud) der CSolumbifden Weltausftellung 1893 in Chicago
lag eine derartige „WWeltidee* bei der Anlage der „Weißen Stadt“
nad rdmifdem Wufter zugrunde, und einer ihrer führenden Männer,
Daniel Burnham, fagte von ihr, daß fie „bie Erfüllung deſſen ift, was
die Römer als dauemde Gorm eigentlich Hatten fchaffen wollen.“ Das
ift typiſch amerikaniſch. Kein durd gefdidtlide Einficht belafteter euro»
päifcher Kopf fonnte im Grnft auf einen folden Ginfall fommen.
Der Sefidtstreis des amerifanifden Menfchen ift gang und gar auf
Die Gegenwart eingeftellt, und alle hiſtoriſchen Perfpettiven dienen Ihm
nur Dazu, dieſe feine eigenfte Welt im Helleren Lichte zu zeigen. Er
fennt Pietät nur feinen Staatsformen gegenüber, und er liebt den Kultus
feiner Unabhängigkeit und den der Männer, denen er fie verdantt. Im
übrigen bat Der mafdinelle Rhythmus feines angefpannten Erwerbs⸗
lebens aud) in feine @eiftigfeit, in die Sntwidlung feiner Anlagen,
Kenntniffe und Yähigleiten einen maſchinenmäßigen Sug gebracht, Der
Das Individuelle ſchwer auffommen läßt. Gr ift ein Maffenmenid und
Sat gar nicht den Ehrgeiz, etwas anderes zu fein. Gr bat die Anficht,
Die man baben muß, und vertritt die Sffentlide Meinung, die feinen
primitiven Inftintten jeweils aufs faßlichfte entgegenfommt. Gr liebt Die
abgefiirgten, Sormeln der Technik, die möglichft fdlagende allgemein-
gültige Norm für fein Tun und Laffen. Im öffentlichen wie im privaten
Leben wird der Bedarf des einzelnen an perjönlicher und gejellichaft-
lider Sreiheit durch den Bedarf der Maffe geregelt. Aud die Arifto-
fratie des in Kapital gewandelten Grfolges, Die politifh führende
Schicht der Nation fügt fic Diefem demofratifchen Swange.
995
4.
Was bat Europa bei der Uebernahme der amerifanifden Yipili-
fations-Methoden zu gewinnen? Aus dem Befagten ergibt fid Die
Antwort bon felbft.
Gs ift pollfommen begreiflid, wenn die europäiſche Wirtſchaft, ge-
blendet und betroffen bon der Gnergie des amerifanifchen Aufftiegs, ihre
Rettung darin gu finden meint, daß fie die dortigen Methoden einfad
nadabmt. Die Prazis wird Iehren, was damit auf die Dauer zu ere
reichen ift. Das Tahlorſyſtem, wie es 3. B. in den Gord-Gabrifen
angewendet wird, ift in feinen Ridwirfungen auf die Arbeitskraft feines-
wegs Bfonomijd. Die Leute verbrauchen fic) ſchnell, bie meiften halten
den intenfipen Umtrieb nicht lange aus. Daß bei Ford troß feiner Hoven
Löhne und fonftigen Bergiinftigungen ein ftarfer Wedfel der Arbeiter-
[daft berricht, ift befannt. Kenner der europäifchen und der amerifani-
[den Arbeitstednif wie Osfar pon Miller, der Schöpfer des Deut-
[den Mufeums, find der Meinung, daß unfere Arbeiter eine fieben- bis
adjt{tiindige Sriebarbeit am laufenden Bande nicht mitmachen würden.
Der Beli eines eigenen Autos, mit dem drüben jeder fünfte Menſch
und aud der Arbeiter gefegnet ift, um den Weg zwiſchen Werfftatt und
Wohnung abgufiirgen, ift noch fein ausreichender Erſatz für zerrüttete
Nerven. Se nachdem wir die Menjchenfraft lediglich als Arbeitsenergie,
alg Motor, oder als ein lebendiges Bolfsfapital bewerten, Das aud
burd) die Sufunft fommender Gefdledter der Menſchheit zinfen foll, —
fo werden wir diefe Kraft, die foftbarfte, die es gibt, in dem wirtjchaft“
lichen Wettlampf der Kontinente anwenden müjfen. Alle fozialen Maß-
nahmen zur Grbaltung der Menfdenfraft, mit Benen befonders Die
Deutiche Wirtichaft belaftet ift, erweifen fid, auf Die Länge betrachtet,
vielleicht Dod als die beffere dSfonomifde, nicht nur als die menjchlichere
Methode.
Im Mittelpunkt unferer Erwägungen fteht eben der Mensa, nicht
der Reford und Der Maffenrelord. Seit dreißig Sabren mindeftens
fampfen wir in Deutjchland gegen die technifhe Mechanifierung bes
Lebens, in Der uns Amerifa jo unendlich überlegen ift. Das Licht diefer
Ueberlegenheit leuchtet heute verführeriſcher als je, weil die Deutjchen
Rulturgiele dur) die Wolfen des verlorenen Krieges getrübt find und
ganz Europa aus dem Sleidgewidt geraten ift. Amerifa fcheint . zu
rufen: Denft, lebt und arbeitet wie wir, und ihr werdet glidlid fein! Es
fdidt uns feine Wolfenfrager, feine Iazzbandlapellen, feine Bars und
Kinos mit farbiger Mufil, feine Magazine, Bilderzeitungen und Lidt-
reflamen, feinen Verkehrshumbug, feine Bozer und Wultimillionäre; es
fhidt uns aud, in gutem Bertrauen auf bie deutfhe Rreditwiirdigfeit,
fein rafch verdientes Geld. Es gibt viele Leute, Benen dag gewaltig tm-
poniert. Gerade uns Deutjchen aber follte das nicht gar fo fehr impo-
nieren, denn es ift alles mehr oder weniger fulturlos, und wir haben,
im Namen Guropas, eine alte Kultur gegen alle derartigen barbariſchen
DBegriffsperwirrungen der Zipilifation zu verteidigen.
Das ift gewiß eine merkwürdige Ironie Der Dinge, daß wir, gerade
wir Deutfchen „Barbaren“, gegen die Amerifa im Namen der menfd-
596
liden Sefittung, im Namen des gefährdeten Europas feinen Kreuzzug
infzenierte, heute Diefen felben Kreuzrittern entgegentreten müſſen mit
der Mahnung, erft einmal im eigenen Qager mit der Barbarei aufgue
räumen, bevor fie Guropa erldjen wollen.
Bereinzelt dringen aud bon drüben Tritiide Stimmen berüber, die
der öffentlich gezücdhteten Selbſtüberſchätzung mutig die Wahrheit fagen.
Die Koftipieligleit der Berlehrshäufung in den GroHftadten, die unnatür«
lide Häufung der Riejenftädte und Riejenhäufer, die Kälte und Un-
bebaglidfeit im medanifierten Haushalt der Familie, der Mangel an
Schönheit und Anmut inmitten eines fragwürdigen Quzus — das find
Shemen, die als Probleme empfunden werden. „So Dringlid ift das
Bedürfnis nad etwas Anmut,“ fchreibt der Amerifaner Lewis Mum-
ford,” „die uns bon all dieſen eifigen fommergiellen Grrungenfdaften
erlöfen Tönnte, daß das Handwerk wieder zu Shren fommt, und zwar
fo; wie es fid) Rustin nicht hätte träumen laffen, und der unternehmen-
dere Seil unferer Snnendeforateure fcheut fid nicht, Sentimentalitäten zu
neuem Leben zu erweden, wie jene Blumen aus Glas und Wachs, die
Kennzeichen des viftorianifden Zeitalters. Kann man fid einen büb-
fcheren Kommentar zu den großartigen Grrungen[daften moderner Ine
duftrie und Wiſſenſchaft denfen?*
So ift es. Sie verfleiden ihre babplonifden Zurmbäufer, thre nad«
ten Spefulationsgeriifte mit ein paar gotifhen Siermotibden, fie repräfen-
tieren mit florentinifchen Palaftfaffaden und rdmijden Rolonnaden, fie
errichten nationale Denkmäler im griedijden Tempelftil. Sie fuchen der-
geblich für den anfdeinend fo neuen Lebensinbalt der neuen Welt nad
Gorm und einem Ausdrud, der diefen Inhalt überzeugend und würdig
{piegelte. Sie feben Häufungen an die Stelle der ©eftaltung, Die das
®anze umfaßt, dem Einzelnen feine Stelle als bienendes Slied anweift.
Sie haben die Naturjchönheiten ihres Landes mit der harten Fauſt des
Bioniers, des Sroberers unter das Sod ihrer technifchen Zwedmäßig”
leiten gezwungen, und fangen jebt an gu begreifen, daß unerjebliche
Werte zwecklos, im höheren Sinne, vernichtet find. Sie ſchaffen „Refer-
pate“ der urfprünglichen Natur, und meinen damit alles Grbdenflide ge-
tan und wieder gutgemadt zu baben. Aber wenn ihre empfänglichen
®eifter nad Europa fommen, fo ftellen fie feft, daß Der alte Kontinent
für feine Menſchen faft überall nod irgendwie „Heimat“ ift und Lebens-
wärme bietet, während auf Dem fo reichen Boden der neuen Welt dieſe
empfindliche Blume nicht recht gedeihen will.
Darum ift es ganz begreiflich, wenn jebt die einjichtigen Amerifaner
den begonnenen Prozeß der Amerilanifierung Guropas bedauern und
als einen Berluft empfinden. Sie haben dieſes „funny country“ bore
dem, im Bollgefiible ihrer unfagliden Greibeiten, ihrer mufterbaften
Demofratie, ihrer techniichen Fortſchritte und ihres wachſenden Reichtums
als eine Art Böllermujfeum geſchätzt, mit petrefalten Staaten, fterili-
fierten Sitten und ®ebräuchen, umftändliden und unpralftifchen Oe—
thäftsmethoden und einer Menge hiſtoriſcher Raritäten aus Runft und
* Som Dlodhaus gum Wolfenfrager. Berlin 1925. Bruno Gaffirer.
597
Kultur. Set merfen fie, Daß die Keimfraft bes abendländifchen Bodens
troß ber abgelagerten Rulturf{didten keineswegs erlofden ift, fondern
aus ihmen immer neue Nahrung empfängt. Wir fönnen, troß aller Gin⸗
[Hranfungen fei es gejagt, bon den Amerifanern allerhand lernen, was
uns nicht fchaden wird. Wenn wir uns Hie Ginfidt ihrer urteilsfähigen
Köpfe bon der Lnerfeblichkeit europäifcher Seifteshaltung und Lebens-
führung aneignen wollten, wenn wir befonders Die europäiſche Aufgabe
Deutfchlands in diefem Lichte fehen würden, fo hätten wir die befte Lehre
übernommen, die ung das heutige Amerifa zu bieten Hat.
Eugen Kaltfhmidt.
Die Berwaltung der deutfchen Mufit.
ad einem Ausiprud des weifen Sonfuztus erfennt man an ber
Mufif eines Landes, ob dieſes wohl regiert werde. Hans Pfibner
bat den gleichen ®edanten einmal in die Worte gefaßt: „Zeigt mir die
Mufif, bie ein Boll madt, und id werde eud) fagen, was bas Doll
taugt.“ Und wenn felbft im Berlaufe der Rriegshebe dem Deutiden
Bolfe bon feinen Geinden dag eime guerfannt wurde, was Der gewiß
ebenfowenig deut{dfreundlide franzoͤſiſche Oroßſchwätzer Biltor Hugo
fo ausdrüdte: „Der höchſte Ausdrud Deut(dlands ift nur Hurd Die
Muſik zu geben“, fo hätten wir allen Grund, die Stellung gründlich zu
prüfen, weldde man gegenwärtig der Muſik dei uns zugefteht.
Jedes Schulfind Iernt Heute, Daß Deutfchland, bas „Reich der Mitte”
Guropas, aud) in fultureller Hinficht immer und allerorten von fremben
Einflüffen überſchwemmt worden fei. Aber, um fid Diefen ®edanten für
bie Muſik einmal Margumaden, dazu Hat es lange genug gedauert: erft
der nod jugendlide Heidelberger Univerfitätsprofeffor Hans Ioachim
Mofer, ein Schüler des Gadfen Hermann Krebichmar, hat die Aufgabe
mit fefter Sand angefaßt, den Spuren der deutſchen Muftf bis in Die
germanifde Urzeit nachzugehen und die fo getoonnenen Grfenntniffe in
em umfaffendes Muſikgeſchichtswerk einzuarbeiten. GHriftentum, Klaffi-
gismus, Dazu der Einbruch der franzöfifchen Ballettkunft, der italienifchen
Opernarie, deren Bermählung mit dem uns verwandteren ©eifte nieder-
ländifder Polhphonie, der Ausgleich der Kirdenmufifen beider Kon«
feffionen, die Ueberwindung der Rulturfataftrophe des Dreißigjährigen
Krieges, Des ihm nachfolgenden Fremdtümelns, dies alles find Weg»
zeichen eines titanifhen Ringens unferer deutfchen bodenftändigen Muftl
mit fremden Glementen. Und bie Bröße unferer Meifter bom Range
Schützens, Srobergers, Muffats, Scheidts, Buztehudes, Kuhnaus, Bachs,
Simdels, Mozarts lag vor allem nicht in Der blinden Abwehr diefer
Glemente, fondern in Der organifchen Berquidung mit reindeutfchem
Empfinden.
irgend jedod) jpielt die reprodugierende Nachfchöpfung eines Kunſt⸗
werks Diefelbe Rolle wie gerade in der Muſik. Und fo genügt es durch⸗
aus micht, Der Schöpfungen allein zu gedenten, wenn bon dem Leben
eines Volkes in feiner Mufit und dem Leben diefer Muſik im Volle
598
felbft geiprochen werden foll. Der Begriff des „DBirtuofen“ tritt fdon,
in Der Urzeit der Mufif auf, und aud Darin find uns die riechen em
DBorbild, daß fie wie das Muſikſyſtem fo gang befonders die Form Der
Offentliden Darbietung unter ftaatlide Kontrolle zu ftellen wußten. Ari⸗
ftopbanes und die gleich ihm ,,praftifde Muſikkritik“ übenden Dichter der
altattifchen Komödie find den Birtuofen durchaus nicht weiter gewogen
und fliden ihnen und ihrer Gudt, die Perfon bor die Gade zu ftellen,
ja der Bravour halber am gebeiligten Mufillodez zu ändern, gern am
Zeug. Die Satirifer des fpdten Rom, ja fdon Cicero eifern gegen Die
Ueberſchwemmung der Hauptſtadt durd ſyriſche Muſikanten und Tänze»
rinnen. Auch die erften Kirchenpäter ftimmen nod in Biefen Ton ein,
und durchs ganze Mittelalter gebt ein Webhgefdret gegen die Berfudun-
gen der neuerungslüfternen, weltlid) gefonnenen Birtuofen, fet es im
@ebiete der Kirchenchöre oder dem der Orgel», der Inftrumentenmufil.
Bärpfte und Biſchoͤfe erteilen Rat oder Warnung, ja die Reformierten,
bie Puritaner werden aus Bilderftürmern fogar Muſikverächter und zer-
flören Orgeln wie teuflifhe Bildiwerfe.
Deutihland Hat bon jeher mehr um die Gade als um Die Perfon
geftritten, und fo find bier folde Kämpfe, weniger tbeatralifh als im
Stillen, um fo gaber um die ©efinnung vor fid gegangen. Die Bere
ehrung, welde der germaniſche Sänger, der Barde der Angelfadfen, ge-
nop, wid unter dem GinfluB der bei uns eindringenden römifchen jocuy
latores einer Aedtung der fabrenden Leute, unter denen fid ja aud
enttlaufene Studenten und RKlerifer befinden modten. Der Gadfen- und
Schwabenfpiegel ftellt fie auf eine Stufe mit den redtlofen Juden. Die
gutdeutfche (freilid aus Grantireid, dem Elfaß, der Schweiz über-
nommene) Sunfigefinnung läßt diefe Spielleute allmähli in Burgen
und Städten wie an Höfen anfälfig werden und zu Stand und Anfehen
gelangen. Bor allem die Seerestrompeter, die Stadtpfeifer werben gut
bürgerliche Leute und geben ben Boden Her, aus dem der deutſche Bee
rufsmufiferftamm berborgeben fonnte: Die Bachs aus einer Organiften-
familie, Beethoven, der Sohn eines Hoflängers; Mozart der eines Hof-
Tapellmeifters, Brudner der eines Porffchulmeifters wie Schubert und
Reger, Strauß der eines Hofhorniften.
Aber nod immer bleiben es Städte, Fürftenhöfe, von denen Die
Pflege der Muſik wie des Wtufiferftandes ausgeht. Der Staat als
folder tritt ihre Erbſchaft eigentlich erft nad) ber Sertriimmerung des
monardifden Deutichlands und der Aufhebung feiner Sonderrefidenzen.
an. So finden wir Heute, und um Dies gu überfehen, war die Bore
betradtung notwendig, ein verwirrendes Bild: Hier Staat, dort Zünfte,
da Private. Und zwifchen ihnen taufend Gonderbiindler und Außenfeiter.
Wir haben Zeitjchriften, bie den Intereffen einzelner Berufsgruppen
dienen, der Militär», der Orcheftermujifer, der. Chorleiter, der Muſik⸗
lehrer, der Dirigenten, der RKirdenmufifer, der Inftrumentenmacher, ber
Mufitwiffenichaftler, folde, die landfchaftlide Sinftellung haben (Bere
liner, Stuttgarter, Rheinifde), folche, die in Verbindung mit beftimmten
Berlagen fteben, folde, die mehr dem Fortfchritt, Der problematifchen
Muſik nachgehen (Melos, Anbrud). Unabjehbar ift Die Waffe der
999
Berufspereinigungen: die Muſiklehrer, die Sonjeber, Die Kritiler, Die
Orcheftermufifer, die Mufitfchulleiter, wobei die Mehrzahl in fic wieder
in ®ründung und Segengriindung zerfallen mußte. Aud die Verleger
ſchafften fid nad und nad ein Profil: der eine mit der Beborgugung
bausmufilaliiden Schaffens, der nächſte mit internationaler, der andere
wieder mit reindeutiher „Ware“, einer mit Chor», der andere mit
Biihnenwerfen. Das Spezialiftentum bat aud biefe Zweige des Mufil-
lebens ergriffen. Die Leiftung mag dadurch gehoben werden, aber Die
Segenf[aglidfeit wächſt. Neben zahlreichen ftädtilden und privaten
Mufilichulen ftehen einzelne ftaatliche, Die fidy aber ebenfalls dem zen»
tralifierenden Drange der Reidshauptftadt zu entziehen tradten. Nod
fampft man um die Ginigung der Bereine fchaffender Tondichter Deutid-
lands und Deut[hdfterreids.
Mit der wachjenden Bedeutung der Reproduktion gewannen aud die
DBerufsmöglichkeiten der Bermittler: Hans don Bülow, der reijende Pianift
und Dirigent, gewann fi in dem jungen Berliner Hermann Wolff
einen tidtigen Gefretar, der zum Stammbater der zabllofen heutigen
Kongertagenten geworden tft. Der verftorbene bochverdiente Wufif-
biftorifer Karl Stord, der aud lobenswerterweife gum Berater des Heu-
tigen Mufifreferenten beim Kultusminifter Profeffor Keftenberg wurde, bat
gu Diefem Rapitel reiches Belaftungsmaterial berbeigetragen, aus dem
nur weniges zitiert fein möge: er wirft den Agenturen bor, fie organi-
fierten finftlid) einen übertriebenen „Muſikbetrieb“, der. in feinem Bere
bältnis zur Nachfrage ftiinde, wie Hie immer wieder „ausverſchenkten“
oder leeren Säle bewiejen. Der junge Anfänger wird zu einem „eigenen
Abend“ ermuntert, der ibn feine Sriparniffe foftet und ihm beftenfalls
Drei nichtsfagende Worte der Preſſe einbringt, wenn Diefe, Durch die
Anzahl der allabendlidhen VBeranftaltungen überlaftet, überhaupt ere
{deint. Als Segenleiftung verjpriht der Agent Engagements in Der
Proving, über deren Buftandefommen der Klient jebod im Dunfeln
bleibt, und die meiftens auch nur leere Berfpredung bleiben. Denn mehr
und mehr hängt aud) das Provingpublifum am „großen Namen“. Will
der Kongertierende die Preſſe beftimmt in feiner Beranftaltung wiffen,
fo genügt es nicht, wie neuerlich eingebürgert, neue Werle porzutragen,
aud) die betreffende, den Kritiker ftellende Zeitung verlangt porberigeg
Inferieren. Stord erfennt die einzige Rettung aus folden Wirren in
der @riindung einer ®enoffenf[daft der Tonzertierenden Riinftler, Die
denn aud ingwifden zur Sat geworben ift: Leute bom Anfeben eines
Siegfried Ochs, Furtwängler gehören ihrem Borftande an. Ob ihre Aus-
wirkung jedoch die gebegten Hoffnungen erfüllt bat, fcheint nod frag-
lid. Aud) die Konzertagenten haben fid zu einem Sdubberband gegen
üble „®enoffen“ gufammengefdloffen und erhoffen dabdurd mit Necht
eine Hebung des Hurd, die geichilderten Vorgänge erfdiitterten An«
febens. Gs ift derfelbe Borgang, den wir bei allen gleichartigen Zur
fammenfdlüffen beobachten: aud die Muſiklehrer, die Mufikkritifer ſchu—
fen fic folde Abwebhrorganifationen. Nur bat die GErfabrung bisher
gelehrt, daß dem „QAußenfeiter“, und um folde handelt es fid) dabei
gumeift, aud mit Hilfe eines Ehrengerichts faum beizukommen ift.
600
YoGiquojanyiny WNISHOK, UIP| Nag wag Eng
Immer wieder fragt man fic, weshalb das Reid) einen ,,Reidetunft-
wart“ beftellt, Deffen Arbeitsgebiet mit der Herftellung neuer Bantnoten
und DBriefmarten erjchöpft gu fein jcheint. Immer wieder tft es ber Tate
fraft Gingelner, Privater, überlaffen, Hilfe und Schub in Sonbderfällen
zu organifieren, oft felbftredend mit mangelndem Erfolg: als die Not
ber deutſchen fdaffenden Mufiter aufs höchſte ftieg, als fie, wie einft
in Ben Seiten des Dreißigjährigen Krieges in andere Berufe, oft recht
trauriger Art, flüchteten, als die Hinterbliebenen berühmter Meifter
Dungerten, beantragten zwei Deutide Privatleute, Dr. Roſch, der Bore
fibende der Genoffenfdaft der Donfeber, und Dr. Tifder, Verleger und
Herausgeber der rheinifhen Wuftkzeitung, beim NReichswirtfchaftsrat Die
Schaffung einer „Reichskulturabgabe“, das heißt einer Belaftung der®
Aufführung aud flaffifmer Werke mit einer Pfennigfteuer. Der Plan,
groß gedadt und wohl durdfiibrbar, fcheiterte. Heute bat der Staat in
allen Provinzen muſikaliſche Gadberater eingeftellt. Ihre Aufgabe wäre
es, fid gufammenguidliefen und in immer wiederholten Anträgen Ben
Ginger auf offene Wunden im deutfchen Mufilleben gu legen. Solange
Steiners Plan einer „Dreigliederung bes fogialen Organismus“ mit dem
troß aller fonftigen Utopie gefunden @edanten einer DBerufspertretung,
und Sachlennerberatung nicht zur Verwirklichung gelangt ift, wird aud
bie Fülle und Buntheit des heutigen beimifden Wtufittreibens nur der
Serfplitterung, niemals der Stärlung dienen. Hermann Unger.
Maffe, Jndididuum und Semeinfchaft
äbrend in unferem Zeitalter Die Technik gu ungeabnter, ja ſchwin⸗
delnder Höhe emporfteigt, fcheinen alle Aufgaben der Gegenwart,
in denen es fid um Menſchen behandlung handelt, gu fdeitern an
der Satfade der Maffe, an den Bielguvielen, welde jeden Rahmen —
fet es politifcher, fet es fulturefler Lebensgeftaltung — fprengen. Das
Elend unferer Parlamente, in denen ftatt nüchterner und fachlicher Kom⸗
miffionsarbeit dDonnernde Reden gehalten werden, wurgelt in dieſem
@rundiibel: die „Maffe“ der Wähler, der rechten und linfen, verlangt
und erwartet Das. — Das tiefe Niveau unferes Theaterwefens, der gang-
lide Mangel an Tünftlerifcher Einheit und Durdgeftaltung, wird bon
„berantwortlicher* Seite entfhuldigt mit dem bequemen und [dwer
widerlegliden Sak: das Publifum will es! Die guten Stiide „ziehen“
nicht. — I ge A]
Worin befteht die undeimlide Macht diefes ,Publifums*, Diefer
Wählermaffen? Warum muß bor Her Maffe der SGeift feine Waffen
ftreden? Scheint es doch fo, als wenn berfelbe Geift, Der in der Technit
die Natur beberrfäht, in ber Oeſchichte eine Aaglide Rolle fpielt,
weil alle feine Organifationen in Staat und Wirtfchaft bem
Segenftand ihrer Auswirkung, dem menfhlihen Organismus, ber
volkiſchen Semeinfdaft, nicht gerecht zu werden vermögen. Mag eine
diefe Semeinfdaft fördernde, erziehlide Cinwirfung von Menfd zu
Menſch und in der Familie nod angängig fein, fie [deitert fofort gegen-
89 Deutiches Vollstum 601
%
über größeren ®ruppen und Maffen, die fid aller „Bernunft“ gegenüber
unzugänglich zeigen, Die nur dem Schlagwort und der politifchen PHrafe
(man Denfe an das Niveau der meiften Beitungsleitartifel) ihr offenes
Ohr leihen. Gs ift eine Erfahrung, Die jedes ©efpräh uns bon neuem
lehren Tann: was ich dem einzelnen mitteilen und verftändlid machen
fann, Das verfliegt und zerftäubt in der Menge. Das bittere Wort des
alten Ooethe, daß der Deutiche fo adtbar im einzelnen und fo miferabel
im ganzen fei, führt uns vor die Frage, was denn dieſes „Banze“ eigent-
lid ift, in Dem Der einzelne, das Individuum, verloren gebt und um
feinen tieferen Wert gebracht wird. ‘
Sft Diefes Sanze das Bolt? Dann beitände die Lebensauf-
* faffung des Indipidualismug gu Red, Die fid bon Diefem „Bolt“
als einer niederen und Des wahrhaft Sebildeten unwürdigen Dajfeins-
ftufe abichließt.
Aber diefes ,@ange*, in dem wir alle fo miferabel find, ift nicht
das Golf, fondern Die Maffe, und Waffe, fo miiffen wir Heute er»
fennen, ift nicht nur eine große Zahl: „viele Menſchen auf einem Hau-
fen“, fondern Die Sigenart des ſoziologiſchen Maffenbegriffs wird
erft getroffen, wenn wir auf jene verhängnispolle feelif de Umwand⸗
Iung adt haben, die fid innerhalb der einzelnen Menſchen felbft voll-
gieht, wenn fie zur Maſſe gehören. Seder bon ung Iennt diefe Befahr: In
der Maffe einer politiihen Berfammlung oder als ,Publifum* im
Sheater find wir häufig genug nicht mehr wir felbft. Wir hören auf,
felbftändig zu urteilen: Wir laſſen uns mitreißen, binreißen, der-
wirren, imponieren. Unfere Urteilsfabigfeit läßt nad. Zugleich hören
wir auf, ein Olied der Semeinfhaft zu fein. Wer in der Maffe unter-
taucht, der Hat an wahrer ®emeinfchaft nicht mehr teil. In der Maſſe
und als Maffenteil fühlt fic) niemand derantwortlid. Verantwortung,
Das Kennzeichen unferes Semeinfhaftsbewußtfeing, der GFamilien-
und Dollszugehdrigfeit, läßt nad in dem Maße, wie wir zur
Maffe gehören, zu Maffe werden. Waſſe vereinzelt. Sie löft uns
aus dem geiftigen Zujammenhang der ®emeinjchaft heraus und madt
uns zu geiftlofen, ftumpfen Zeilen eines Gangen, das nit gegliedert
ift, nidt geiftig zufammenhängt. Der Zufammenbang der Maffe tft
ungeiftig, aber nichtsdeftoweniger oder eben Deshalb bon dämoniſcher
Macht. Mit unferm Gemeinſchaftsbewußtſein verlöſcht auch unſer Per-
fönlichleitsbewußtjein, und wir werden beberrfht bon uns fremden
Mächten, ja bon lebensfeindlichen, volfsfeindlidmen Gewalten, Mächten,
welche Die Antife Dämonen nannte. Robe Inftinkte, verantwortungsloje
Impulſe werden im einzelnen wad und Burd) die Zufammenhäufung,
Sufammenrottung der einzelnen gefteigert. Während im Leben der ®e-
meinfdaft das Tun und Lajjen des Individuums geregelt und gegliedert
wird, jo wird tm Leben Der Mafje unfer Sun regellos zerteilt und ohne
Öliederung, ohne Sinn verbraudt, vergeudet, ja auf Ziele gerichtet,
die wir felbft gar nicht wollen. Die Maffe und der Menſch als Malie
weiß nichts mehr bon dem Sinn feines Suns, Tennt feine Aufgaben,
feine Richtungen, fein Geridtetfein und fein „Bericht“. Die Mafje ent-
giebt fid der Verantwortung, dem Richter ihres Handelns. Alle Maſſe
602
ift gewiffenios oder bewußtlos. Daher fann die Waffe fo mißbraudit
werden. Daher Iann in der Maffenpolitif der Iandfremde Führer
Einfluß gewinnen. Daher fann bie fogenannte Maffenfultur alle wahre
Kultur, gu deutſch alle Bflege geiftigen Vebens zerftören. Statt des
gepflegten Willens erhalten wir gezüchtete oder wildwucdhernde geile
Triebe, denen der Maffenanführer Nahrung gibt. Ein Serrbild aller
Kultur haben wir Heute in der fogenannten ,Kunft des Bolles“: im Kino
und Ullfteinbud, welche die Urteilsunfabigfeit und die Inftinktlofigfeit der
Waffe verwedjelt mit dem, was wir Bollgstunft nennen.
Die Bolfsfagen und Bolfslieber jind von Hddftem Realismus, von
bddfter Lebenswahrbeit. Sie idealifieren gar nicht. Aber fie ziehen auch
nicht herunter; fie find Dart, far, beutlid wie das gefunde DBolfsleben
felbft. Welche erfdiitternde Realiftif ftedt 3. B. im Dotentang oder im
Nibelungenlied! Hier wird das Leben nicht verfchleiert, aber fein tiefftes
Gebeimnis wird aud nicht ent{dleiert. Harter Wirklichleitsfinn vere
bindet fid mit garter Ehrfurdt. Und dur dieſe Wirklidfeitsauf-
faffung fdimmern die Worte des Lebens Hindurd und zeichnen fid
immer flarer und eindeutiger ab für jeden, der Augen bat zu fehen.
Die Maffen,tunft“ klappert feelenlos auf einem Apparat oder fie
bat eine verlümmerte Seele. Sid) mit fremden Federn ſchmückend, nennt
fie Ehrlichkeit, was nichts ift als Schamlofigfeit, oder man begeiftert fid
für den fogenannten Realismus, erhebt ihn zur Idee, gum gemeinfamen
Ziel, weil er fo ideenlos ift und aller echten Ideen, aller Werte bar.
Die Aufgabe einer werterfüllten, einer wert-bollen Erziehung gum
Bolt muß auf diefen Satbeftand in erfter Linie eingeftellt fein. Der
Bolfserzgiehber muß Maſſenpſhchologe fein. Gr muß bei
fic und anderen die Maffe erfennen, um fie zu überwinden in fid
und anderen. Die Frage: was ift in mir „Maffe"? Wie fehr bin id
Durch die „Zeit“, Das „Leben“, den „Alltag“ beeinflußt? — dieſe Grage
ift durchaus fruchtbar. Sie führt über die verjchärfte Selbftheobadtung
und Gelbftbeurteilung zu ſcharfer, aber beicheidener Beurteilung bes
eigenen Bolfes. Wer gut beobachtet und ganz aufridtig fid und andere
beurteilt, der wird bald mit Goethe fagen: Ich febe feinen Fehler bee
(geben, den ich nicht aud) begangen Hätte. —
Die Ueberwindung des Mafjengeiftes führt uns zurüd gum Boll,
zur Semeinihaft, und fie führt den einzelnen zugleich in bas Sen-
trum feiner Perfinlidfeit! Iſt ber Maffengeift einmal überwunden —
underwirdnurüberwundendurd Die einzelne Perſön—
limfeit, welde führt — ift irgendwann und irgendwo, und fei eg
im fleinften Kreife: in der Familie, in Der Gruppe, im Sau Bemein-
[Haft erarbeitet, dann hat bieje fofort wiederum ein feines Oe
fühl für die Fähigkeiten und Gigenfdaften des Führers und für Bas
Berbalten des einzelnen überhaupt. Alle Gemeinfdaft beruht auf dem
Berhältnis gegenfeitiger Anerfennung und Adtung. Darum
Haben die Olieder der Semeinfdaft ein fo feines ©®efühl für bie
Sitten der Gemeinfdaft: Die Formen des Semeinidhaftsgeiftes. Darum
ift Die Beradtung eine fo große Härte, weil fie Die Aufhebung der Gee
meinfchaft, der inneren menſchlichen Lebensform ſchlechthin bedeutet.
39° 603
Man bat lange einen ®egenfab gejehen zwiichen Individuum und
SemeinfHaft. Individualität, fo Hat man gemeint, vertrage fid nicht
mit wahrer emeinfdaft. Gerade das Umgelehrte ift der Fall. Se ftär-
fer die Individualität des Menfchen, um fo größer ift feine gemeinichaft“
bildende Kraft. ®emeinfdaft ift zwar nicht die Summe, aber die Bere
fledtung der Individuen. Ohne Individualität, ohne Perjönlichteit feine
©®emeinihaft. Gerade die gleid-macdenbe Zerftörung der Individualität,
die Auflöfung der Gingelfeele in der Arbeitsteilung (nidt Arbeits“
gliederung!) oder in’ der Gorderung der allgemeinen ®leichheit zerftört
aud) die Semeinfdaft und läßt fie zur Maffe werden. In den ftärlften
®emeinfdaften Ieben aud) die ftarfften Perfdnlidfeiten, freilid — Per-
fönlichleiten, nidt Ich⸗Menſchen, nit Maſſe⸗Menſchen. Der Menfd,
der nur fich felber auslebt, Tann freilich nidt Oemeinſchaft bilden, aber
er wird aud nie die Würde der menfhlichen Perfdnlidfeit erlangen,
weil wiederum aud) die Perfdnlidfeit nur durch bie ®emeinfchaft Iebt,
nur durch fie ihren Wert empfängt. Der Menich ift nicht gut, fondern
er wird es, indem er fid in ftändiger Hingabe an feine fittlide
Aufgabe, an fein Wert, fortfchreitend mit Wert erfüllt:
Du follft Deinen Nädiften lieben wie Dich felbft, du follft in der See
meinfdaft dich felber finden, Durd Oemeinſchaft gu dir felber fommen.
Golde „Nächſten“⸗Liebe ift freilid gang etwas anderes als Die Heute
wieder fo beliebte ,Menfden*-Liebe. Der Unterfdied ift einmal tref-
fend gefenngcidnet bon Dem jungen Hegel: „Die Menfchenliebe, die fich
auf alle erftreden foll, bon denen man aud nichts weiß, die man nicht
fennt, mit denen man in feiner Beziehung ftebt, diefe allgemeine Men«
ſchenliebe ift eine fchale, aber dharalteriftiihe Erfindung der Seiten,
welche nidt umbin Tönnen, idealiſche Forderungen, Tugenden gegen ein
Oedankending aufguftellen, um in folchen gedachten Objekten recht prad-
tig gu erfdeinen, da ihre Wirklichkeit fo arm ift. Die Liebe zu
dem Nächſten ift Liebe zu Den Menfchen, mit denen man fo wie jeder
mit ihnen in Beziehung fommt.*
Das Semeinihaftsgefühl verwirklicht fi alfo nur in engften
Kreifen, nur pon Menſch zu Menid, nicht aber in prächtigen Reden,
paterländiichen Geiern oder Hodtinenden Idealen. Was nübt uns Die
nationale ®efinnung fo vieler, wenn fie nicht fchon im engften Kreife des
Gerfehrs, der Arbeit, der Sefelligkeit fid betätigt, wenn alfo ihre
Wirklichkeit, ihre Wirkfamfeit fo arm ift!
Dagegen führt uns nun Die rechte Erfenntnis bom Wefen ber Ger
meinfdaft, bon der Berfledtung aller Individuen ineinander, gu Der
Ginficdht, daß wirkliche „Näcdhften“-Liebe fid aud wirtfam erweift
als „Sernften*-Liebe. Theodor Litt, dem wir dieſe Cinfidt verdanten,
bat an einigen Beifpielen aus dem Kriege gezeigt, wie piele Menjchen
miteinander in Beziehung fteben, die Dod nichts voneinander wiffen:
„Zahllos find die Beifpiele, in denen die Enge bes fogialen Dlid-
feldes mit ihren berbangnispollen Wirkungen bemerflid wird; der Welt-
frieg bat fie auf Schritt und Tritt gebradt. Cs war, als fei alle Welt
der Meinung, die Wirkung des perjönlichen Berbhaltens reiche niemals
weiter als big zum Rande des fogialen Gefidtstreijes. Ich made jeman-
604
bem im Swiegefpräd eine Mittteilung, Die Das öffentlide Bertrauen gu
untergraben, verfehlte politifche Orientierungen zu ftügen, eine politifche,
fogiale, religidje @ruppe des Bolfes zu verdadtigen geeignet ift: fabe
ich ftatt des einen Bertrauten die Summe Der Wenfden, zu denen die
Mitteilung nad und nad ihren Weg finden wird, als vielfdpfiges
Auditorium bor mir berfammelt, fabe id die Saat bon Mißtrauen und
Zwietracht vielfältig aufgeben, id würde fie Doch vielleicht, ihre weit
tragende Bedeutung eriennend, etwas forgfaltiger auf ihre Beglaubi-
gung bin prüfen und gegebenenfalls lieber zurüdbalten. Ich Iaffe einem
Antergebenen eine Behandlung angedeihen, Die in feiner Bruft ®efühle
der LUnterbdriidung und des Grolls erweden muß: fähe ich, wie diefes.
Gift weiter und weiter träufelt, wie der Grimm diefes einen mit der
Stimmung Sleidgefinnter zufammenrinnt und dDumpfe Maffengefühle an-
fchwellen läßt, id) möchte vielleicht mehr Selbftgudt üben.“ (SH. Litt,
Individuum und Semeinfchaft, 1. Aufl. S. 115.)
Diefe Beifpiele Bh. Litts zeigen, was eigentid Berantwor-
tung im realen Beben der Gemeinſchaft bedeutet. Wie ber ftete Sropfen
den Stein böblt, fo unterböhlt jeder einzelne ftiindlid und täglich die
Semeinihaft im Umgang mit feinen Mitmenfchhen, wenn er fich nicht be-
wußt wird, daß alle Siele politifcher, nationaler, fozialer und religiöfer
Art, die aud er will, Dur ihn felb ft aufgebaut oder zerftört werden.
Recht verftanden ift darum jede Handlung in der ®emeinfhaft zu
einem Seil Bolfsergiehung. Die Erziehung der BolfSgenoffen Dur d-
einander führt erft gu der inneren und Außeren Zucht des Bolfes, die
wir als die unumgängliche Borausfegung feines Beftandes tn Krieg und
Stieden erfennen müffen. Die Klage über die Zuchtlofigleit bes Volkes
fowie die Empörung gegen die „Disziplin“ Haben ihren Grund in dem
gleihen Verkennen der Satfade, daß alle Zucht in Selbft-Sudt ge»
gründet ift und daß Pisziplinlofigkeit nur fordern fann, wer überhaupt
feine Oemeinſchaft will. Wer fid nicht erziehen läßt, wer nicht mehr
lernen fann, wird nie und nimmer andere erziehen, wird aud fein
Boll nit Lehren lönnen. Sozialer Hochmut und Empörung, moralifde
Anmaßung und Autoritdtslofigteit werden fic ftets qegenfeitig fore
dern und fteigern, fo wie Führerdemut und Gefolgſchaft, Verantwortung
und Disziplin fic fordern und ergänzen werden. Aufgabe des Führers
tft es, fein Herrentum im Dienft fruchtbar zu maden und in dem könig⸗
liden Bewußtſein feines Amtes der erfte Diener feines Bolfes zu fein.
Kurt Pladte.
Erleſenes
Aus Oswald Spenglers, Untergang des Abendlandes“.
Aus der Einleitung.
De Welt als Geſchichte, aus Ihrem Oegenſatz, der Welt als Natur, be»
griffen, gefchaut, geftaltet — das ift ein neuer Afpeft des Dafeins, der
bis Heute nie angewandt, vielleicht dunkel gefühlt, oft geabnt, nie mit allen
605
feinen Ronfequengen gewagt worden ift. Hier liegen zwei mögliche Arten
por, wie der Menſch feine Umwelt befißen, erleben fann. Ich trenne der
Gorm, nicht der Subftanz nad mit vollfter Schärfe den organischen dom
medanifden Welteindrud, ben Inbegriff der Geftalten bon dem der Gee
lebe, Das Bild und Symbol von der Formel und dem Shftem, das Cine
malig-Wtrllihe pom DBeftändig-Möglichen, das Ziel Der planpoll ord⸗
nenden Ginbilbungsfraft bon dem der awedmäßig zergliederten Erfah»
rung oder, um einen noch nia bemerlten, febr bedbeutungspollen ®egenp
fa ſchon bier zu nennen, dem Seltungsbereid) der Hronologt{Hen bon
dem der matHematijden Zahl.
Gs Tann fi demnad is einer Unterfudung wie der porliegenden
nicht Darum handeln, Die an der Oberfläche des Tages fikhtbar werdenden
Greiqniffe geiftig-politifcher Art als folde hingunebmen, nad Urjade und
Wirtung gu ordnen und in ihrer fcheinbaren, verftandesmäßig faßlichen
Sembenz zu verfolgen. Eine derartige — ,pragmatifde* — Beband«
fung der Hiftorie würde nichts als ein Stüd verfappter Naturwiſſenſchaft
fem, woraus die Anhanger der materialiftiihen Gefdidtsauffaffung fein
Hehl madden, während ihre Gegner fid nur der Identität bes beiderfei-
tigen Verfahrens nicht hinreichend bewußt find. Gs handelt fid nicht um
bag, was Die greifbaren Tatſachen der Oeſchichte an und für fic, als Gre
{deinungen zu irgendeiner Zeit find, fondern um das, was fie Durd ihre
Erſcheinung bedeuten, andeuten. Die Hiftorifer ber Gegenwart glauben
ein übriges zu tun, wenn fie religidfe, fogiale und allenfalls kunfthiftorifche
Einzelheiten herangieben, um den politiiden Sinn einer Gpode zu , illu.
ftrierem“. Aber fie vergeffen das Entſcheidende — entjcheidend nämlich,
infofern fidtlide Sefhichte Ausdrud, Zeichen, formgetwordenes Seelentum
ift. Ich babe noch feinen gefunden, der mit dem Studium diefer morpholo-
giſchen Berwandtichaften Ernft gemacht hätte, der über den Bereich poli-
tifher Tatſachen hinaus die lebten und tiefften Gedanfen der Wathematif
der Hellenen, Araber, Inder, Wefteuropäer, den Sinn ihrer frühen Orna-
mentif, ihrer arditeftonifden, metaphhfifden, dramatiſchen, lyriſchen Ure
formen, die Auswahl und Richtung ihrer großen Künfte, Die Gingelbeiten
ihrer fiinftlerifden Technik und Stoffwahl eingehend gefannt, gejchweige
Denn in ihrer entfcheidenden Bedeutung für Die Formprobleme des Hifto-
rifchen erfannt hatte. Wer weiß es, daß awifden der Differentialrehnung
und dem dhnaftilchen Staatspringip der Zeit Qudwigs des Biergehnten,
zwiſchen der antifen Staatsform Der Polis und ber euflidifchen ®eomettrie,
zwifhen Der Raumperfpettive der abendlandifden Delmalerei und ber
eberwindung des Raumes Hurd) Bahnen, Fernfpredher und Fernwaffen,
zwijchen der kontrapunktiſchen Inftrumentalmufif und dem wirtfchaftlichen
Kreditipftem ein tiefer Zufammenhang der Form befteht? Selbſt die real-
ften Saltoren der Politif nehmen, aus Hiefer Perſpektive betrachtet, einen
höchſt tranjzendenten Sharalter an und es gejchieht pielleiht zum erften
Male, daß Dinge wie das aghptifdhe Berwaltungsiyftem, das antife Münz«
wefen, die analbtifhe ®eometrie, ber Sched, der Guegfanal, der Kine»
ſiſche Buchdrud, das preußiihe Heer und die rdmifde Strafenbautednit
gleichmäßig als Symbole aufgefaßt und als folche gedeutet werden.
An diejem Punkte ftellt fic) Heraus, daß es eine ſpezifiſch biftorifche
606
Art des Srfennens nod gar nicht gibt. Was man fo nennt, zieht feine
Methoden faft ausſchließlich aus Dem SGebiete bes Wiffens, auf welchem
allein Methoden der Srfenntris zur ftrengen Ausbildung gelangt find, aus
der Phyſik. Man glaubt Geſchichtsforſchung zu treiben, wenn man den gee
genftandliden Sufammenbang bon Urfade und Wirkung verfolgt. Es tft
eine merkwürdige Datfade, Daß die PHilofopbhie alten Stils an eine andre
Möglichkeit der Beziehung Des ®eiftes auf die Welt nie gedacht hat. Kant,
ber in feinem Hauptwerk die formalen Regeln der Erkenntnis feftitellte,
30g, ohne Daß weder er noch irgendein anderer es bemerkt hätte, allein bie
Natur als Objekt der Berftandestatigfet in Betradt. Wilfen tft für ihn
matbematifmes Willen. Wenn er don angeborenen Formen der Anfchau-
ung und Kategorien bes Berftandes |pricht, fo denft er nie an das gang
andersgeartete Begreifen Hiftorifcher Phänomene, und Schopenhauer, der
bon Kants Kategorien bezeichnenderweife nur Die der Kaufalität gelten
läßt, redet nur mit Beradtiung bon der Gefdidte. Daß außer der Not-
wendigleit bon Urfadhe und Wirkung — id möchte fie die Logik des
Raumes nennen — im Leben aud nod die organifche Notwendigfeit des
Schickſals — die Logik der Zeit — eine Tatſache bon tieffter tnnerfter Gee
wißheit ift, eine Tatſache, welche das gefamte mythologiſche, religiöfe und
fünftlerifche Denfen ausfillt, die das Weſen und den Kern aller Gefdidte
im Gegenſatz zur Natur ausmadt, die aber den Grfenntnisformen, welde
Die „Kritik der reinen Bernunft* unterfudt, unzugänglich ift, Das ift nod
nidt in den Bereich intelleftueller Formulierung gedrungen. Die Philo-
fopbie ift, wie ®alilet an einer berühmten Stelle feines Saggiatore fagt,
im großen Bude der Natur ,,fcritta in Imgua matematica“. Aber wir
warten heute noch auf die Antwort eines Philofophen, in welder Sprade
die Geſchichte gefdrieben und wie diefe zu Iefen ift.
Die Matbematil und das Kaufalitätsprinzip führen zu einer nature
baften, Die Shronologie und bie Schidfalsidee zu einer hiſtoriſchen Ordnung
der Srideinung. Beide Ordnungen umfaffen die ganze Welt. Nur dag
Auge, in dem und Durch das fic dieſe Welt verwirklicht, ift ein anderes.
er „die MenfdHeit* hat fein Biel, feine Idee, feinen Plan, fo wenig
bie Gattung der Schmetterlinge ober der Orchideen ein Biel hat. „Die
Menſchheit“ ift ein leeres Wort. Man laffe dies Phantom aus dem Um⸗
freis der biftorifchen Formprobleme fchwinden und man wird einen über-
tafdenden Reidtum wirllider Formen auftauden feben. Hier ift eine
unermeßlihe Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jebt
Durch eine Phraſe, durch ein dürres Schema, durd perjönlihe „Ideale“
berdedt wurde. Ich febe Statt Des monotonen Bildes einer linienfdrmigen
Weltgeſchichte, bas man nur aufrecht erhält, wenn man bor der über-
wiegenden Zahl der Satfaden das Auge [chließt, das Phänomen einer
Bielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße
einer mütterlihen Landichaft, an die jede bon ihnen im ganzen Berlauf
ihres Dafeins ftreng gebunden tft, aufblühen, bon denen jede ihrem Stoff,
dem Menfchentum, ihre eigene Form aufprägt, bon denen jede ihre eigne
Idee, ihre eignen Leidenfchaften, ihr eignes Beben, Wollen, Fühlen, ihren
607
eignen Sod bat. Hier gibt es Farben, Lichter, Bewegungen, Die nod fein
geiftiges Auge entdedt bat. Gs gibt aufbliibende und alternde Kulturen,
Voͤlker, Sprachen, Wahrheiten, ®ötter, Landichaften, wie es junge und
alte Giden und Pinien, Blüten, Zweige, Blatter gibt, aber es gibt feine
alternde „Menjchheit“. Jede Kultur hat ihre eignen Möglichkeiten bes
QAusdruds, bie erjcheinen, reifen, verwelfen und nie wiederlehren. Gs gibt
viele, im tiefften Wefen völlig poneinander verſchiedene Plaftifen, Male
reien, DMtathematifen, Phyſiken, jede bon begrenzter Lebensdauer, jede in
fich felbft geichloffen, wie jede Pflanzenart ihre eignen Blüten und Früchte,
ihren eignen Typus von Wachstum und Niedergang bat. Dieje Kulturen,
Lebewefen Hddften Ranges, wadfen in einer erhabenen Swedlofigfeit
auf, wie Die Blumen auf dem Felbe. Sie gehören, wie Pflanzen und Tiere,
der lebendigen Natur Ooethes, nicht der toten Natur Newtons an. Ich [ehe
in der Weltge[didte das Bild einer ewigen Seftaltung und Umgeftal-
tung, eines wunderbaren Werdens und Bergebhens organifder Formen.
Der zünftige Hiftorifer aber fieht fie in Der ®eftalt eines Bandwurms, ber
unermüdlich Epochen „anfebt“.
Aus „Städte und Völker“: Die Weltftadt.
er Steintoloß „Weltftadt“ fteht am Ende des Lebenslaufes einer jeden
großen Kultur. Der bom Lande feelifch geftaltete Kulturmenfch
wird von feiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Beſitz genommen, bee
feffen, gu ihrem ®eichöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem
Opfer gemadt. Diefe fteinerne Maffe ift die abfolute Stadt. Ihr
Bild, wie es fid) mit feiner großartigen Schönheit in die Lichtwelt des
menſchlichen Auges zeichnet, enthält Die ganze erhabene Todesſymbolik
des endgültig „Bewordenen“. Der durdfeelte Stein gotifher Bauten ift
im Berlauf einer taufendjährigen Stilgefhichte endlid gum entjeelten
Material diefer dämoniſchen Steinwüfte geworden.
Diefe lebten Städte find gang Geift. Ihre Häufer find nist mehr
wie nod die der joniiden und Barodftddte Ablömmlinge des alten
Bauernhaufes, bon dem einft die Kultur ihren Ausgang nahm. Sie find
überhaupt nicht mehr Häufer, in denen Befta und Banus, die Penaten
und Laren irgendeine Stätte befißen, fondern bloße Behaufungen, welde
nicht das Blut, fondern der Swed, nicht das Gefühl, fondern der wirt-
[Haftlide Unternehmungsgeift gefdaffen bat. Solange der Herd im
frommen Sinne der wirkliche, bedeutfame Mittelpuntt einer Gamilie ift,
fo lange ift die Iebte Beziehung gum Lande nidt gefdwunden. Grft
wenn aud) Das verloren geht und die Maffe der Mieter und Sdlaf-
gäfte in diefem Häufermeer ein irrendes Dafein bon Obdad zu Obdad
führt, wie Die Sager und Hirten der Vorzeit, ift der intelleftuelle Ao⸗
mabe völlig ausgebildet. Diefe Stadt ift eine Welt, ft Die Welt. Sie
bat nur als ®anges die Bedeutung einer menjhliden Wohnung.
Die Häufer find nur die Atome, welche fie gufammenfegen.
Jetzt beginnen bie alten getwadfenen Städte mit Ihrem gotifden
Kern aus Dom, Rathaus und fpißgiebligen Gaffen, um Deren iirme
und Dore die Barodgeit einen Ring von geiftigeren, Helleren Patrizier-
608
bäufern, Paläften und Hallentirden gelegt hatte, nad allen Seiten in
formlojer Waffe überzuquellen, mit Haufen bon Wietsfafernen und
Zweckbauten fid in bas berddende Land Hineingufreffen, bas ebriniirdige
Antlig der alten Zeit dur Umbauten und Durdbriide gu zerftören.
Wer bon einem Turm auf das Häufermeer Herabfieht, erfennt in diefer
fteingewordenen @Sefdidte eines Wefens genau die Epoche, wo das
organiihe Wachstum endet und die anorganifde und deshalb unbe-
grenzte, alle Horizonte .überjchreitende Häufung beginnt. Und jebt ent-
fteben aud die fiinjtliden, matbematijden, vollfommen landfremben
@ebilde einer reingeiftigen Greude am Zwedmäßigen, Die Städte
Der Stadtbaumeifter, die in allen Sibdilifationen biefelbe fhach-
Drettartige Gorm, das Symbol der Geelenlofigfeit anftreben. Diefe
regelmäßigen Häujerquadrate haben Herodot in Babhlon und die Spa-
nier in Tenochtitlan angeftaunt. In der antifen Welt beginnt bie Reibe
Der „abſtrakten“ Städte mit Thurioi, bas Hippodamos bon Wilet 441
„entwarf“. Priene, wo das Sdadbrettmufter die Betwegtheit ber Orund⸗
flade vollfommen ignoriert, Rhodos, Alezandria folgen als Borbilber
aabllojer Provinaftddte der Kaiferzeit. Die islamifden Baumeifter haben
feit 762 Bagdad und ein Jahrhundert fpäter die Riefenftadt Gamarra
am Zigris planmäßig angelegt. In der wmefteuropdifdh-amerifanifden
Welt ift Das erfte große Beifpiel der &rundriß bon Wafbington (1791).
Gs fann fein Zweifel befteben, daß die Weltftäbte ber Hangeit in China
und die der Maurhadhpnaftie in Indien diefelben geometrifhen Formen
befeffen haben. Die Weltftädte der wefteuropdifd-amerifanifden Zivi⸗
Iifation haben noch bei weitem nidt den ®ipfel ihrer Entwidlung ers
langt. Ic febe — lange nad) 2000 — Stadtanlagen für zehn bis zwan⸗
aig Millionen Menfchen, dia fid über weite Landfdaften verteilen, mit
Bauten, gegen welche die größten Der Gegenwart zwergbaft wirken, und
Berlehrsgedanfen, die uns Heute als Wahnfinn erjcheinen würden.
Aber fein Glend, fein Zwang, felbft nicht die Flare Ginjidt in dem
Wahnſinn diefer Entwidlung febt die Anziehungskraft diefer Damoni-
{den ®ebilde herab. Das Rad Hes Schidfals rollt dem Ende zu; die
®eburt der Stadt zieht ihren Sob nach fid. Anfang und Ende, Bauerne
haus und Häuferblod verhalten fid wie Seele und Intelligenz, wie Blut
und Stein. Aber „Zeit“ ift nicht umfonft ein Wort für die Tatſache der
Nidtumfehrbarfeit. Es gibt bier nur ein Vorwärts, fein Zurüd. Das
Bauerntum gebar einft den Marlt, die Landftadt, und näbrte fie mit
feinem beften Blute. Wun faugt die Riefenftadt bas Land aus, unerfätt“
lid, immer neue Ströme bon Menſchen fordernd und verfdlingend, bis
fie inmitten einer faum noch bevdlferten Wüfte ermattet und ftirbt. Wer
einmal der ganzen fiindbaften Schönheit Hiefes Iebten Wunders aller
Gefdhidte verfallen ift, ber befreit fic) nicht wieder. Urfprüngliche Völ⸗
fer fönnen fi bom Boden Iöfen und in die Ferne wandern. Der geiftige
Nomade fann es nicht mehr. Das Heimweh nad) der großen Stadt ift
ftarfer vielleicht als jedes andere. Heimat ift für ihn jede diefer Städte,
Fremde ift {don das nadfte Dorf. Man ftirbt lieber auf dem Straßen»
pflafter, als daß man auf das Land zurüdfehrt. Und felbft der Stel por
Diefer Herrlichkeit, Das Müdefein bor dieſem Leuchten in taujend Farben,
609
Das taedium bitae, bas gulebt mande ergreift, befreit fie nicht. Sie
tragen bie Stadt mit fic in ihre Berge und an das Meer. Sie haben
bas Land in fic verloren und finden es draußen nicht wieder.
Was den Weltftadtmenjchen unfähig madt, auf einem anderen als
Diefem fiinftliden Boden gu leben, ift das Zurüdtreten des Tosmifchen
Saftes in feinem Dafein, während die Spannungen des Wadfeins immer
gefährlicher werden. Man vergejle nicht, Daß in einem Mifrofosmos Die
tierbafte Seite, bas Wadfein, zum pflangenbaften Dafein bingue
tritt, nicht umgefebrt. Saft und Spannung, Blut und Seift, Sdidfak
und Kaufalitaét verhalten fid) wie das blühende Land zur dberfteinerten
Stadt, wie etwas, das für fic da ift, gu einem andern, bas bon ibm ab»
bängt. Spannung ohne den fosmifden Taft, der fie burdfeelt, ift der
Uebergang zum Nichts. Aber Zipilifation ift nichts als Spannung. Die
Köpfe aller givilijierten Menſchen bon Rang werden ausfdließlich von
dem Ausdrud der ſchärfſten Spannung beherrſcht. Intelligenz ift nichts
als Fähigkeit zu angefpannteftem Verſtehen. Diefe Köpfe find in jeder
Kultur der Typus ihres „Iebten Menſchen“. Man dergleide damit
DBauerntöpfe, wenn fie im Straßengewühl einer Großſtadt auftauchen.
Der Weg bon der bäuerliden Klugheit — der Schlaubeit, dem Mutter
wis, dem Inſtinkt, Die wie bei allen Eugen Tieren auf gefiibltem Taft
beruhen — über den ftädtifhen ©®eift zur weltftädtifchen Intelligenz —
das Wort gibt fdon in dem fdarfen Klange bie Abnahme der fosmi-
hen Unterlage bortrefflid wieder — läßt ſich aud als die beftändige
Abnahme des Schidjalsgefühls und die hemmungslofe Zunahme des Bee
Dürfnijfes nad Kaufalität begeidnen.. Intelligenz ift der Griak unber
wußter Lebenserfabrung durch eine meifterbafte Uebung im Denfen,
etwas Fleifchlojes, Mageres. Die intelligenten Geſichter aller Raſſen
find einander ähnlich. Gs ift Die Raffe felbft, Die in ihnen zurüdtritt.
Se weniger ein ®efühl für das Notwendige und Selbftverftandlide Hes
Dafeins befteht, je mehr die Gewohnheit um fic greift, fic alles „Har
zu machen“, defto mehr wird die Angft des Wadfeins faujal geftillt.
Daher die Sleidfebung bon Willen und Beweisbarfeit und der Grfag
bes religidfen Wththus durch den faufalen, die wiffenfdaftlide Theorie.
Daher das abftrafte Geld als Hie reine Kaufalität bes wirtfdaftliden
Rebens im Gegenſatz zum ländlichen Oüterverkehr, der Takt ift und
nit ein Shftem bon Spannungen.
Die intellektuelle Spannung fennt nur noch eine, Bie ſpezifiſch welt“
ftabdtijde Gorm der Erholung: Die Sntfpannung, die „Serftreu-
ung“. Das edte Spiel, die Lebensfreude, die Luft, der Rauſch find
aus Dem fosmifden Safte geboren und werden in ihrem Wefen gar
nit mehr begriffen. Aber die Ablöfung intenfipfter praktiſcher Denk⸗
arbeit durch ihren ®egenjab, die mit Bemwußtfein betriebene Zrottelei,
die Ablöfung der geiftigen Abfpannung durch die fdrperlide bes Sports,
ber fdrperliden durch die finnliche bes ,,Bergniigens* und die geiftige
der „Aufregung“ bes Spiels und der Wette, ber Erfah der reinen Logif
ber täglichen Arbeit durch die mit Bewußtſein genoffene Myſtik — Das
fehrt in allen Weltftädten aller Bivilifationen wieder. Kino, Sxpreffio-
nismus, Sheofophie, Bozlämpfe, Niggertänze, Poker und Rennwetten
610
— man bolrd das alles in Rom wiederfinden und ein Kenner follte eine
mal die Unterfudung auf die indifchen, dinefifden und arabifhen Welt-
ftädte ausdehnen. Um nur eins zu nennen: wenn man dag Kamafutram
lieft, verfteht man, was für Leute am Buddhismus ebenfalls Gee
{mad fanden; und man wird nun aud die Stierfampfigenen in den
fretiihen Paläften mit gang anderem Auge betrachten. Gs liegt ein
Kult zugrunde, ohne Zweifel, aber es ift ein Parfüm darüber gebreitet
wie über den fajbionablen ftadtrdmifden Ifisfult in der Nachbarſchaft
Des Sirfus Mazimus.
And nun gebt aus der Tatfade, daß das Dafein immer wurzellofer,
das Wachſein immer angefpannter wird, endlich jene Erſcheinung Herdor,
Die im ftillen längft vorbereitet war und febt plößlich in das Helle Licht
der Sefdidte rüdt, um dem ganzen Schaufpiel ein Ende zu bereiten:
Die Unfrudtbarfeit des zivilijfierten Menfaden. Es han-
delt fic) bier nicht um etwas, das fid mit alltäglicher Kaujalität, etwa
phyſiologiſch, begreifen ließe, wie es Bie moderne Wiffenfdaft ſelbſtver⸗
ftändlich verfudt bat. Hier liegt eine Durdaus metaphHosifde Wena
dung gum Dobe dor. Der lebte Menſch der Weltftadte will nicht mehr
leben, wohl als einzelner, aber nidt als Thpus, als Menge; in diefem
Sefamtwefen erlifHt die Gurdt vor dem Bode. Das, was ben
echten Bauern mit einer tiefen und unerflarliden Angft befällt, Der See
Dante an bas Ausfterben der Familie und des Namens, Hat feinen Sinn
verloren. Die Gortbauer des verwandten Blutes innerhalb der fichtbaren
Welt wird nidt mehr als Pflicht diefes Blutes, Das Los, der Vebte zu
fein, nicht mehr als Verhängnis empfunden. Nicht nur weil Kinder un-
möglich geworden find, jondern bor allem, weil die bis zum Außerften
gefteigerte Intelligenz feine ®ründe für ihr Borhandenfein mehr findet,
bleiben fie aus. Man verjente fid in Die Seele eines Bauern, der don
Urzeiten ber auf feiner Scholle fißt oder von ihr Befis ergriffen bat,
um Dort mit feinem DBlute gu haften. Gr wurgelt bier als der Entel bon
Ahnen und der Ahn von fiinftigen Enfeln. Sein Haus, fein Cigen-
tum: dag bedeutet bier nicht ein flüchtiges Sufammengebdren bon Leib
und ®ut für eine furge Spanne bon Jahren, fondern ein Dauerndes und
inniges Berbundenjein bon ewigem Land und ewigem Blute: erft
Damit, erft aus dem Sepbaftwerden im myſtiſchen Sinne erhalten bie
großen Epochen des Kreislaufs, Zeugung, Seburt und Tod, jenen metas
phyſiſchen Zauber, der feinen finnbildlicden Niederſchlag in Sitte und
Religion aller landfeften Bevölkerungen findet. Das alles ift für den
„legten Menfden“ nicht mehr vorhanden. Intelligenz und Unfrudtbar-
feit find in alten Gamilien, alten Böllern, alten Kulturen nicht nur des⸗
balb verbunden, weil innerhalb jedes einzelnen Dtifrofosmos Die über
alles Maß angejpannte tierbafte Lebensfeite die pflanzenhafte aufzehrt,
fondern weil dag Wadjein die ®ewohnbeit einer Taufalen Regelung
des Dafeins annimmt. Was der Berftandesmenfd mit einem äußerft
bezeichnenden Ausdrud Naturtrieb nennt, wird bon ihm nicht nur „kau⸗
fal* erfannt, fondern auch gewertet und findet im Kreife feiner übrigen
Dedürfniffe den angemeffenen Plak. Die große Wendung tritt ein, fo-
bald es im alltägliden Denken einer Hodfultivierten Bevölkerung für
611
bas Borbandenfein bon Kindern „Bründe* gibt. Die Natur fennt feine
@riinde. Ueberall, wo es wirkliches Leben gibt, herrſcht eine innere
organifde Logif, ein „es“, ein Srieb, die vom Wadfein und defjen fau-
falen erfettungen durchaus unabhängig find und bon ibm gar nicht
bemerft werden. Der Seburtenreidtum urjprünglider Beddlferungen ift
eine Naturerfheinung, über deren Borbandenjein niemand nad-
denkt, geſchweige Denn über ihren Nußen oder Schaden. Wo Gründe für
Lebensfragen überhaupt ins Betouftfein treten, da ift das Leben ſchon
fragwürdig geworden. Da beginnt eine weife DBeichräntung der Gee
burtenzabl — Die bereits Polybius als Das DBerhängnis bon Briechen-
land beflagt, bie aber {don lange bor ihm in den großen Städten üblidy
war und in rdmijder Zeit einen erjchredenden Umfang angenommen bat
—, bie guerft mit Der materiellen Not und febr bald überhaupt nicht
mehr begründet wird. Da beginnt denn aud, und zwar im buddbifti-
fchen Indien fo gut wie in Babylon, in Rom wie in den Städten Der
Segenivart, die Wahl der ,,Vebensgefahrtin® — der Bauer und jeder
urlpriinglide Menſch wählt Bie Mutter feiner Kinder — ein
geiftiges Problem zu werden. Die Ibfenebe, die ,bdbere geiftige Gee
meinfdaft* erfdeint, in welder beide Seile „frei“ find, frei nämlich als
Ontelligengen, und zwar bom pflangenbaften Drange des Blutes, das fid
fortpflangen will; und Shaw barf den Gag ausfpreden, „Daß die Grau
fic nidt emangipieren fann, wenn fie nicht ihre Weiblichkeit, ihre Pflicht
gegen ihren Dann, gegen ihre Kinder, gegen Die ®efellichaft, gegen das
®efeh und gegen jeden, außer gegen fid felbft, bon fid wirft“. Das
Arweid, bas Bauernweib ift Mutter. Seine ganze von Kindheit an
erfehnte Beftimmung liegt in diefem Worte befdloffen. Best aber taucht
das Ibfenweib auf, Die Kameradin, die Heldin einer ganzen weltftädti“
fen Literatur bom nordifden Drama bis gum Parifer Roman. Statt
der Kinder haben fie ſeeliſche Konflikte, bie Ehe ift eine funftgewerblide
Aufgabe und es fommt darauf an, „lich gegenfeitig gu verftehen“. Gs ift
ganz gleichgültig, ob eine amerifanifhe Dame für ihre Kinder feinen gue
reichenden Grund findet, weil fie feine Geafon verjäumen will, eine
Pariferin, weil fie fürchtet, daß ihr Liebhaber Dabongebht, oder eine
Ibſenheldin, weil fie, fic felbft gehört“. Sie gehören alle fic felbft und
fie find alle unfrudtbar. Diefelbe Satfade in Berbindung mit denfelben
„Sründen“ findet fid in Der alezandrinifchen und römifchen und felbft-
berftanbdlid in jeder anderen givilifierten Oeſellſchaft, vor allem aud) in
der, in welder Buddha herangewachſen ift, und es gibt überall, im
Hellenismus und im neunzehnten Jahrhundert fo gut wie zur Zeit bes
Laotſe und der Tſcharvakalehre eine Sthif für findDerarme Sntelligengen
und eine Literatur über Die inneren Konflikte bon Nora und Nana.
Kinbderrei@tum, deſſen ehrwürdiges Bild Goethe im Werther nod
zeichnen fonnte, wird etwas Propinziales. Der fimderreide Bater ift in
@ropftadten eine RKarifatur — Ibſen bat fie nicht vergeffen; fie ftebt
in feiner Komödie Der Liebe.
Auf diefer Stufe beginnt in allen Zipilifationen das mehrhundert⸗
jährige Stadium einer entfebliden Gntodlferung. Die ganze Phramide
des fulturfabigen Menfhhentums verichwindet. Sie wirb bon ber Spibe
612
berab abgebaut, guerft die Weltftädte, Dann die PBropinzftädte, endlich
das Land, das durch bie über alles Wap anwadfende Landfludt feiner
beiten Beddlferung eine Zeitlang bas Leerwerden der Städte verzögert.
Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig, aber feiner ftarfen und
zufunftreihen Slemente beraubt. Gs entfteht Der Typus des Fels
lachen.
Deshalb finden fich überall im diefen Sidilifationen fdon früh
bie berddeten Propinzftädte und am Ausgang der Gntwidlung Die leer
ftehenden Riefenftadte, in deren Steinmaffen eine Heime Fellachenbes
völferung nicht anders hauſt als die Menjchen der Steinzeit in Höhlen
und Pfahlbauten. Samarra wurde {don im zehnten Gabrbundert verlaffen;
Die Refidbeng Aſokas, Patalipurra, war, als der chinefiihe Reifende
SHfiuen Sfiang fie um 635 befucte, eine ungebeure, völlig unbewohnte
Säuferwüfte, und viele der großen Mapaftädte müſſen fdon zur eit
des Gortez leer geftanden haben. Wir befiten eine lange Reihe antifer
Schilderungen bon Polhbius an: die altberühmten Städte, deren leer-
ftebende Sduferreiben Iangfam gujammenftiirgen, während auf dem Foe
tum und tm Oymnaſium Biehberden weiden und im Amphitheater Gee
treide gebaut wird, aus dem nod die Statuen und Hermen berporragen.
Rom hatte im fünften Jahrhundert die Einwohnerzahl eines Dorfes, aber
Die Kaijerpaläfte waren nod bewobhnbar.
Damit findet die Gejdidte der Stadt ihren Abſchluß. Aus dem
urfprüngliden Markt zur Rulturftadt und endlid zur Weltftadt heran-
getoadjen, bringt fie das Blut und die Seele ihrer Schöpfer dieſer groß-
artigen Gntwidlung und deren letzter Blüte, Dem Seift der gipilifation
zum Opfer und vernichtet damit zulebt auch ſich felbft.
Bedeutet die Frühzeit Die Geburt Her Stadt aus dem Lande, die
Spätzeit den Kampf awifden Stadt und Land, fo ift Zipilifation der
Sieg der Stadt, mit dem fie fid bom Boden befreit und an dem fie
felbft zugrunde gebt. Wurzellos, dem Kosmijchen abgeftorben und ohne
Widerruf dem Stein und dem ®eifte verfallen, entwidelt fie eine Gore
menfprade, die alle Züge ihres Wefens wiedergibt: nicht Die eines
Werdens, fondern bie eines Oewordenen, eines Fertigen, das ſich wohl
verändern, aber nicht entwideln läßt. Und deshalb gibt es nur Kau-
falitat, fein Schidfal, nur Ausdehnung, feine lebendige Richtung mehr.
Daraus folgt, daß jede Formenſprache einer Kultur famt der Gefdidte
ihrer Sntwidlung am urfpriingliden Orte haftet, Daß aber jede givili-
fierte Gorm überall zu Haufe ift und deshalb, fobald fie erjcheint, aud
einer unbegrenzten Verbreitung anbeimfallt. Gewiß baben die SHanfe-
- ftädte in ihren nordruffiihen Stapelpläben gotifd und die Spanier in
Giidamerifa im Barodftil gebaut, aber es iff unmdglid, daß aud nur
der fleinfte Abfchnitt ber gotifmen Stilgefhichte außerhalb Welt.
eurppas verlaufen wäre und ebenfowenig fonnte der Stil des attifchen
und englifhen Dramas oder die Kunft der Zuge oder die Religion
Luthers und der Orphiler bon Menſchen fremder Kulturen fortgebildet
oder aud) nur innerlich angeeignet werden. Was aber mit dem Alezan-
drinismus und unferer Romantif entfteht, das gehört allen Stadtmene
{den ohne Unterfdied. Wit der RNomantif beginnt für uns Das, was
613
Goethe weitichauend die Weltliteratur nannte; es ift die führende welt⸗
ftädtifche Literatur, ber gegenüber fich eine bodenftändige, aber be»
langloſe PBropinzliteratur überall nur mit Mühe behauptet. Der Staat
Genedigs oder Griedrids des Oroßen oder das engliihe Parlament, fo
wie es wirklich ift und arbeitet, laffen fid nicht wiederholen, aber „mor
derne Berfaffungen“ laffen fic in jedem afrifanifden und afiatifden
Vande und antife Poleis unter Numidern und Britanniern „einführen“.
Nicht die Hieroglpphen-, aber die Budftabenfdrift, ohne Zweifel eine
tednifde Erfindung der äghptiſchen Zipilifation, ift in allgemeinen See
braud) gefommen. ind ebenjo find nicht echte Rulturfpraden wie Das
Attiiche des Sophofles und das Deutſch Luthers, aber die Weltiprachen,
bie fämtlich wie die helleniftifche Koine, das Arabifche, Babylonifche, Eng⸗
life aus der alltäglichen Prazis der Weltftädte hervorgegangen find,
überall erlernbar. Deshalb nehmen in allen Zipilifationen die modernen
Städte ein immer gleidfirmigeres Sepräge an. Man fann geben, wohin
man will, man trifft Berlin, London und New-York überall wieder; und
wenn ein Römer reifte, fonnte er in Palmbhra, Trier, Timgad und in den
belleniftiiden Städten bis gum Indus und Araljee feine Säulenftellun«-
gen, ftatuenge[dmiidten Plage und Tempel finden. Was aber hier dere
breitet wird, ift nicht mehr ein Stil, fondern ein Gefdmad, feine echte
Gitte, fondern Manieren, und nidt die Tradt eines Bolfes, fondern
die Mode. Damit ift es denn möglid), daß ferne Bebddlferungen die
„ewigen Errungenſchaften“ einer folden Zipilifation nidt nur annehmen,
fondern in feldftändiger Faſſung weiterftrablen. Golde ®ebiete einer
„Mondlichtzipilifation* find Südchina und bor allem Japan, die erft feit
dem Ausgang der Hangeit (220) „Iimaifiert“ wurden, Sada als Bere
breiterin der brabmanifden Zipilifation und Karthago, das feine $or-
men bon Babylon empfing.
Alles das find Formen eines eztremen, don feiner fosmifchen Macht
mehr gebemmten und gebundenen Wadfeins, rein geiftig und rein ezten-
fio und deshalb bon einer folden Gewalt der Ausbreitung, daß die letz⸗
ten und flüddtigften Ausftrahlungen fid faft über die ganze Erde ver»
breitet und übereinander gelegt haben. Fragmente zipilijterter chinefi-
{her Gormen finden fih pielleicht im ffandinapifden Holzbau, baby»
loniihde Maße vielleicht in ber Südjee, antife Münzen in Süd-
afrifa, agbptifde und indifde Einflüffe vielleicht im Inlalande.
Während aber biefe Ausbreitung alle ®renzen überfchreitet, poll»
zieht fid, und zwar in großartigen Verhältniſſen die Ausbildung der
inneren Gorm in Drei Deutlich unterjcheidbaren Stufen: Ablöfung bon Der
Kultur — Reingudt der givilifierten Gorm — Grftarrung. Diefe Ente .
widlung bat für uns eingefebt, und gwar febe id in Der Krönung des
gewaltigen Gebäudes die eigentlide Million der Deutſchen als der lege
ten Nation des Abendlandes. In dieſem Stadium find alle Fragen bes
Lebens, nämlich des apollinifchen, magijchen, fauftifchen Lebens zu Ende
gedacht und in einen lebten Zuftand des Wilfens oder Nichtwiſſens ge-
bradt. Um Ideen fampft man nidt mehr. Die lebte, Die Idee der
Sivilifation felbft, tft tm Umriß formuliert und ebenfo find Technik und
Wirtfhaft im Broblemfinne fertig. Aber damit beginnt erft Die
614
mächtige Arbeit der Ausführung aller Gorderungen und der Anwendung
dieſer Gormen auf Das gefamte Dafein der Erde. Erſt wenn dieſe Arbeit
getan und die Zipilifation nidt nur ihrer Seftalt, fondern auch ihrer
Mafle nad endgültig feftgeftellt tft, beginnt das Feftwerden der Gorm.
Stil ift in Kulturen der Pulsſchlag des Giderfillens. Debt
entftebt — wenn man das Wort gebrauchen will — der zivilifierte Stil
alg Ausdrud des GFertigfeins. Er ift vor allem in Aeghpten
und China gu einer prachtvollen Vollkommenheit gelangt, die alle
QAeußerungen eines im Innern don nun an underdnderliden Lebens bom
geremoniell und Ausdrud der Gefidter bis gu den Außerft feinen und
Durchgeiftigten Gormen einer Kunftübung erfüllt. Bon einer Geſchichte
im Sinne des Sutreibens auf ein Gormideal fann nicht die Rede fein,
aber es berricht eine beftändige leife Bewegtheit der Oberflade, welde
Der ein für allemal gegebenen Sprache immer wieder Heine Fragen und
Ldfungen artiftifher Art ablodt. Darin befteht bie gefamte uns be-
fannte „Geſchichte“ der Kinelifh-japaniichen Malerei und der indifchen
Arditeftur. Und ebenfo wie diefe Scheingejchichte fid pon Der wirklichen
Des gotifchen Stils, fo unterfcheidet fid Der Ritter der Kreuzzüge bon
dem dinejifhen Mandarin als Ber werdende von Dem ferti-
gen Stand. Der eine ift Geſchichte, Der andere bat fie längft über»
wunden. Denn, wenn fie {don feftgeftellt wurde, Die Geſchichte dieſer
Zipilifationen ift Schein und ebenjo die großen Städte, deren Antlit
fih fortwährend verändert, ohne anders zu werden. Und ein Seift
diefer Städte ift nicht vorhanden. Sie find Land in fteinerner Gorm.
Was geht bier unter? Und was bleibt? Gs ift ein bloßer Zufall,
daß germanifche Bdlfer unter Dem Drud der Hunnen Die romanifde
Landichaft beſetzten und damit die Entwidlung des ,,dinefifden* Endr
guftandes der Antife abbraden. Den Seevöltern, die feit 1400 in einer
bis ins einzelne gleidhen Wanderung gegen die ägyhptiſche Welt por-
brangen, glüdte es nur im fretifden Infelgebiet. Ihre mächtigen Züge
an ber libyfchen und pbinififmen Küfte unter Begleitung bon Wilinger-
flotten find ebenfo gejdeitert wie bie Der Hunnen gegen China. So ift
die Antife bas einzige Beifpiel einer im Augenblid ihrer vollen Reife
abgebrodenen Sivilifation. Trotzdem Haben Die ®ermanen nur Die
Oberfchicht der Formen zerftört und durch das Leben ihrer eigenen Vor⸗
fultur erjeßt. Die „ewige* Unterfhicht erreichte man nicht. Sie bleibt,
berftedt und durch eine neue Formenſprache pollftändig überzogen, tm
Untergrunde der ganzen folgenden ®efchichte beftehen und befteht nod
heute in Südfrankreich, Süditalien und Nordfpanien in fühlbaren Reften
fort. Es gibt bier eine fpätantite Färbung der fatbolijdhen Volks—
religion, Die fie von dem firdliden Katholizismus ber wefteuropäijchen
Hoͤhenſchicht fehr deutlich abhebt. In füditalienifhen Kirchenfeften findet
man beute nod antife und vorantife Kulte wieder und ebenfo überall
Gotibeiten (Heilige), deren Berehrung durch den fatholifden Namen Hine
durch eine antife Faſſung erfennen läßt.
Hier aber tritt ein anderes Glement in Erfdeinung, das feine eigene
Bedeutung bat. Wir ftehen bor dem Problem der Ra fife.
615
Kleine Beiträge
Der miflungene Großſtadtverkehr.
In — frũheſten Schulzeit erin
n
ere ich mich als Ergebnis der na⸗
turwiſſenſchaftlichen — gelernt
au haben, daß der par „Die Krone
er en “ fei. Inzwiſchen haben
wir old fröhliche eae
ledig ai A ihren fomptomatifden See
balt, auf ihre Lebensgrundlagen hin gu
werten. Die anthropomorphe Naivitat,
Die fid bier fundgibt, findet ihre Snt-
{predung in ber landläufigen, pom
Sortidrittsgedbanfen beftimmten Gee
fhidtsbetradtung, die überall nur
Borftufen findet, die zu dem heutigen
Stand der Entwidlung planmäßig bine
führen und durd diefe Ginordmm
der Bollfommenbeit oder Gortgef tite
tenheit der Gegenwart teil haben. So
wie bier der Gigenwert der Spoden
außer Acht gelaffen wird, wird gleid-
zeitig mit freundlichem Optimismus
überjehen, daß in allen Bhafen der Ge
fdidte gang beftimmte, einer Zeit ge-
ftellte Aufgaben nicht bewältigt wor⸗
den find, wie e8 etwa den Römern fo
wenig wie den Griechen gelang, bie
Gerfaffung ihrer Stadtftaaten ihrer po⸗
litifden Ausdehnung finnvoll anzuglei-
den, wie e8 in der deutſchen Sefdidte
nit gelang, für die firdliden und
ftaatliden Madtanipriide einen Aus-
gleich zu finden, Ber die politiide Gnt⸗
faltung des deutſchen Staates gefidert
hatte. S3 wäre zweifellos eine reizvolle
Aufgabe, die Gefdidte einmal unter
dem Gelidhtspunlt Hhiftorifder
Sebhlieiftungen gu betradten, gu»
Teich einen Anfab zur fritifchen Eraies
Bung bes völkiſchen Selbſtbewußtſeins.
Hier mag es genügen, eine moderne
pours Seblleiftung, den Be re
ehr, gu unterfuden, wobei man fid
im weientlichen auf das Problem des
a Verkehrs befdranfen
nn. Zwar entfpridt auch der Yeber-
ae feineswegs dem gewünfd-
ten und erforderliden Arbeitstempo
ber Oegenwart. Die Reifegefhwindig-
feit unferer Gerngiige ift, gemeffen
felbft an den gegenwärtigen techniſchen
Möglichleiten, unzulänglid. Indeſſen
fallen im großen genommen die hierbei
entftehenden Seitperlufte nicht in dem
616
Maße ins Setvidt, wie die tägliche und
maffenhafte Zeit» und SKraftpergeus-
dung, die bei dem Transport der Oroß⸗
— — Heim und Arbeitsftätte
te
Zweimal täglih ſetzt der woblbe-
fannte Anfturm auf die Berlehrsmittel
ein, dem Diele Ginridtungen in feiner
Weife gewadfen find. Die Abteile der
DBorortszüge, gedadt fir fibende
Paffagiere, — ſich für dieſen be⸗
ſonderen Fall als Fehlkonſtruktion, da
die Zahl der —* völlig unzurei⸗
chend iſt und die in der Konſtruktion
nicht vorgeſehenen, aber regelmäßig be-
nötigten Stehplage ihre Inhaber zu
Den peinlidften Körperverrenfungen
zwingen. Die hilflos verbitterte Stim»
mung, die zweimal täglich durchlitten
teile des „Draußenwohnens“ aufbebt.
Die Schnell» und Hodbabhnen, die von
den Außenorten nad dem Stadtfern
führen, laffen mit ihren zwei Oleifen
und ihrer dichten Yugfolge fein Durch⸗
fahren der Swildenf
ten. Die ftraßengleihen Bahnen, felbft
in den QAußenpierteln zu langfamem
Tempo gezwungen, [dleppen, je as
fie fih dem Stadtinnern näbern, in
Dichter Reihenfolge, in ftodendem und
Khleihendem Tempo ihre vollgepreß-
ten, mit Menfdentrauben bebängten
Dagen mühfelig vorwärts. Diefe wire
a bereit8 heute für den, ‚ber die Mors
tamn.
@laubte man nun, im Automobil,
oder für den weniger Demittelten im
Sabhrrad ein Mittel gefunden zu haben,
den einzelnen von den öffentliyen
Sransportmitteln unabhängig zu ma-
den und die Dauer und Unannehm⸗
lidfeit der täglichen Reife toefentlid
perringern zu lönnen, fo erwies fid
diefe Sltufion als äuferft furglebig, we»
nigfteng in den Rändern, in denen die
Ne Lage die Benugung des
Automobils and breiten Sdhidten ere
mdglidt; por allem in Amerifa Hat
fi diefe Hoffnung bereits jet als eine
Zäufhung erwiefen. In New Pork hat
das Automobil im Stadtinnern bereits
feinen Borfprung mehr por der Stra-
Benbahn, faum nod por dem Fußgän⸗
ger. Sben die Steigerung der Zahl die-
fer Gabrgeuge bat Ian urfprünglichen
Vorteil rafderer und freierer Beweg⸗
Tidteit wieder aufgehoben. Aber felbft
bet unferem gehnfad geringeren Bere
fehr ift diefe Entwidlung bereits IE
bar geworden. Dagu kommt, Daß der
@aragenbau mit dem Bedürfnis nit»
gends Schritt gehalten Hat, fo daß in
Der Regel vom Heim bis a ps Autogas
rage aud Wieder ein langtwieriger
Supmarid benötigt wird, ebenfo wie
bie überfüllten Stadtftraßen fo wenig
Raum für Parkplätze zu bieten ber-
mögen, daß aud bier Standplay und
Arbeitsftatte auseinander liegen.
Zwei bis drei Stunden täglich, meift
unter den mißlichften und me
gendften Umſtänden, perbraudt der
Srofftadter für feine beiden notwen⸗
Digen Wege. Und diefe Gabhrten find
gudem Gefabrabignitte feines Das
Jeins, deren Derluftziffern erfchredend
und unaufhaltfam anwadfen. Gelbft
Die befte Difgiplin und Regelung des
Gerfehrs fann die Unfälle nur min»
dern, nicht ausfdalten, dieſe gehören
um Wefen der Orofftadt. In Amerika
Pollen angeblich den 40000 Sriegs-
opfern in demfelben Zeitraume 100 000
Opfer des Berfehrs gegenüberftehen.
Diefe Zahlen mögen unridtig, mögen
Legenden fein. Aber eben in Diefer Lew
a gen. fid die Empfindung twi-
der der Hilflos erfchredte
Menld fy morbderifhe Walten der
pon ihm gefdaffenen, aber nidt
beherrſchten Berlehrswelt be
tradtet.
Forſcht man nun nad ben Lirfaden
der Kalamität, fo ergibt fid ohne wei⸗
teres, Daf der Grund nit in irgend»
‘pelden abfteflbaren Zufälligfeiten,
fondern in dem planlofen Bauplan der
Großſtadt felbft zu fuden ift.
eine einzige Oroßſtadt, jedenfalls feine
‚unferer deutfchen, ift fo gebaut, wie ihre
Raum
40 Deutides DBollstum
Sunttion e8 erheifht Hätte. RNurafri-
ftige Rentabtlitatsridfidt Hat diefe
Stadtteile ungegliedert und geiftlos an⸗
einander gereiht. Kein weitſchauender
Plan bat in den Zeiten des rafden
Wachstums Arbeits- und Wohnquar⸗
tiere finnboll geordnet und ausrei«
chende Verkehrswege gefdaffen. Dabei
Hat e8 bor dreißig und mehr Jahren,
alfo in einer Gpode, in der grund“
legende Aenderungen nod möglih wae
ren, nidt an einzelnen kritifhen Stim⸗
men gefehlt, die auf die unabmendba-
ren Tataftrophalen Folgen diefer Oe
en og hinweiſen. Aber bdiefe
Sti — haben keinen Widerhall ge⸗
Gs iſt fein En pa erg was fid bier bare
ftellt, fo wenig ift ber Menfd als Oat⸗
tungswefen Imflande, die Folgen def»
fen gu überfehen, was er bei vollem
Berftande und unter dem Gefidtspuntt
rationeller Zweckmäßigkeiten felbft ms
Werf gefebt Hat. Die erften Lprifer,
Die die Grofftadt als Objett der Did”
tung entdedten und fid dabei aufer-
ordentlih modern vorkamen, beſchrie⸗
ben diefe Städte wie felbftandige dämo⸗
nifhe Wefen, Hie, eigenen Wefegen
untertan, ihren Schöpfer graufam
unterjodten. Aber biefe fortgefdrittes
nen Jntelleftuellen offenbarten damit
Diefelbe menfidlide Hilflofigfeit einem
(bod nur fdeinbar) erftmaligem Phä-
nomen gegenüber, wie fie die Seftalter
Diefer Städte in den entideidenden
Spoden ihrer rapiden Ausdehnung be»
wiefen haben. Wan mag fid bier an
das Hamburger Deifpiel erinnern, two
ftaatsredtlide Theorien, die für die»
fen Segenftand durdaus ungemäß find,
dazu zwangen, die Arbeiter der großen
Werften in weit entfernten Siedlungen
unterzubringen, da das in der Näbe
ber Werften bereitliegende Sieblungs-
land preußifhes und nidt hamburgi⸗
{hes Sebiet ift. Man mag fid an die
Lage der Berliner Bahnhöfe erinnern,
Die in ihrer Serfplitterung nod teil-
weife aus ber Seit der verfdiedenen
privaten Eifenbahnunternehmungen
ftammen, die in ihrer heutigen Lage
nidt nur ımtereinander den Berfebr
erfhweren, fondern aud mit ihren
©leisanlagen in der Segend des Pots-
damer und Anhalter Bahnhofes als
ein faft unüberfteiglider Wal in die
Stadt Hineinragen und ch den
Gerfehr auf dem allau engen Raume
des Potsdamer Bahnhofes zulammen-
617
preffen. Diele Zeblleiftungen haben
nun mit den gefdidtliden Fehlleiſtun⸗
gen das gemeinfam, daß fie in ihrem
pollen Umfange nidt wieder gut zu
maden find, wenn einmal der entider-
bende Augenblid verpaßt if. Gin
peer eee Umbau der Srofftadte,
er Durdaus denkbar ift, ift un»
ausfübrbar, weil die hierfür be»
nötigten Mittel bei weitem das über-
fteigen, was bei der geringen Span»
nung zwiſchen möglider GErzeugung
und notwendigem Berbraud zur freien
Berfügung fteht. Man weift in biefem
Zulammenhang gern auf die ungebeu-
ren Mittel Hin, Bie die Völker im
Kriegsfalle aufzubringen vermögen.
Aber diefe Mittel find im normalen
Dirtfhaftsperlauf nidt freizumaden.
Nur der ungeheure, gegenüber der
Wirtſchaft ridfidtslofe Drud eines
Sdidjals, das alle anderen Lebens-
intereffen außer Kurs febt, permag die»
fe8 Arbeitsgut aus einem Volke her⸗
ausgupreffen. Aber gegenüber einer
nur jchwierigen, ja, felt als unerträg-
{id empfundenen Lage, verhält fid
menſchliche Natur fo, daß fie im beften
Salle an einzelnen Bunlten durch kurz⸗
friftige und gumeift [don bei ihrem Bee
ginn wieder überholte Notlöfungen fid
Luft gu maden fudt, während bie
Kraft und Sinfidt zu wirklich durch⸗
greifenden Plänen nidt aufgebradt
wird. Man überſchätzt, geblendet bon
bem tednifmen Bermögen der Menfd-
pete ihre Kräfte in einem erHebliden
aße.
Der Menſch in einfachen und über-
fidtliden Berbältniffen von emer ftau-
nenswerten LUmfidt, Kühnheit und An»
palfungsfähigleit, verfagt regelmäßig
por ganz beftimmten Aufgaben, zu de»
ren Bewältigung er die notwendigen
und geeigneten Kräfte nicht in fid bore
findet. Zu diefen zen gehört die
OrofHftadt und ihr Berfehr. Der Menſch
ift wie jedes lebendige Wefen mohl
ausgerüftet für die Aufgaben, bie ihm
feine urfpriinglide, ja felbft eine ent-
widelte Umwelt ftellt. Aber die Enge
des Lebens{pielraumes, Die ungeheure
und nidt mehr gefunde, fondern wu⸗
hernde Bermebrung, die der Guropder
im lebten Sahrhundert erfahren Hat,
bat ihn in eine Lage gebradt, bie fer
nem inneren Bauplan nidt mehr ent
fpridt. Gr ift in feiner Gntwidlung
über das Mah Hinausgegangen, Has
ihm fein Teil an Lebensfreude und Le»
618
bensficherheit gewährt hätte. Go fin"
ibn diefe aufgegwungene Form
Lebensfampfes nun unzulänglid vor⸗
bereitet une ſchlecht ausgerüftet und Die
pielgepriefene Harte und fcharfe az
ligenz des ®ropftädters erweift fid als
po ai für die Löfung ber Auf-
n, die er felbft optimiftifd über-
nommen bat.
Diefe allgemeine Unzulänglichkeit
äußert fid in den individueli[en Fehl⸗
leiftungen, Bie fid ebenfo in der Ane
lage der Städte, wie in ben Berfuden,
nadtragli@ einige allgu fchreiende
Mipftande zu befeitigen, darftellen.
Durd eine erft por furgem afphaltierte
Wobhnftrafe einer Oroßſtadt foll eine
Straßenbahn gelegt werden. Der
Aſphalt wird mit einer febr geiftreichen
Mafdhine aufgefdnitten. Nachdem bie
Arbeit vollendet ift, beginnt diefe zum
Grftaunen der Anwohner bon neuem.
Sin voriibergehender Herr befragt den
DBauführer nad ber Urfade und ere
fährt zu feinem Grftaunen, daß Die
Traffe um 40 Zentimeter zu fdmal bee
rechnet fei. Der Baufiibrer erklärt, daß
Diefer Gebler bereits in der Zeichnung
porgelegen babe, Die dem Bau zu-
grunde gelegt worden fei. Der Herr
gibt feiner PVBerwunderung darüber
Ausdrud, daß diefer Umftand weder
auf dem Büro nod bei ber Ausführung
bemerft worden fet, da in der Stadt
immerhin einige bundert Kilometer
Straßenbahnengleife Tiegen, deren nore
male Breiten baber fein Oeheimnis fein
fonne. Der DBauführer wendet fid) mit
dem gekränkten Stolge des Fachmannes
ab und erwidert: „Hinterher nörgeln
farm jeder.“
Die Möglichkeit eines folhen Verſa⸗
gens und die durchaus typiſche Hal
tung des Gadmannes illuftriert auf
Das Deutlihfte die allgemeine Unzu⸗
Länglichkeit, Die hier am Werfe ift und
feinesinegs zufälliger Herkunft ift. Die
fheinbar durh ihre Betonbauten und
Stahlkonftruftion auf ewig veranferte
Sivilifation ift eben dadurd, daß dieſe
den menſchlichen Bauplänen keineswegs
pöllig gemäß ift, nicht ficherer gegen
den Untergang geihüst, durd feinen
ftärferen Schußwall gegen die Dro-
bende Gernidtung gefidert, als e8 die
Lebensform primitiver Menfden war,
Die zur GSrbaltung ihres Lebens über
nit piel mehr als einen Feuerftein
und eimen Gibenbogen verfügten.
®erbard Öünther.
Gipdoteduil und Spraderwerd.
G* tft zweifelsohne ein eigener Reig
mit Diefer neuen Disziplin, Die zwei
fo verfhiedene Phänomene wie bie
menſchliche Pſyche, ein [ebendes orga-
niſches Stinas, und bie Idee der Tech⸗
nif, Die fid anfdeinend nur auf Stare
res, Medanifdmes beziehen fann, an-
einanderbringt und in praltif® aus
wertbare Beziehung fest. Wan redet
nun zwar aud etwa bon einer ,,Sednif
des Reitens“ oder dergleiden. Hier ift
aber bas Wort „Technik“ im über-
tragenen Sinne gebraudt, ber mef-
fende, regiftrierende Apparat bat nid
unmittelbar mit der lebendigen Zunt«-
tion zu tun. Das ift aber bei der
Pſhchotechnik ber Gall, und darum ift
eS bon Intereffe, die Refultate ihrer
Bemühungen in einem ®ebiet zu ber
leudten, das ein ganz ausgefproden
piyhologifhes ift, namlid bas bes
Spraderwerbs. Zwar ift nun bon borne
berein feftzubalten, daß die Idee ber
Sednif nur infofern auf Piydologi-
ides angewandt werden fann, als die»
fe8 gewtifermafien die Medanif des
Geifteslebens gum Gegenftande bat.
Denn die Seele an fid ift allemal
etwas völlig Unmedanifes und Un⸗
meBbares, und dies ift ja aud der
Grund, weshalb eine padagogifde
Auswertung der an fic einwandfreien
pipdotednifdhen Begabungsprüfungen
nur eintreten fann, wenn man fid bars
über Mar ift, daß Srgiechung und Sha-
ralterbildung etwas anderes ift als
Intelligenzzüdtung, und daß nur bas
äweite bon der Pſychotechnik ber eine
Sörderung erhalten fann. Go fehr alfo
Die Pſychotechnik — wie aud ihr theo⸗
retifdhes Pendant, die pſychologiſche
Wiffenfdhaft der Aniverſitäten — fi
an die Mechanik innerhalb der menſch⸗
liden Pſyche, namlid die gefegmäßigen
Sunttionen des menfdhliden Bewuft-
feinsapparates Halt, fo barf man bod
nidt Die Bedeutung des gedantliden
Schrittes verfennen, der darin liegt,
daß man bas menfdlide Bewuftfein
und feine verfhlungenen und verborge-
nen Sunltionen einer ezaften Analyfe
untergog und Die gewonnenen Reful-
tate tednifd dahin ausmertete, daß
das einzelne Individuum in feinen be»
mußten Möglichkeiten und feiner ge»
famten eiftungsfabigfeit eine Steige»
rung erfuhr. &3 geht Hier um Dinge,
Die etwa dem Orientalen ganglid une
faplid find. Das „Uhomme madine“
40°
dat ja erft in unferen Tagen feine
eigentlide Bedeutung erlangt und die
Biodotednit ik gemilfermaßen eine
Örenzmarlierung: „bis hierher und
nidt weiter!" Aber dies bereits ere
reidte „bier“ ift ein erftaunlider
Bunlt, der Naddenfen erweden muß.
Das „Uhomme madine* wird meift in
abfälligem Sinne gebraudt, und es ift
fein Sweifel, daß etwa die tednif
Begabungsauslefe einen Höhepunkt in
mafdineller Berfflavung bon Men-
fchenmaterial bedeuten fann. Die nega»
tive Bewertung ift aber feine notwen-
Dige, und gewille Dinge tragen in fid
felbft ihr Gegengift. Denn ebenfo wie
Der meffende Apparat das Individuum
in wirtihaftlider Beziehung unerbört
dem Willen etwa Hes Arbeitgebers
ausliefert, eröffnet er gleichzeitig zwei⸗
felsohne infofern Slüdsmöglichkeiten,
alg er bie richtige Berwendung bore
Dandener Begabungen ermdglidt und
Damit dem Menſchen zu einer perfine
liden Greiheit der Selbftbeftimmung
verhilft, die ibm, dem Srrtumbefange-
nen und Hemmungsverftridten, fo oft
verfagt ift. Das Problem des Sprach⸗
erwerbs ift nun in Diefem Sinne ein
durchaus pofitives Kapitel ber Pſyhcho⸗
tednif, und zwar nicht nur in der Gre
fhließung neuer Möglichkeiten, fondern
in einer ausgefprodenen Piychologi-
fhen und unmedanifden Wirkung.
Die Srage bes rationellen Sprad-
erwerbs ift ja ein biel diskutiertes Pro-
blem; und, feit wir wirtfchaftlide und
pielleiht aud politifd immer ftarfer
einem internationalen Guropa ent»
gegengeben, ift die Frage nod um
einiges dringender geworden. Denn
Spraden find agunddft einmal Bere
fehrsmittel, und als folde geht ihre
Bedeutung Surdaus mit der ftändig
gunebmenden Der reintechnifhen Bers
fehrsmitie: mit. Im Mittelpuntt der
Stage Des Spraderwerbs ftand nun
pon jeher bas Problem der Sramma-
til. Und zwar aus zwei ®ründen. Gin-
mal ift ja ohne Zweifel die Orammatik
bas eigentlide Knochengerüſt einer
Sprade, ihr feftgelegtes Geſetzbuch,
ohne das fie in aufammenhanglofe Be
ftandteile auseinanderfallen würde.
Und ohne Beherridung diefes Gefeg-
budes einer Sprade, diefer Anatomie
ihres Baues, fchien bisher eine me»
nn re En fremden
Sprade unmöglid. Hinzu fommt nun
aber nod ein biftorifhes Clement,
619
nämlich die wiffenidaftlide Tradition
des Mittelalters, die einen fo vor⸗
nehmlichen Alzent auf den Wert Her
©®ranmatit legt. Zwifchen beiden Wert-
alzenten ift nun fcharf zu fdeiden; der
eine entipringt rational-tednifden Gre
wägungen, wogegen Der andere mehr
philofophifber Natur ift. Fragt man
Heute einen Humaniften ftrenger Schule,
warum er der Orammatif im Unter
ridt der alten Sprachen eine fo große
Rolle zumeift, fo wird er fid im
gemeinen grundfählich über die erziehe⸗
riſche Bedeutung vor allem des Latein
auslaffen, das, grammatiſch genau fo
ftraff gebaut wie das Corpus Juris,
in berporragendem Maße geeignet
wäre, bas abftralte Togifhe Denken zu
ſchulen. Wie man fieht, handelt es fid
hier tatfadlid um pbilofophifde Argu-
mente, die nidts mit der Frage einer
möglihft rationellen Meifterung eines
» Berfehrsmittels*, wie e8 die moder-
nen Sprachen find, gu tun hat. Und im
Mittelalter war in der Tat die Bram.
matit neben der Logif eine philofophi-
fhe Kardinaldisziplin, die in den Geift
der Bhilofophie, und das war in diefem
ariftotelifh gefärbten Zeitalter Der
Seift des abftraften Denfens, einführen
follte. G8 ift nun zwar gut, fid gegen
wärtig zu halten, daß Spraden immer
einen dämoniſchen Hintergrund haben,
daB man fie niemals als Verkehrs⸗
mittel in Dem Sinne bezeichnen darf,
Daß fie rein medanifhe Sebilde feien,
vielmehr bezieht fid Das von uns ge
meinte techniſche Moment lebten Endes
auf ihren Oebrauch und nicht auf ihren
Bau, und e8 foll aud nichts über die
metaphyſiſche Bedeutung etwa ber las
teinifhen Srammatif gefagt fein. Nun
find außerdem die modernen Spraden,
Die im bezeichneten Sinne als Bere
fehrsmittel in Grage fommen, gram-
matikaliſch bedeutend weniger ftraff
gebaut und der Ruf nad Abbau ber
grammatifalifchen Ueberbetonung bat
im Lager der Neuphilologen Tebhaften
Widerhall erwedt. Immerhin aber
blieb die erfte der beiden angeführten
Wertſchätzungen der Grammatif, bie
tir die rationell-tedmifde nannten, bee
ftehen, und e3 ift nun fehr intereffant
gu feben, wie ausgerednet die Pſycho⸗
tednif neuerdings einen anfdei
gang untednijden Weg unter Abbau
der abftraft mitgeteilten Orammatik
weift. Und zwar lehrt fie erftmalig
exaft unterjheiden zwiſchen „Sprad-
620
anatomte* und „Sprachphyſiologie“.
Die Srammatif in ihren abftraft nie-
Dergelegten Gormen und Regeln gehört
gum anatomi{(d-ftarren, medanifden
Aufbau einer Gprade und bat nichts
mit ihrem lebendigen Wefen, ihrer
organifhen Sunttion zu tun. Auf
Slebermittelung diefes lebten muß ed
aber alle rationelle Sprachmethodik ab»
fehen, und diefe funktionelle oder pſy⸗
hologiihe Seite einer Sprache erweiſt
fid) der pſhchologiſchen Forfdung im⸗
mer mehr als etwas in fi Sefdloffe-
nes und ebenfalls ftreng Oeſetzmäßi⸗
ges, wenn aud organiſch Sefeg-
mäßiges. Und dementſprechend ift Die
Pſychotechnik bemüht, an die Stelle des
mechaniſchen Spradftudmms den orga-
nijden Spraderwerb auf tedhnifder
©Orundlage gu feßen. Der Unterſchied
zwiſchen mechaniſchem und organifdem
Spraderwerb ift an fid nidts Neues.
Man weiß, dab das Kind organifd in
die Mutterfprade hineinwächſt, ohne
fie bewußt zu lernen, und daß es die
Regeln der Srammatif unbewußt rich⸗
tig anwendet, ehe e8 in der Schule
etwas bon ihrer Grifteng erfährt. Man
weiß aud, daß der fdnellfte Sprach⸗
erwerb das Untertauchen im Auslande
tft, too fid) derfelbe Prozeß wie beim
Kinde beim Grwadfenen wiederholt.
Sir den Sdulunterridt und für das
Selbftftudium hielt man fich aber bis-
ber ausgefproden an die medanifde,
rammatilaliih-volabuläre Yebermitt-
ung, weil man die Borbedingung für
einen organifhen Spraderwerb in dem
Borhandenfein etwa ausländiſcher Ere
gieher oder in einem Aufenthalt im
fremden Land felbft, alfo im fremd»
{pradliden Milieu, fah. Der wirklid
neue Griff der Piychotechnif ift nun der,
Diefe Borbedingungen als unwefente
{id erfannt und einen foftematifd@en
Grſatz gefunden zu Haben, bei dem die
organiide Linie in abftrafter Gorm
feftgebalten wird. Denn jener bisher
tätjelhafte Prozeß organiihen Hinein-
wadfens in eine Gprade, jenes
Schwimmenlernen durch Auslieferung
an das Glement, ift pon der modernen
Pſychologie methodifdh unterfudt und
in feiner organiſchen Oeſetzmäßigkeit
freigelegt worden. Die Spradmethodif
Robert Mertnerg, die fid als einzige
auf diefem wirflid neuen und ftreng
wilfenihaftliden Zundament aufbaut,
führt den bezeichnenden Untertitel:
„Pſychotechniſcher Spraderwerb auf
medanifd fuggeftiver Orundlage“. Da-
mit ift bereits das neue tattifde Prin⸗
zip umriffen, dur das de facto Die
Mibfeligfeit des Orammatillernens
und Golabelempragens nebft dem Zeit⸗
perluft des Tezifalifden Nadidlagens
ausgefdaltet wird. &8 ift Hier natiire
lid nicht der Ort, Sinzelheiten zu brin«
gen und die zugrunde liegenden wiffen-
ſchaftlichen und erperimentell pfycholo⸗
aiden oa DelDungen zu eingehen»
der Darftellung zu bringen. Wefent-
Ich ift nur, daß eine tednifhe Aus-
nugung der neu erfdloffenen Mechanik
des Sedadiniffes, der LUnterfudungen
der Oeſetzmäßigkeit ber Affociationen
und threr Hemmungen es ermdglidt,
den Wortbeftand einer fremden Sprade
fuggeftiv zu übermitteln, ohne daß der
Detreffende das Gefühl des Lernens
bat; ja, jede Willensperframpfung ift
fogar innerhalb Diefes Syſtems ein
Nadhtei und hindert das organifde
Wadstum des fremden Spradgutes.
Gerner wird fonfequent die eigene
Mutterfprade ausgefdaltet, da fid
Derausgeftellt hat, daß man zwei Spra-
en mit verfdiedener organiſcher Gee
feßlichleit nicht aufeinander aufpfropfen
fann, daß bierdurh nur affociative
Hemmungen entftehen, weshalb jegliche
Sleberfeßungsübungen tn Gortiall kom⸗
men; und der Grfolg ift der, daß das
fremde Spradgut in Form bon Zeir
tungsausidnitten bon Anfang an das
tragende Element ift und fid nidt nur
in feinem Bofabelmaterial, fondern in
feiner lebendigen Gunftion, feiner Phy⸗
ftologie, ebenfalls unbemußt — fugger
ftto mitteilt, fo daß die Mitteilung der
Srammatif nidt mehr am Anfang ftebt
alg ein mühlelig zu bezwingendes
Stas, fondern am Schluß, naddem
thre Sormen und Regeln bereits halb»
bewußt gefühlsmäßig übernommen
find, alfo genau entipredendD bem Ent-
widlungsgang des Kindes.
Diefe Hinweife mögen genügen.
Denn das uns befdaftigende — ift
ja weniger der Spraderwerb als das
Problem der Pfndotedmt und ihrer
mdgliden Reichweite. Und da ergibt
fid nun, daß man fid hüten muß, die
Piydhotednit aus zu engem Gefidts-
winkel zu betradten und fie vor allem
zu „techniſch‘ im üblichen Sinne zu
faffen. Ihr fteht nicht nur die technifche
Srihließung gewiffermaßen medani-
Ider Berridtungen und Handreidun-
gen offen, wie es etwa bei tedmifden
Dierkmeiftern der Fall ift, fondern
ebenfalls die ausgefproden pindologi-
fHen Progeffe, von denen der Auf
nabmeprozeh einer fremden Sprade
nur ein Deifpiel ift. Und diefes Feld
ift nod gänzlih unerfdloffen. Wir
wiffen nur, Daß das menfdlide Bee
wußtfein in feinen vielfaden tagliden
Berridtungen einem gewaltigen un«
produltiven Leerlauf, bedingt bdurd
manderlei Hemmungen, unterliegt.
Mind ef ift fein Zweifel, daß die tech⸗
nifche Idee, in Geftalt der Plydotednif
einmal folgerichtig in diefer produf-
tinen Linie angefest, nod Möglichkeiten
geitigen fann, die ebenfo unerſchloſſen
"find wie bie der weiteren techniſchen
Stihließung der Naturfrafte. Die Idee
= Pindhotednif mündet alfo in die
Der Technik ein. Und da es ſich hier
um eine Entwicklung handelt, die gar
nicht rüdgängig gemacht werden fann,
wäre es fruchtbar, die Idee der Sednit
felbft ein anbderes Mal gum ®egen-
ftand einer befonderen — zu
machen. Werner Acheli
Maſchine und Sprache.
per bat unfer Zeitalter bas tedni-
Ihe genannt. Wabhrideinlid mit
Redt. Denn die Ginfliffe der Technik
auf unfere Kultur find gewaltig. Ich
glaube, gewaltiger, al8 mir es jebt
abnen. Jetzt wo wir zu fehr mittendrin
ftehen, als daß wir einen freien Ueber⸗
blid gewinnen lönnten. Der wird erft
fpäter eintreten.
Damm erft wird fi) ergeben, in wel⸗
dem Umfang unfer Leben von Was
[hineneinflüffen durhdrungen, meda-
nifiert wurde. ®anze Sebiete werden
fid) auftun, wo die Adern der Tednif
dann erft deutlich fihtbar werden.
Gin folhes Sebiet wird Die Sprade
fein.
Was id im Folgenden dazu bes
merfe, will nur eine Anregung fein.
Die erfte Frage ift: Bereidern die
Wafdinen unfere Sprade, oder ver⸗
armt fie an ihnen?
Gelbftverftandlid Haben wir die Ma-
fdinen erft mit der Sprade unferes
täglichen Lebens füttern mülfen, bevor
fie ung ihren Wortfhab gaben.
And was von ihnen jest zu ung
fommt, find, ebenfo natiirlid, nur
Dörter unfrer eignen Sprade. Wire
ter aber, die auf ihrem Oange durchs
Mafdinenreid feltfam umgeformt, er-
621
weitert wurden, und mit einem neuen
Ginn behangen find und einem neuen
Reben, dem Leben der Wafdinen.
Die Mafdine tut etwas. Dabon
ausgehend, fdeint bor allem an ber
Oberflade zu liegen: die Entnahme
pon Wörtern aus der Mafdinenwelt
bewegt aud die Sprade.
Als fid die erfte Mafdine bewegte,
nahm fie aus unfrem Wortfha „Die
Mafdine lauft*. Darauf aber zer»
legte die Mafdine unfer „Laufen“ in
eine Reihe neuer Untertätigfeiten und
fagte gum Beifpiel „Die Maſchine läuft
mit Bolldampf“ oder „Iene Ma»
{Mine läuft leer“. Und wir über-
trugen’s jet auf Menſchen: „Sr läuft‘
feinem Ziel mit Bolldampf entgegen“.
Oder wir hören einem leiernden Red»
ner zu und fagen: „Seine Mafdine
läuft leer“,
Die Mafdinen Haben unfre Wörter
an fi) gezogen und fie in ihren Reffeln
perheiat. Dann liefen die Mafdinen
und verarbeiteten altes Tprachlidhes
Material in neue verdaulide Produfte.
Hier ein paar Beifpiele, die fid, wie
alle hier gegebenen, Hundertfad ver⸗
ren laffen: Die Reibung zwi-
{den Deutidland und England nimmt
ab. — Die Reibungsfladen auf
Dem Stillen Ozean haben fid pergrö-
Bert. — Die Räder des Staatdorga-
a Brae ineinander —
Bismard fagte, ber Draht zwiſchen
Rußland und Deutichland dürfe nicht
abreißen. — effing behauptete, fein
Dichterifches Schaffen fei in Bump»
wmerf bon Röhren, bas nur unter
Drud Waffer gäbe.
Semand bat bie Mafdine feiner Be-
triebfamfeit Hei B laufen laffen.
— Wir haben den Kontakt mit je
nem Meniden ausgefdaltet. —
An den Hebeln der Beit. — Redes und
Preßfreiheit find Siherheits-
pentile für überfhüffige Kräfte. —
Unſere Konjunktur fteht im Seiden
überbitter Keffel.
Nod ein anderes geht aus dieſen
Beifpielen hervor: Die Welt der Mae
fhinen ift ſtets fonfret, nie abftraft.
Alfo müffen aud die ihr entnommenen
Ausdride finnfallig, anfdaulid fein.
G3 ift nun a daß wir faft
alle der Mafdinenwelt entnommenen
Ausdrüde unferer abftraften Welt auf-
pfropfen, wie die obigen Beifpiele dar-
tun.
Warum dies gefhieht? Wahrſchein⸗
622
lid, weil alle abftraften Dinge e3 bon
Seit zu Seit bitter nötig Haber, Die
eintretende Blutleere mit Blut der
Sinnenwelt auszufüllen und bie innere
Abgegriffenheit durd die funfengeben-
Den Reibungsfladen der Ginne aw ere
eb
en.
Man made fid einmal die „in bie
Augen fpringende* Sinnfälligfeit pon
Ausdrüden wie diefen flar: Eine ger
feilte Rede. — Gin gehobelter
Menſch. — Sr trägt permalate Gee
dDanfen bor. — Swifden den entgegen-
gefeßten Polen feiner Leidenfdaften
verſprüht der efeftrifde Flame
menbogen feines Lebens. — Gr
warf den Hebel feiner Oedanken rid-
warts. — Gr arbeitete, daß ibm ber
Kopf wie ein Schornftein rau@te.
— Die Srholung ift das Shmieröl
aller geiftigen Mafchinerie. — Boh⸗
rende Sedanfen.
Die Auffüllung der Sprade mit Ma-
ſchinenworten Hat guerft in S
Kauaelunden Sehr natürlich, ift bod
Gngland bas frühefte Mafdinenland
ewefen. Und war e8 dod bis in die
te Zeit binein das erfte. Neuer⸗
nu ſcheint e8, als übernähme Diefe
Rolle Deutidland. Und dah dies der
Gall ift, [aft fid ebenfo gut an Den
Ziffern unferer rafd auffteigenden ma»
fdinellen Produktion ablefen, als an
Der parallel damit madfenden Durde-
fegung unferer Sprade mit Wörtern
pon Wafdinengnaden.
Ich fagte, dieſe Durdfepung made
unfere Sprache gegenftandlider. Nicht
felten wirft der damit Hand in Hand
lötzlich langſam und feierlich weiter-
pridt: Sr Hat die andre Aeber⸗
febung eingefdaltet.
Saffen wir gufammen: Solange unfre
Sprade fid mit der fortfchreitenden
Technik techniſch durchſetzt, fdeint die
Antwort auf unfre Gingangsfrage nicht
mehr zweifelhaft zu fein: ,Bereidern
Die Wafdinen unfre Sprade oder ber-
armt fie an ihnen?“ Die Dereicherung
fHeint flar zutage au liegen.
Aber ba drängt fid eine zweite
Stage auf: Ob e8 nidt bie letzte Bee
reiderung fein wird? Ob fid nidt
Danad gerade infolge einer zweiſchnei⸗
Digen Bereicherung die Srftarrung ein»
ftellen wird?
Sm legten Grunde find die Mafdi-
nen troß aller ihrer ausgetüftelten Be⸗
weglidfeit mir ftarre Sefdipfe. Oe⸗
fhöpfe, Die zwangsläufig beftimmten
engen ®efegen folgen miffen und gers
eden würden, täten fie es nicht.
G3 fommt mir vor, al8 ob die aus
Der Waſchinenwelt gefhöpften Sprad-
beftände mit der Seit biefe Sigenfhaft
ihrer Oeburtsumwelt teilen müßten.
Gine Gigenfdaft, die für Mafdinen
fider gut ift, für die Sprade aber
höchſt verhängnispoll.
Dazu fommt weiter: Das oberfte
Mafdinengefes ift Zweckmäßigkeit.
Nad einer gewiffen abichließenden
Entwicklung — fie [Heint nidt mehr
gar zu fern gu liegen — werden bie
afdinen auf einem Mazimum ber
Swedmafigfeit perharren als dem zu-
legt erreihbaren Sinn und Ber aus-
oe Sriebfraft der Wafdinen-
welt.
Gs ift Mar, daß in jenem Zeitpunkt
Die Speifung unfrer Sprache aus der
Majdinenwelt ihr Ende gefunden
haben wird. Unſere Sprade wird dann
pollfommen verzwedmäßigt, vollkom⸗
men medanifiert fein. Der Grftarrung
der Majfdinenwelt wird eine Srftars
fone Der von ihr genährten Sprade
olgen.
Schon jest fann man gelegentlid be»
obadten, wie die Ausdrudsmeife der
Ingenieure pon ihren Mafdinen bee
denklich abgeſchliffen wird und nr ule
einer Art Berfalfung guftrebt.
man bören, wie in tedmnifden un
eine Menge Ausdrüde bis zur Srmü-
dung wiederholt werden. Wie ihre
Redeweife immer erft wieder mit dem
Borwärtsrüden ihrer Mafdinen auf
gefriſcht wird.
Und darum ift die Befürdtung nidt
pon der Hand zu weifen, daß mit dem
AbidluB der magliden Mafdhinenent-
widlung eine folde Sprade auf dem
„toten Punt anfommen und verknö⸗
Kern muß. Bis gum LMeberdruffe were
den fid die feftgelegten Redensarten
wiederholen und es vielleicht verlernt
Daben, aus dem unmafdinellen Srd-
reid neues Wahstum zu [höpfen, weil
die Wurzeln, die in jenes Srdreid füh-
— tm Waſchinenzeitalter abgeftorben
And aud dieſer Sinfluß der Inge»
nieurfprade ift fon deutlich fidtbar:
Die Ausdrudsweife wird knapp und
Inapper.
Der Telegrammftil ift fhon da. Sr
ift eine Derarmung, fo gewiß unfere
Anfidtstarte don Heute mit den “ero
Sriifen* eine Berarmung
ben breit untermauerten I ae uns
ferer Oroßeltern ift.
Srfreulih ift bas nidt. Die reine
Medhanifierung und bie reine Ratio»
nalifierung ift im innerften Wefen aller
Sprade fremd. Die Sprade ift etwas
Lebendiges. Medanifierung und Ra»
tionalifierung aber find dem Leben
feind. Die lebendige Sprade will nicht
nur zweckmäßig fein, fie will Sprünge
maden wie ein en. Sie will dann
und wann aud) unrationell fein dürfen,
wie e8 Kinder find. Und ihre tiefften
Durgeln werden von untergründigen
Ciofien welt bee die mit der Ober-
der Mafdinen nichts ger
dag
Gie — an reiner Rationalifie-
rung und Wedanifi fterben, wie
der Menfd an aqua beftillata fterben
mü
e.
Fritz Mülſer⸗-Partenkirchen.
Amerita⸗Mũde.
— ————— iſt Amerika in der Mitte
des vorigen Sabrhunderts entdedt
worden, und zwar von dem dfterreidi-
ſchen Schrift eller dinand Kürn⸗
berger in ſeinem e „Der Amerika⸗
Müde“, Kürnberger hat zwar nie Ames
rifa betreten, a er Hat bod eine
Heute mod bedeutfame Kritif des june
gen Staates gegeben. Das Bud ift
efenswert; e8 führt uns die Höhe Hes
Sinterhaltungsfchrifttums j jener geit be»
amend vor Augen und läßt uns
manden tlturgel ih —
Did in bie Entſtehung des h
Amerika tun. Kürnberger wandte ich
gegen Die Zeitftimmung, welche die das
maligen politiihen und fittliden Sdeale
bes Liberalismus in Amerifa verwirk-
fidt glaubte. Beſonders aus dem gers
flifteten Deutichland blidte die bürger-
Tide Intelligenz, ohne Sinn für bie
eben beginnende Dismardide Spode
mit (öknärmerifher Sehnſucht auf Das
Land über dem Ozean; Die neuen
Ideen, welde fie bewegten und Die in
Guropa mühfelig mit den biftorifchen
Seftaltungen rangen, fdienen Dort
freien Raum zur Entfaltung gu haben.
Man muß nie den Scharjblid des.
Wiener Iournaliften bewundern, ber,
felbft aus ben gleichen Wertungen
Tebend, fid dem Sughd feiner Zeit
widerfepte, nur em fultivierten
623
Lebensgefihl feiner Heimat Heraus den
folonialen Gharatter des damali-
gen Amerifa erfannte und jene See
FiBL feelifher Diftang empfand, bas
heute vor allem dem Engländer gegen-
m * Amerifanertum eigentüm-
i
Auch heute blidt unfere Intelligenz,
foweit ihr Dummftolz fie nicht über-
haupt auf die Beichäftigung mit Bere
Imer oder Parifer Winkelereigniſſen
uud Boulepardgeftalten einengt, mit
erregter Schwärmerei auf Amerifa.
Wieder find es jene konſtruktiven Oei⸗
fter, denen es peinlid ift, in By
ae etpordenen Gormen zu leben und
junge Kolonialland um eg =
rablinige Gntwidlung beneiden. Sue
dem find fie bon jener hyſteriſchen
Selbftperadtung befeelt, Die ihre pſy⸗
chologiſche Wurzel in dem Bewußtfein
der eigenen Gragwiirdigfeit bat; 1918
baben unfere @eiftigen ja [don mit
Diefer neurotifden Gabe geglangt. So
verlieben fie fid) Heute in die Ungei⸗
ftigfeit Amerikas, in die brutale Kraft
und Wafferhaftigfeit Hes amerifani-
{hen Sefdaftslebens’; daß dort thr
{rifles Literaturgef[drei, auf Das die
gebildete Welt von Berlin Hordt, pom
Lärme der gefhäftigen Weltftadt vere
{Hlungen wird, imponiert ihren nicht
wenig. Sie fehen die Gormen der Zivi⸗
lifation, die fie tm eigenen Lande über
»tulturellem*® Oeſchwätz zu beobadten
perfdumen, dort zum erften Male und
mit der ganzen Kritiflofigteit, welche
bem alternden Liberalismus jene abe
fonderlidhe Mimik fpäter Badfifhe ver⸗
Tetht, Deginmen fie alsbald, die mit
journaliftiihdem Sprachſchatze aufgegot-
teten Sivilifationsformen Amerifas an-
gupreijen.
Dem Liberalismus Hat eS ftets an
fritifher Pſychologie gemangelt, — fie
würde ja die Orundidwaden feiner
Pofition aufdeden, — und fo erfahren
wir pon den Hyonmifden Korreſponden⸗
ten, Die Amerifa befudten, nur ſchema⸗
fifhe Darftellungen, twelde uns ein
eigenes Urteil nicht ermöglichen. Aber
beute bedarf e8 Feines Kürnbergers
mehr, um diefer Zeitftrömung entgegen-
gutreten. Heute fpridt Amerika felbft.
Sreilid) darf man nidt, wie es die
Achtloſigkeit internationaliftifcher Lite»
raten meift tut, Titerariihe Zeugniife
eines fremden Landes gedantenlos als
objektive Darftellungen nationaler Zus
ftande hinnehmen. Vielfach ftehen ge-
624
rabe Die Schriftfteller, deren Werle wir
al8 Quellen fremden Volksſtums bee
tradten, in einem gefpannten Berhält-
ms zu ihrer Nation; darum feten fie
fid eben in fo deutlider Weile mit
Hr auseinander, daß aud wir folgen
fönnen. Diejenigen, welde ihr Bolfs-
tum am ftärlften vertreten, find
für den Fremden viel unzugänglicher
alg Diejenigen, welde darüber re»
fleftieren. Daß fie das aber tun,
zeigt meift an, daß fie es als frag-
würdig empfinden.
Aber wenn wir Diefen Vorbehalt
machen, fo fann man Heute bereits eine
Borftellung von dem Lebensgefühle bee
fommen, das in naddenfliden ameri⸗
laniſchen Menfden herrſcht. Und daran
muß uns piel Liegen, wenn wir uns
far maden, daß neben dem Kampf mit
dem Sudentum um unfere arteigene Sie
pilifation bereits die Auseinander⸗
jegung unferer Qivilifation mit ber
angelſächſiſchen im Sange ift und Daß
bie nadfte Generation in den Gormen
Der Neuzeit ebenfo mit dem amerifant-
fden Oeiſte ringen muß, wie die Seit
vom Dreifigjährigen Kriege bis zu Na»
poleons Sturz mit dem franzöſiſchen.
Bei Kurt Wolff find zwei bedeut⸗
fame amerifanifhe Biider* erfdienen,
pon Benen das eine hier nur furz ge»
ftreift werden fann, da feine aufidlupe
reihe Sigenart in anderem Zulammen-
bange betrachtet werden muß. G38 fdil-
bert’ den Weg eines Ginwanderer-
fprößlings aus dem Ohetto Neuyorks
durch Die Berbreders und Schiebermwelt
im Politif und Verwaltung. Das Bud,
Das autobiographi{d fein foll und ano»
nom erfdienen ift, ftellt mit idmieri-
gem Zynismus eine Welt der Korrup-
tion dar, die man für unglaubhaft
hielte, wenn nicht die letzten Senſa⸗
tionsprogeffe in Chikago Zufammen-
hänge zwilhen Behörden und der Vere
bereit dofumentarifdh belegt hät-
ten, Die den von Herrn Fettwanſt ge-
fdilderten mit naturtoiftenkhaftliher
Senauigfeit entfprechen. Indeſſen wird
man nicht beranlaft, feine Boritellung
bon Amerifa aus Diefem Bude zu gee
winnen; beim Lefen verliert man nie
das DBewußtfein, daß Herr Settwanft
nurfein en fieht, Das nur einen
Schimmelüberzug über ein fraftpollcs
Land darftellt, für deffen Beobadtung
* Herr GFettwanft und Sinclair Lex
wis, Babitt. In Leinen je 6,50 Wik.
ibm die gemäßen Organe fehlen. Wir
werden auf diefes Bud) guriidfommen,
wenn wir einmal jüdifhe Beugniffe zur
Pſychologie des Sudentums zuſammen⸗
ftellen, um blinden — eine
ſachliche Unterſuchung entgegenzuſetzen.
®anz anders auffeplußreih br das
Bud „Babitt“ von Sinclair Lewis,
das in Demfelben Berlage erfdienen ift.
Handelt „Herr Zettwanft“ eigentlich
pom Judentum in Amerifa, fo ſchildert
Lewis eine ganz amerilanifhe Welt,
Der wir felbft da die Sympathie nidt
verfagen können, wo fie uns fomifd
oder ärgerlich berührt. Wenn Lewis
ebenfall8 Gude fein follte, — unwahr⸗
fdeinlider, aber miglider Weife, — fo
bat er jedenfalls ein offenes Herz für
bas Amerifanertum; feine Kritik läßt
niemals Herzenswärme vermiffen und
tft völlig frei pon jenem unverſchämten
ohne, der nur dem SKritifer möglich
ift, der fic felbft außerhalb des ge-
fchilderten Volkstums fühlt und deffen
„Wir" Darum peinlid wirft.
Literariſch ift „Babitt“ fehr zugäng-
lid, wenn dem Autor aud die roman-
hafte Gorm nidt gelingt. Sie ift ihm
aber offenbar nebenfählid; mit der
Sähigfeit, den an höheren Zielen ver»
armten Alltag eines Sefhaftsmannes
PRO DD etreu gu ſchildern, bere
et fic) ein liebevoller Humor, Der
den unheroiſchen Helden aud dann nidt
verftößt, wenn er fid) gegen das welt-
anfdaulide Programm des Autors
verfündigt. Dieſes weift natürlih Ben
humanen und vorfidtigen, im Orunde
ffeptijden und relignierten Sozialis-
mus auf, der bei den angelſächſiſchen
Weiftigen eben nicht zu dem tddliden
Konflift mit dem eigenen VGolfstum
führt, der ung fo befannt ift.
Uber Lewis madt pon feiner Mere
nung fparfamen @ebraud; ihm liegt
mehr an der lebendigen Schilderung
Babitts und feines Milieus; er tft ein
echter Sraähler, deffen Gadfreude pon
der Tendeng nie in den Hintergrund
gedrängt wird. Die Ueberſetzung leidet
ein wenig unter dem mißglüdten Ver⸗
fude, die nadlaffige Sprechweife des
Städters burd deutfhe Dialekte nad
gubilden.
Was id Hier wiedergebe, fann das
— des Buches in keiner Weiſe er⸗
; gerade wer nicht Fo ierun⸗
ſondern lebendige Darftellung
tS, dt, 2 nur auf das Bud Hingewie-
fen werden.
Denn Hier tritt und Amerifa leib-
baftig entgegen; alle bie Freunde, die
id bon drüben Habe zurüdiommen
feben, haben mir beftätigt, daß man
aus diefem Bude, wenn man es
durch einige der nidt eben häufigen
Gime aus dem amerilaniihden Alltag
luftriert, eine grundlegende Kenntnis
zwar nicht Der toblematit, wohl aber
wee Rob ftoffs der amerifanifden Sivt-
liſation gewinnt.
Babitt ift ein getreuer Sohn Zeniths,
der lärmenden, gef eifrigen
Stadt, die piper ye auf ihr natür-
Tides Biel BHinfteuert: eine Million
Sinwohner aufzumeilen. Babitt larmt
fröhlich mit den andern; er betreibt das
nüglihe Geſchäft eines Häufer- und
Örundftüdmaller8 und overfteht es
trefflih, mit dem wunderbaren Syſtem
de Seinarbett Dem DBedürf-
tigen das begehrte Gut nad langem,
liftigen Kampfe zu einem erftaun-
Tiden reife guguleiten. Er ift von
feiner LUnentbehrlidfeit und Tugend
ftrablend überzeugt, Täßt fid von
femen Kindern tprannijieren und bee
figt einige ungewiſſe Borftellungen, daß
man „großzügig und liberal fein
müffe“, die er aus der Zeitung ent
nimmt und bie zur reibungslofen Bere
ftändigung mit feinen Klub- und Are
beitsgenoifen dienen.
Aber eines Sages wird DBabitt rer
bellifh und die Darftellung diefer Auf»
lebnung, welde das Bud ausmadıt, if,
ohne von fünftlerifher Schöpfu wi Pe
gu zeugen, von folder pſychologiſch
Folgerigtigfeit, Daß man erkennt, nicht
einem Literaten, fondern einem Is
fundliden Scilderer von wiffenidaft-
lider Senauigfeit und hidfter Beob-
adtungsgabe zuzuhören.
Babitt bridt aus der Bahn Des
ten Bürgers; feine Gerfude, den
Bad des Ungebörigen zu betreten, find
wnermüdlid, wenn fie aud felten gum
Srfolg, nie zur Befriedigung führen.
Im Schweiße feines Angefidts bemüht
er fid, unmoraliſch zu fein, und findet
Diefe Tätigkeit mehr aufreibend als er-
fprießlid. Er will nicht mehr die ane
erfannten Orößen feiner Welt bewun⸗
dern; er ſchließt fid an alles an, was
dort als verrufen gilt. Gr fieht wobl,
wie unbeimlid der Zerfall mit feiner
birgerliden Welt feine Grifteng bee
droht, er ift angftlid und kreuzun⸗
glidlid, aber ein tiefer Antrieb, ein
zwingendes Pflihtbewußtfein ftößt ifn
625
auf alle unbequemen Wege, auf denen
er mit feine: Sefellthaft ge Konflikt
geraten muß. Und auf feinen aufrühre-
riſchen Seitenfpriingen ftößt er im
Swielidt der Degen des bürgers
liden Lebens auf die Kehrfeite feiner
Welt; er fieht erfolgreihe Freunde aus
feiner biirgerliden Umgebung, Die
ebenfo wie er bon eimem qualvolien
leberdruffe an ihrem großzügigen und
liberalen geſchãftstũchtigen Datein gee
jagt, fid ms Oewagte, Ungiemlide
ftiirgen.
G8 bedeutet eine fraftvolle Leiftung,
dieſen Stoff, der die Lebensangft eines
aller höheren Werte beraubten Dafeins
ur Anfhauung bringt, als Humorifti-
He hen Roman gu behandeln. Und dod
bedurfte e8 diefer Gaffung; eben Der
Simftand, daß Babitt außerhalb feiner
Welt nichts findet, was ihn über
a Gerluft tröften könnte, madt
Die Darftellung fo zwingend, ſchließt
alle ideologifhen Schlihe gum happy
end aus; es muß burd redliche Refig-
nation erawungen werden. Waglid
aber ift die Humoriftifde Sau
Durd die Befonderheit der Sachlage, in
der wir den Orundzug des amerifani-
[Hen Lebens zutage treten fehen.
Babitts Trotz gegen feine bürger-
lide Welt ift die Auflehnung eines 2,0
funden Knaben, der in ungemäße Ber
Haltniffe gezwungen ift und lange mit
ihnen paltiert, ihre Formulierungen be»
jaht bat, ehe fein fraftiger und unbe»
ratener Knabenfinn in bodigem Auf-
ruhr proteftiert. Golder Art ift aud
Babitts Aufruhr. Ihm ift ebenfo
elend und bellommen zu Wute wie
einem ungen, der fid in trogige Bos-
taten verftriden muß, weil er die Welt
nidt bejaben fann, in der er leben
foll, und er ift ebenfo widerborftig und
ausdauernd wie ein folder „verlorener
Sohn“, weil ihn ein wahrhaft fatego-
rifher Imperativ heimfudt, eine Kraft,
die ihm gu mwiderftreben befiehlt, ohne
ihm den Inhalt ihres zwingenden See
feßes zu verraten.
Dabitt, Der rundlide, pfiffige Tere
tainfpefulant, ift in der Sat ein Zunge,
und zwar ein fpmpathifmer Bauern-
junge aus einer ländliden Kleinftadt.
Gr ift in das kalte Waffer der Zipili»
fation geworfen worden, Die nidt er
und fein Oeſchlecht, fondern die Harte
und entidloffene, jest aber ausfter-
bende Herrenihiht Der Vankees ge»
Ihaffen hat. Sr und viele feiner lau
626
for Sen perfuden vergeblid, mit
end zur Schau getragener —
ne ihr Ungemad gu verbergen.
Sie, Die nidt aus einer formenden ul»
tur, fondern bon einem platten Lande
ftammern, für beffen Oeſchichtsloſigkeit
wir feinen Bergleid wiffen, Halten
die Zivilifation nidt aus,
aud) fie find „Amerila-Müde* ; jene
unbegreifliden Selbftmorde erfolgrei-
der Männer in den beiten Jahren find
verzweifelte Protefte eines jungen Bol»
fe8, Das ohne — |
in etme fpäte Lebensform gedrängt
wird. Und DBabitt ehrt erichöpft, aber
widt erlöft in den Dürftigen
feiner biirgerliden Welt arid als ein
»derlorener Sohn“, der feine Wider-
ftandsfraft ausgelämpft Hat, ohne in
ih Fähigkeiten zu finden, die ihn aus
der Auflehnung zu eigener Geftaltung
Bear hätten
Sft das der Ginn diefes Buches, fo
war e8 ein mutiges Werf, es zu
fHreiben und fein Humor ift das Seis
hen einer Kraft, bie diefe Bedrohun-
en der amerifanifden Zukunft nit zu
Dan braudt. Wer pon uns würde
wagen, unfre Nöte mit folmer
Harder ohne ideologilhe GFalfdung
und ohne Derzweiflung gu Ichildern, ja
ihre Ueberwindung mit der Hergens-
fraft des Humors porwegzunehmen? ©.
Die politifde Helld- Armee.
erum, terum, terumtata fommt es
die Straße herauf, mit Hörnern und
Trompeten, Keffelpaufe und Olocken⸗
fpiel. Die Regimentsfapelle? Nein, —
dazu klingt es zu unrein und gu fenti-
mental, gu wenig fdneidig-ftaccato.
— Die Sdigengilde wahrideinlid,
fie ‚ blafen ja: Ic Rabie’ den Hirid im
wilden Gorft..
Der Sug tommt näber, wir feben Die
rot wallenden ahnen Die Wind-
jaden und Schirmmüben: &3 find de
Kommuniften. In fleinbürgerlicher
Sonntagseleganz maridieren fie jest
por ung, mit widtig-ernfter Miene die
braven Handwerler und Arbeiter, bun-
ter und — eitler die Graven und Kine
der, fauber, ordentlid, wie fid das für
preußifche KRommuniften gehört.
Was geht da por? Dies find alfo
De Umftürzler, die unfer heutiges po"
litiſches Syſtem befeitigen wollen? Und
wir waren dod nod) eben Daran ge
wöhnt, Kommunismus, Spartafismus
und politifhe8 Rowdytum für gleich»
bedeutend zu halten
Was ——— Es wird eine —
ſtarke, gründliche Revolution mit g
hervorragendem Geidid —————
mit einer Kenntnis der Mafſenpſyhe,
Die Bewunderung und Anerfennung
weden müßte, fönnten wir als unbe
teiligte Sufdauer zu bes re was gefpielt
wird. Der Kampf Proletariats um
Die Gorherridaft im Staat tft in ein
ganz neues Stadium wefensneuartiger,
genialer Methoden getreten.
Der Bortriegs-Gcyialiamus war gee
werkſchaftlich⸗ wirtſchaftliche Kampfor-
iſation, die die feſten Kadres bil⸗
te für die politifd-parlamentarifde,
Titerarifhe Partei. Der Vorkriegs⸗So⸗
Be wollte den Wirtidaftsfrieg
Malffen fiben und die Waffen da»
für belehren.
Der Kommunismus ift politifh-welt-
anfdhaulide Rampforganifation. Der
Kommunismus will die Herridaft über
den Staat erlämpfen und die Waffen
x: erziehen.
it dem Oegenſatz awifden ,, Beleh-
ren“ und „Sraieben“ ift Der Belens-
wandel der proletarifchen Bewegung
auf die fnappfte Formel gebradt.
Sin Lieblingswort des Dorfriegs-
Sozialismus ift diefes: Wiffen if
Madt, Aufflärung tut not.“
Dem Kommunismus — und einer
wichtigen Gruppe im Nadfriegs-So-
zialismus — ift bie Aufflärung wohl
aud widtig, aber fie ift Hm Frage
iten Orades; er will in erfter Linie
egeiftern, er will dem Willen ber
Maffen Härte und Ridtung
eh Lind er fand eine Zeitftimmung,
ie diefer Aufgabe günftig war, und er
fand begabte Führer mit dem vollen
Berfländnis der pädagogilden, maffen»
pindologiiden Bedingungen.
G8 war Hier Har erfannt — oder
Deutlich genug gefühlt — daß alle wirk-
fide Erziehung zu einem Ethos, zu
einer Haltung, zu Idealen nur möglid
it durd Kameradfhaft. Offizierlorpg,
Studentenderbindungen, firdlide See
meinde, Schulflaffe, gefellichaftliche
Klubs zeigen befonders flar, wie Die
— die Werturteile eines Men-
über fin und häßlich, und
böfe, anftändig und gemein bildende
Madt die Lebensgemeinihaft ift, in
der Diefe Urteilsweife erlebt und
nit — oder nidt nur gepredigt wird.
An der Jugendbewegung war dies
befonberS deutlich gu beobadten: Die
Lebensgemeinfdaft als Die Lebens-
ideale geftaltende Madt. Gene Wane
dervögel fangen und tanzten und tans
Febufen mit all dem, twas
alg ihr duferer Lebenzftil dar-
eet eigentlid) nur Die Luft, in Der
eine ftarte Sefihlsintenfitat möglich
war und eine entidiedene Willens-
haltung. Gute $ührer fonnten Hier die
Sugend zu edelftem Menſchentum füh⸗
ren, bon Berführern waren die jungen
Menfchen Teiht bei Scheinidealen zu
beruhigen oder zu radikalften Forde⸗
rungen zu verhegen.
Wenn man heute barhduptige, ber
fittelte, Meffingbled-Broiden ge»
{Hmiidte, furghofige Sungen und Beis
dDerwand-tragende Mädchen zu Lauten-
oder Mandolinenflang durch die Stra«
Ben ziehen fieht, fo wird man oft ere
fahren, daß man fommuniftifche oder
al Sugend vor fid hat. Die
on ber biirgerliden Sugendbemegung
—— i die Seelen der jungen
Menfden tief padenden Formen wer⸗
Den genutzt, um en für prole»
tariſche Ideologi
alten Militarmaridee und Bolfg- und
Goldatenlieder erhalten neue repolutio«
näre Terte und — ergreifen mit ihrem
Rhythmus und ihrer Wud, wie fie
ehedem unfere Geldgrauen belebten und
ifterten.
ag pon Grfabrungen gefammelt
wurde bon der Heildarmee, bom Mili«
tar, bon den Kirchen, pon der Jugend»
bewegung, das wird Heute bon der pro»
letariihden Bewegung benust zur Ere
giebung pon Kampfgemeinihaften für
den gewaltfamen Umfturz.
Die Wirllidfeiten der Nadfriegs-
revolution find flar erfannt: Die Are
beiterfhaft als folde eziftierte für den
damaligen Kampf nidt. Deferteure,
Wurzellofe, Arbeitsicheue, Verbrecher
waren 8, Die zur Schaffung bon An⸗
ruben beftellt wurden, wie die &la»
queure zur Sheaterpremiere, mit Denen
perfudt wurde, die Staatsgewalt zu
erobern. Die Arbeiterfchaft als folde
war für den Kampf auf Barrifaden
nidt bereit, ihr mar wohl Bereitidaft
epredigt worden in langjähriger
Separbeit, aber ohne praftifden Gre
folg, fie war nidt dazu erzogen.
ia wird heute nadgeholt. Belehrung
mit Hilfe von Druderfhwärze und
blutrünftigen Reden find dabei gu Mite
teln zweiten Orades Herabgefunfer.
627
Heute gilt es „Zellen“ zu fda
Gruppen, die als „Naturfreunde“, als
„Sportvereine“, als „Roter Front⸗
fampferbund“, als „Jugendbünde“ Der»
fhiedenen Titels folidarifhe Ramerad-
{daft find mit einem Gerpflidtungs-
bereitfhaft und einem eine beftimmte
Haltung erzeugenden Sthos.
Die nadfte Revolution wird beftrit-
ten von Ddiefer proletarifhen Jugend,
die fingt und tanzt und wanbert, die
militärifde Lebungen veranftaltet mit
Srara und Ti[dingdera, die in Stra-
Benparadben immer wieder ihr Celbft-
bewußtfein ftreichelt und liebfoft.
Wer da glaubt, diefe politijd-melts
anfdaulide ee nicht ernft neh⸗
men zu brauden, weil fie nur einen
fleinen Zeil des deutiden Volles dare
ftellt, der fei daran erinnert, daß aud
in Rußland die fommuniftifdhe Partei
organifation recht ſchwach ift gegenüber
der Sefamteinwohnerzahl. E38 ift nicht
Schwarzieherei und Yebertreibung, zu
behaupten, daß heute die Heere für den
ewaltfamen Umſturz da find, beget
erte und entfdloffene Heere, Die 1918
bis 1920 nod das Wortemaden und
das grollende, ungufriedene An-den-
Sden-ftehen für politifden Kampf an»
faben.
Daf diefe rote Aftion auf viele Mit-
läufer und Génner zu rechnen bat, zeigt
ein Dlid in die Linkspreffe, zeigt das
„Haltet-den-Diebgefhrei“ über den fos
genannten Redtsputid, das deutlid
alg Ablenkungsmanöver großen Stils
zu würdigen ift.
Nicht * f die Richtigkeit, fondern auf
Die Wirkfamfeit der Ideen kommt ed
im gefdidtliden Oeſchehen an. Und
Kommunismus und Sozialismus,
fehr fie von Wilfenfhaft und Wirfli
feit widerlegt find, erweifen fid heute
als weltanihaulide Ideale, die Tau⸗
fende mit größter Degeifterung und
entidloffenem Tatwillen und Opferwil«
auf anfommt, die Waffen zu belehren
und ihre Nörgelfucht zu ftarfen, als
vielmehr fie zu erziehen. Und Dazu
war nötig, fid) auf Die Seelen der „po⸗
litifhen Kinder“ einzuftellen, auf ihr
Bedürfnis nah duperem Theater und
Srara, nad Abzeihen und GFormel-
fram. Neuartige Organifationsformen
und Mittel waren nötig, die in den
alten gewerfihaftlihen Rezepten nicht
gu finden waren.
Dem Kind ift bas Handefalten das
©ebet, die Jfidtbare Bewegung, nidt
der Oedanke. Mein Dreijahriger ftebt
am Genfter, wie Die Rommuniften vore
beifommen, und fagt: „Wenn id grö-
Ber bin, werde id aud Kommenift und
binde mir ‘ne Trommel um.“
G8 fann ein für den DBeftand unfe»
res Reiches Hidft gefährlicher Kinder»
freuggug fein, in den Diefe redt er-
wachſenen politifden Kinder mit fo
auferordentlidem Gefdid hineinbeget-
dem Diirgertum nidt eines
Sages grell der Ruf in den Obren
gellen: Rot Front, Hurral
Georg SHmidt.
Der Beobachter
Sin» und QAußfteigende.
Immer wenn ich ©elegenbeit habe in
einem überfüllten Zuge zu fahren, babe
id) meine heimliche Greude daran, auf
den Stationen die Sin- und QAusftei«-
genden und ihr ®ehaben zu beobadten.
Da find zuerft die Ginfteigenden. Cie
find reine Triebmenfden auf einer fehr
niedrigen Stufe, nur pon dem einzigen
Drang befeffen: Rein, rein, rein in den
Zug, fo fdnell wie möglid), damit wir
nod einen Sitzplatz friegen! Ridfidten
fennen fie nidt, Höflichkeit ift ihnen
durchaus fremd, aud) Sefege, (wie 3. DB.
daß man erft ausfteigen laffen muß!)
628
baben feine ®eltung für fie. Wie eine
wildgewordene Hammelherde drängen
fie fid in dichten Klumpen vor
den Sreppden zufammen, die in dag
Innere des Zuges führen. Ihr Dlid
ift ftier, ihre Ellbogen ftoßen Frauen
und Sungfrauen in beliebige Körper-
teile, ihre Süße fchreiten achtlos über
Kinder und Säuglinge hinweg, und
ihren Mündern entfliehen wilde Bere
wünfhungen gegen alles und jedes,
was fid ihrem Trieb in den Zug zu
gelangen, bemmend in den Weg ftellt.
Das Gauftredht herrſcht, der Starfe
bleibt Sieger!
Die anders die Ausfteigenden! Wie
porteilhaft fteden fie bon dem eben ge-
{Hilderten Thpus ab! Cine Jahr—⸗
taufende lange Gntwidlung fcheint fie
pon ihnen zu trennen. Sie find ruhig
und beberriht, fie Halten Sitte und
Geſetz Hod. Sie können gar nidt bee
greifen, wie man fid fo benehmen fann
wie die Sinfteigenden! ,,Grft ausfteigen
Laffen, erft ausfteigen Iaffen!“ mahnen
fie mit mildem Gorwurf, und wenn fie
e8 gar zu toll treiben, ftoßen fie einen
fleinen entrüfteten Sungenfdnalglaut
aus: „SI" Manchmal verfuden fie die
wilde Horde durd Sufprud zu befänf-
tigen: „Aber meine Herren, meine Da-
men, haben Gie dod Beduld! Gie
fommen ja alle nod mit! Laffen Sie
dod erft ausfteigen!“ Umſonſt, die
Meute fann und will nichts hören, faum
daß das läftige Hindernis der Ausftei-
genden befeitigt ift, ftürmen fie mit der
Sewalt einer Naturfraft das Treppen
Hinauf ins Abteil und ergießen fid
über die Bänte.
Nun aber fommt das Sntereffante!
Denn diefe wilden Geſchöpfe, Diefe
Triebmenfden, diefe Cinfteigenden,
maden, faum daß ihre Sibfladen mit
den Banfen in Berührung gelommen
find, einen feltfamen Läuterungsprozeß
durdh. Aeuferlid zwar merft man
nichts davon, fie fiben und leſen die
Zeitung, fauen Butterbrote und gloßen
die Mitreifenden an. Und doh muß
inerhörtes in ihnen vorgeben, denn
oft ſchon nad zehn Minuten, [don bei
der nädften Station zumeilen, wenn
der Zug Halt und es ans Ausfteigen
geht, find fie gänzlich verändert, nicht
wiederguerfennen. Nun find fie die
Rubigen, Beherrſchten, Abgellärten,
Meber den Dingen ftehenden! Und
wenn fid nun tieder eine wilde Rotte
pom Stamm der Ginfteigenden ihnen
entgegenwirft, fo find nun fie ibrerfetts
fittlid® entrüftet, begreifen durdaus
nidt, wie man fi fo benehmen fann,
Tagen mit milder Sntrüftung „ZI" und
halten das Seles hod: „Erſt ausfteigen
laffen, erft ausfteigen laffen! Meine
Herren, meine Damen, aber fo nebmen
Sie doh Bernunft an! Sie fommen ja
alle nod mit!“ Ind wenn fie fid endlid
durd den rafenden Haufen hindurdge-
zwängt haben, entfchreiten fie ftolg und
aufredt, nur den Kopf ſchüttelnd über
fo viel ungezäbmtes Barbarentum.
Marie Sdend.
Bildungs-Inpentur.
Eine Neuhorfer Wodenfdrift Hat
(laut einem Bericht des Berliner Tage»
blattes vom 27. April d. 3.) an einer
großen amerifanifhen Uniperfität eine
Rundfrage veranftaltet, um den DBil-
dungsftand der Zöglinge diefer Hod-
ſchule feftzuftellen. Hundert Studie»
rende ver{diedener Semefter wurden
al8 erfudsobjefte ausgewählt und
mittels eines Sragebogens vernommen.
Das Ergebnis ift fo verblüffend, daß
wir es unferen Lefern nit porenthal«
ten wollen. Bon Kant hatten 73 diefer
Afademifer, von Kopernifus 70, von
Spinoza 92 nod nie etwas vernommen.
Aber nod) auffhlußreicher als folde
rein negativen Antworten find die An«
— derer, die von dieſen merkwür⸗
igen Leuten wenigſtens etwas gehört
hatten. „Plato war ein Philoſoph im
achtzehnten Jahrhundert, Peſtalozzi ein
italieniſcher Maler, Goethe ein griechi⸗
ſcher Philoſoph; Salon (in Berwedf-
lung mit Salome) ein jüdifher Tanger,
Kleopatra einfad „ein ſchlechtes Weib“
und Dismard „eine Sorte Berliner
fannfuden*. Das Srftaunlidfte aber
ellt eine Antwort dar, die befagt,
„Marconie“ habe die drabtlofe Tele
graphie erfunden, aber e8 fei nidt gang
fiher, ob er im fechzehnten oder fieb-
zehnten Sahrhundert gelebt Habe. So
furz ift das Oedächtnis diefer fröhlichen
jungen Wiffenfchaftler, daß fie eine Er-
findung, die fid zu ihren Lebzeiten ent-
widelt hat und zu der fie durd das
Radio realere Beziehungen haben, als
zu obffuren, teutonifmen ®enied, um
einige Sahrhunderte zurüdzudatieren
permögen.
Wie bas Ergebnis gewefen wäre,
wenn man nidt nur Namen, fondern
etwa die Bedeutung einiger mit diefen
Männern verfnüpfter Begriffe verlangt
hätte, ift nicht abgufeben.
Wie wir hören, bat diefe Gntdedung
in Amerifa die lebhaftefte Beftirgung
herporgerufen und die führenden twiffens
[haftliden Kreife bereiten ein furz ge-
faftes Standard Work vor, indem ein
für allemal gefagt werden foll, wer mas
ift, was erfunden, was gefdrieben bat,
wer wie auf bemerfenswerte Weife zu
Tode gefommen ift 3.B.:,,@eneral Mar⸗
tin Quther, Hauptwerk „Untergang des
Abendlandes“, führt die Teutonen in
den Freiheitsfriegen gegen den Zaren
Swan. Der Maler Düjfeldorf, Zeichner
des befannten Abendmahls, ift fein un-
629
ebelider Sohn, den er mit einer ent-
laufenen Nonne erzeugt bat, welde in
Deutidland als Gerfafferin der ,,Be-
fenntniffe einer f[hönen Seele“ großes
Anfehen genießt. Die Erfindung des
Telephons wird ihm irrtümlich zuge»
fdrieben. Gr endete fein dem Fortſchritt
geweihtes Leben in den SKerfern bon
Nürnberg, wo fein Bild nod heute auf
den befannten Lebfuden zu feben ift.“
®erbard®ünther.
Mengenbun. —
Deforation.
Kultur tritt in Grfdeinung als
Aeußerung eines Lebensgefühles, das
ein ‚ganaes Golf durddringt. In der
Sivilifation bat man Dingegen eine
KRultur- Abteilung, wo Sadverftandige
und Zadleute Kultur maden und das
Deforum wahren, weil e8 fonft heraus»
fommt, wie e8 um die Kultur beftellt ift.
Nämlich fo: In Sidamerifa gibt
man bei Sadfongerten zur Sinführung
in die deutſche Seele einleitend den
Nibelungenfilm.
Sind fo: Gin amerifanifhes Infe-
rat fudt den Befis eines Budes mit
Wiedergaben nad Gemälden großer
Meifter dadurd finnvoll und vorteil-
Haft erfdeinen zu laffen, daß es anfiin-
digt: Girfinf Dollar fünfzig
Millionen! wobei die erfte Zahl
den Preis des Buches, die zweite den
Gerfaufswmwert der wiedergegebe-
nen Originale angibt.
ind fo: In Dofton bereitet die
Siniverfität junge Mädchen auf die
Ehe vor: „Liebe vor der Ehe ift nidt
fo nötig wie Yebereinftimmung in Ree
ligion und Politif, wie gleide Neigun-
gen für Sport, Sefelligfeit und Reifen.“
Die Lehrerin diefer treffliden Anftalt
bat in ihrer She erft ein Kind ange-
nommen, „um ihre mittterliden See
fühle zu erproben“, ebe fie es wagte,
einem eigenen Rinde das Leben zu
geben.
sind fo: Sede Stunde „unfrer Lieb»
linge* von Gilm und Sportplaß ift
„uns“ teuer; Senta Söneland ftillt „un«
fern" Wiffendurft nad ihren Gerien-
abfidten gar poetifd:
„Der Meeresftrand felbft ift ae
mir
id muß nad Karlsbad ing Darm
d Baud!“
Sind jo: An den Sitfaßfäufen flebt
ein Plakat jener Art, in der fette
gedrudte Zeilen einen andern Text por»
täufchen, hinter den die e Sau An»
fündigung zurüdtritt: edes Ham
burger Kind muß mal... Papa darf
mid nidt abhalten...“ Was muß das
Kind? Dorthin, wohin aud der König
— mit flammendem Auge auf einem ane
dern Plakat did weift: „Beh Sr aud
in die Fridericus-Bantomime „GEs
flappert die Mühle bon Gansfouci.“
Und endlid fo: Die gefdiedene
©räfin Bothmer hat die Peinlidfeiten
ihres Gfandalprogeffes veröffentlicht
unter dem Titel: »potsdam — mein
Oolgatha.“
Hier fehlen offenbar gelernte ful-
turelle Schaufenfterdeforateure. Der
Reiter der „Reihs-KRultur- Abteilung“
follte alle Runftafademien auf diefen
Guferft zulunftsreihen Berufszweig
umftellen. Ohne fadmdnnifh vor⸗
genommene Retufde fann das „kul⸗
turelle Antlig unfrer Spode wirklid
nicht mehr öffentlich gezeigt rn
Neue Bücher
Hans 8 K Öüntber,
Raffentunde des Deutiden
Gotlfes. eh. 950 ME. Seb. 12 ME.
3. 5. Lehmanns Serlag, Minden.
Das Buch ift in unferer Beitidrift
bereits befproden toorden. Seine Bee
deutung veranlaßt ung, das Srfcheinen
der zehnten Auflage — in drei Iahren!
— befonders anzuzeigen. Gegenüber
den früheren Auflagen zeigt das Werk
eine Anzahl neuer Bilder, die an Stelle
weniger gelungener Aufnahmen at
fhoben worden find. Bei der
Rolle, welche gerade das reid alte
630
Bildmaterial für die Schulung des
Mickes fpielt, ift diefe Sorgfalt bes
Berfaffers nn DBerlegers fehr zu be»
grüßen. Da der auferordentlide Wert
Des Buches unfern Lefern befannt ift,
darf ich vielleicht die Selegenheit be»
nugen, um einen fleinen Wunfdgettel
für Die weitere Ausgeftaltung —
ſchreiben. Die ſeeliſche Ausdeutung
raſſiſchen Erbanlagen muß bei dem ge⸗
ringen Alter der Wifſſenſchaft ſelbſt⸗
verſtändlich noch karg und umrißhaft
ſein, wenn die unerläßliche Vorſicht ge⸗
wahrt werden ſoll. Vielleicht iſt für
ihre Bereicherung das Gebiet der Mi-
mit, der Gefte im meiteften Sinne be-
fonders — Etwa bei dem Bilde
des engliſchen Offiziers (Abb. 24) —
trog der ſteifen ——
— und bei den Oſtjuden (Abb. 456
und 457) bemerft man deutlich den
Raffendarafter der Körperhaltung.
Ebenſo könnten die ®emälde des 16.
und 17. Sahrhunderts unterfudt were
den, wo die Künftler Sefidtsausdrud
und Haltımg bis zur Birtuofitat ſpre⸗
hend geftalteten and einen burd Die
zugrunde liegende Anekdote oder bibli-
fhe Sefdidte Har umriffenen pſhcho⸗
logiſchen Tatbeftand mit allen mimi-
fchen Einzelheiten wiedergaben. Auch
e, wie der ,,Denfer* von Ro«
Din, zeigen den ganzen Körperausdrud
eines feelifhen Borgangs. Sonft famen
Pbhotographien pon Menfden in Frage,
Die nidt wiffen, daß fie photographiert
werden, bon Hauern
Maffen, Zuf
bei eindrudsftarten Sreigräffen, Deren
Pindologi[der Inhalt befannt ift.
Dur Bergleide find Bier vielleicht
wertbolle Ginblide zu gewinnen, welche
Die LUnterfudiung, ohne fie allaufehr
pon der betradteten Leiblidfett loszu⸗
löfen, vertiefend auf das feelifme See
biet leiten fonnten
Denn bie Satlade, Daß die Gruppie-
rung, welde die Raffenfunde gefdaffen
bat, ungefuhte Parallelen zu den
ftitutionellen Typen SKretichmers here
bortreten läßt, macht offenfichtlich, we
Günther nicht mit abftraften Konſtruk⸗
tionen arbeitet, fondern biologiſche
Wefenheiten erfaßt bat, mögen deren
Deutungen awd) Heute nod lange
nicht erfhöpfend fein. Darum Dürfen
wir bon Diefer Forſchung nod viel er-
warten. Um an ihren Refultaten teil»
gubaben, müffen wir unfern Blid für
ihren Gegenftand ſchulen. Dazu gibt
©ünthers Raffenfunde gerade jest, ehe
der Umfang dieſes Wiffenidaftsge-
bietes über die Faſſungskraft des Laien
Hinauswadft, eine porzügliche Oelegen⸗
peer die man fid nicht entgehen ale
——— Maller-Wultod',
Bauten der Arbeit und des
Berfehrs aus deutſcher See
—— 220 ME. Karl Robert
un Naa Berlag, Königftein im
— neueſte Band der bekannten
„Blauen Bücher“ ſchließt ſich würdig
an feine Borgänger an. Der Charakter
der neuen Dautweife, Die ihre an
timlide Schönheit aus den Notwend *
keiten der Ziviliſation erſt entwick
konnte, nachdem die konſtruktive Cad
Tüchfeit gum Maßftabe geworben Er
fpiegelt fih in diefem Bud in eine
wandfreien Photographien von ihrem
inn im erften Jahrzehnt unjeres
rhunderts bis zur Gegenwart. Da-
bei tritt, neben manden inficherheiten,
{Gon deutlich die Artbefonderheit hers
por, welde im Rahmen eines inter-
nationalen Gntwidiun gsabſchnittes die
deutide ivilifation Kb au bewahren
vermag. Das Problem ——— Zeit,
aus der fulturelen Vergangenheit
beim Wandel aller Inhalte Die Grund»
ridtung eigenen Volkstums in der Ber
ftaltung der neuen Spode innegubalten,
bat die Arditeftur als lösbar gezeigt:
das Chile⸗Haus in — welches
einſtweilen freilich noch einen vereinzel⸗
ten oop Bunt barftelt, pat en Sie
Stufe bloßer Sadhlichkeit überfchritten
und auf ihrem Boden ID BI LUNDE
Schönheit entfaltet. Gerade indem
Band diefe Entwidlung von ihren oe
fangen an darftellt, madt er a prine
zipielle Bedeutfamfeit fidtba
Herrig Hartner, “roti
und Raffe. Kart. 5 mt. ar
7 WME Deutider Volksverlag
Boepple, Münden.
Das Bud unterfucht auf Orund lite»
rarifher Zeugniſſe die artfremde jirdi-
fe Grotif mit befferem Titerarifchem
Berftändnis, als das mitunter ger
ſchieht. Trotzdem Hinterläßt die Lettiire
infolge der Berdidtung jüdifcher Grotik
zu fnappen Zitaten ein widriges See
fühl Man zweifelt, ob um der Blöden
willen, denen diefer Gxtrakt Die zen
öffnet, ein foldes Buch gefdrie
werden mußte, um fo mehr, als bie
Ausdeutung des Materials der Ber-
tiefung ermangelt.
Bwiefprade
Wie im Borjahre ift unfer anne
ent»
beft während Dr. Stapels Urlaub
ftanden; wählte id damals, im Zier-
beft, ein „warmes“ Thema, fo diesmal
ein um fo „Lälteres“: die Sivilifation.
Dadurd war es gegeben, daß wir aud
631
pon Amerifa fpreden mußten, deffen
Bedeutung für unfre Sufunft wir nod
faum ridtig einſchätzen.
Mnfre Bilder dienen dem Leitthema.
Der Hodhausentwurf pon Scopp bringt
die monumentale Wudt der modernen
Gadlidfeit befonders deutlid zum
Ausdrud; er ift für das Gebaude des
Deutichnationalen Handlungsgebilfen-
DBerbandes gedadt; man betradte ihn
im Sufammenbang mit dem Leitauffage.
Die andern Bilder follten die drei
Land{daften por Augen ftellen, die um
uns ber die verfdiedenen Zeitalter
nebeneinander vertreten. Freilich ift
unfre ,,Naturlandfdaft* im erdfund-
liden Sinne nidt „echt“, denn die Heide
würde ohne den Menfden anders aus-
fehen; in diefem Sinne wäre nur die
hohe See oder ein Oletider in Guropa
nod „Natur“. Aber der Menſch hat die
He nie
afe auf ihr weideten, aber er hat fie
nidt geftaltet, wie die Dorfland-
fdaft auf dem zweiten Bild. Die „Zivi⸗
Iifationslandfhaft“, wenn man ben
QAusdrud für die „zugelchnittene“ Nae
tur im Bereide der Mafchinenwirkung
zuläßt, ftellt den Hamburger Hafen,
das Dorfbild die alte Siedlung Unter⸗
regenbad in meiner wiirttembergifden
Heimat dar; diefe Aufnahme verdante
id der Freundlichkeit bon Herrn Pfar-
rer Nlürdel. Das Heidebild ftammt aus
der reihen Sammlung von Albert
Wande, Salzwedel, der als einer der
erften, mit feinem Gefühl für Land-
Ihaftsphotographie begabt, die Heide
für die Deffentlidfeit entdedte.
Zu meinem Auffag über Leffing gebt
mir eine QAufflärung gu; das Prager
Tageblatt ift nicht deutidfeindlid, fon"
dern in jüdifch-demofratifhem Sinne
„deutſchfreundlich“. Ich berichtige alfo
erne, daß e8 in OStefem Sinne Lef-
Fin ings berüchtigten Aufſatz über Hinden-
ban bradte.
Einige Zufhriften zu den Lidtfleid-
auffagen des lebten Heftes wird Herr
Dr. Stapel nad feiner Riidfehr beant-
worten. — Um verfdiedene Ueberſchrei⸗
tungen des Heftumfanges wieder einzur
bringen, fommt diefes Heft mit geringe»
rer Seitenzahl heraus; das nddfte wird
wieder den gewohnten Umfang haben.
Dr. Friedrid Shwaner, ber
Komponift unferer Lieder, wurde am
25. Sebruar 1890 gu Rattlar in Wal-
ded als Sohn des Dorffdullehrers
Wilhelm Schwaner geboren, befudte
das Berliner Zall-Realgymnafium und
ftudierte dDanad in Berlin und Tübin⸗
gen neuere Spraden, Sermaniftif und
Philoſophie. Der Kriegsausbruch
ſchloß feine Studien vorzeitig ab und
führte ihn nad der Ghampagne, two er
in der Herbftidladt verwundet wurde.
1920 promovierte er dann in Tübingen
bei Hermann Gilder über Mundart»
lihes im Schaffen Heines, wirkte ein
Sabhr lang als Berlagsporftand im Gee
{afte feines Baters, arbeitete im Leip-
ziger Buchhandel, flüchtete während der
Inflation nah Böhmen und trat end»
lid wieder in das väterlihe SOefdaft
ein. In der Mufif gunddft Autodidatt,
belegte er während des Leipziger
Aufenthalts Mufifwiffenidaft. Als
Komponift fduf er vorwiegend Lieder,
aud folde mit ordeftraler Begleitung.
Gerdffentlidt worden find bisher Deh⸗
mel-Bertonungen (im Kunſtwart), To»
wie folde Sagores, ebendafelbft
Unſre Schlußworte ftammen aus den
Aphorismen Friedrid Niewfdes, die
unter dem Titel „Der Wille zur Madt“
veröffentlicht find. Sie weifen Me en
Reitauffaß zurüd.
Stimmen der Weifter.
Wohin gehört unfre moderne Welt: in die Erfhöpfung oder in den Aufgang?
— Ihre Bielheit und Unruhe bedingt durd die Hidfte Gorm des Bemwußt-
werden.
Orundſatz; &8 gibt etwas von Berfall in allem, was den modernen Menfden
anzeigt: aber dicht neben der Krankheit ftehen Anzeichen einer am eepebnken Kraft
und Mädtigkeit der Seele. Diefelben ®ründe, wel
me die Ber»
fleinerung der Menfhenberpvorbringen, treiben die Stär-
feren und Seltneren bis hinauf zur Or
Et Nietzſche.
Gedrudt in ber Hanſeatiſchen Verlagsanſtalt Akttiengeſellſchaft, Samburg.
632
Ho@lquojsuagolmag umjsnog UaHinag wag Eng
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Bangui 199 aquoz uayg un agyjunndg; WNYSYOK, WEHNIG wag ng
Deutfches Golfstum
9. Heft Cine Wonatsfdrift 1926
Golf und Sitte.
enn id bon meiner Arbeit an den Spraden Afrifas erzählen foll,
werbe id meift gefragt: „Haben denn Diefe Sprachen überhaupt
eine @rammatif{?* Sa, wenn man unter Orammatik ein Buch verfteht mit
Regeln und Beifpielen, Dann haben fie das freilich nicht, wo nicht ein Euro»
paer, fo gut er fonnte, ein foldes Buch gefchrieben bat. Aber wenn man
mit @rammatif bie Regeln meint, bie in ber Sprache felbft beobadtet were
ben, Dann haben fie Dod eine Srammatif und manche fogar eine diel rei»
cere als die Spraden Europas. Meine verehrten Subdrer und Lefer
glauben mir bas meift nicht, weil fie im Orunde benfen, dah bie Regeln
Der Sprade feftgefest find, ehe Die Sprade war, während Hod bie
Sprade nur der ihr felbft innewohnenden Art folgte und der Brammatiler
nichts weiter tun fonnte als biefe in ihr liegenden Regeln zu finden und
aufzufchreiben. |
Und fo ift es mit ber Sitte aud. Ss waren nicht erft bie Kulturvdlfer
und in ihnen bie ®ebilbeten, bie Die Sitte feftfebten, fondern bie Gitte er⸗
touds aus der eigenen Art eines Bolles zugleich mit bem Bolt, ebenfo wie
feine Sprade. Städter meinen ja zuweilen — ich denfe an ben ®eheimrat
In Smmermanns Oberhof —, daß der Landmann nicht gar fo formell
fet, und daß man fid ihm gegenüber ganz ungeziwungen geben lönne, und
baden Dabei gelegentlich unangenehme Erfahrungen gemacht; denn in einer
rechten Dorfgemeinde, wo nod nicht die alte Sitte burd den Fremden»
verkehr zerftört ift, ift Diefe Sitte eine Macht. Sie fdreibt vor, wie man
ſich Degrüßt, wie man ein Anliegen dvorträgt, wie man danlt, wie man fid
beträgt beim Befud und beim Zamilienfeft, befonders bei ®eburt, Ghe⸗
Ichließung und Begräbnis, und dem freien Willen bes einzelnen ift da
nicht fehr diel Spielraum gelaffen. Dem Städter, ber die Sitte nicht fennt,
ſieht man das nad), wenn er fic nicht gar zu läftig madt — er tft eben
ein Städter, aber der Dorfgenoffe bat fic) ber Sitte zu fügen.
Mander Buropäer glaubt aud, daß man bei Böltern niederer Kultur
noch in ,glidlider Greibeit* pon dem Zwang ber Sitte lebt, während
dort die Sitte diel ftrenger ift als beim Guropder. Seder Afrikaner ift
3. DB. tief beichämt, wenn er gegen die Sitte verftoßen Hat. Sitte gibt es
eben nicht nur bei Kulturpdlfern, fondern wo Immer Menſchen zuſammen⸗
IeSen, bildet fic die Sitte aus. Die Tatfade ift ja nun einmal nicht zu bes
ftreiten, die der alte Bafuthofiirft in Südafrifa betonte, daß der Menſch
bon dem Augenblid an, wo er geboren ift, an feiner Mutter Bruft hängt
und von da an don anderen Menſchen abhängig bleibt.
41 Seutides Boltstum | 633
Die Urfprünge der Sitte weifen zurüd in alte, alte Seit, in alten
Bollsglauben, ber längft vergeffen tft, gu alten Orbnungen und Sefegen,
bie längft außer Kraft find, aber Die Doch oft genug noch beobadtet wer»
ben. Der Menfd braudt eben für das Zufammenleben eine Form und
bewahrt deshalb die überfommene als einen wertvollen Beſitz.
Che es ſchriftlich aufgezeichnete Gefebe und Ordnungen gab, war
das Leben auch unferes Bolfes in feinen verfchiedenen Stämmen bon
der Gitte geregelt. Gs ift ſchwer, faft unmöglidh, ſich Darein zu Denen.
Deshalb ift es nüblich, fich einmal in das Sufammenleben bon DBöltern
ber Gegenwart zu vertiefen, in Benen nod alles bon ber Gitte geregelt
wird. Diefen Dienft fSnnen uns allerlei ſchriftloſe Bölter in Afrifa und
der Südfee nod leiften, ehe aud fie bom modernen Verkehrsleben über«
flutet werden. Ich Denke da unter anderm an die wundervollen Schilde»
rungen aus dem Boll der Safıwa, die wir Eliſabeth Kot verdanten*, fo»
wie an die Darftellung des Rechts der Didagga bon Bruno Sutmann**.
Auf die Semeinfdaft ber Menſchen einer Abftammung, den Bluts-
verband, begiebt fic) Die Sitte zunächſt. Sogar die fchweifenden Bufdleute
fühlen fic verbunden mit den Menfchen, mit denen fie einen gemeinfamen
Ahnen haben. Man lebt ja mit den Alten, den Lebenden und Derftorbe»
nen. Bon diefer Gemeinfdaft wird man gebalten, getragen, 'unterftüßt.
Man arbeitet mit den Blutsgenoffen an der gemeinfamen Pflege der
@iiter, bie der Sippe eigen find.
Sobald der Menſch begonnen bat, den Boden zu bebauen und feftere
Wobhnfike zu errichten, bezieht fich bie Sitte auf die ®emeinfchaft der
Zufammenwohnenden, den Bodenverband. In einfachen Berbältniffen find
Diefe Beziehungen fehr eng, denn die Nachbarn find auf gegenfeitige Hilfe
angewiefen beim Hausbau und beim Wegebau, bei Krankheit und Tod
unter Menfden und Bieb, beim Anlegen neuer Wohnlige und der Rodung
neuen Aderlandes, bei Geuersbrunft und Waffersnot, bei Jagd und Fiſch⸗
fang. Wohnungsnot ift unter Berbältniffen nicht möglich, wo bie Sitte ftark
ift, Denn die Nachbarn helfen einander beim Hausbau, fo daß die Koften
für den einzelnen gering werben.
Bei ſolchem gemeinfamen Hausbau wird bas Haus in allen feinen Seilen
in Beziehung gefebt gu ben Menſchen, die Darin Ieben follen. Das neue
Haus ift dann nicht nur ein wirt{daftlider Wertgegenftand, den etwa
aud ein Grember faufen könnte, fondern es ift ein fittlider und fogialer
Wert, der die Semiiter feiner Bewohner feffelt, es ift nicht nur eine Woh⸗
nung, fondern ein Heim.
Die Sitte bezieht fid aber aud auf bie Schichtung des Volles. Die
jüngere ®eneration wird in bas Boll eingefügt Durch befondere Feiern, die
fie an die Sitte binden und fie zum ®ehorfam und zur Ehrfurcht erziehen.
Die Unterfhiede der Stände werben aud in alten Bauerngemeinden bei
uns nod gewahrt. Su den mancherlei Ueberrafungen, die England dem
Beobachter bietet, gehört aud) bie, daß man in Diefem „fortjchrittlichen“
Vande fo ftreng an ber Beobadtung der Schichtung in der ©efellichaft feft-
Halt.
* Sie erfdeinen demnadft bei abril Reimer in Berlin.
* Das Redht der Dihagga. Minden. Bed. 1925.
634
Gs war gunddft die Kirche, Die mande Sitte unfers Bolfes auflöfte,
denn diefe Sitte war an die alte Bolfsreligion gebunden. Aber die Kirche
bewahrte dabei manche Sitte und gab ihr nur eine neue Deutung, und fie
bot neue Bindungen der ®emüter, Die über die alten Stammesgrenzen
Hinausreidten. Dazu fam das gefchriebene Recht, das an die Stelle der
Gitte trat — oft genug ein ftammfrembes, das römifche. Renaiffance und
Reformation haben dann die mittelalterliche Sitte burdbroden. Klaffifches
Altertum auf der einen und die Bibel auf der andern Seite brachten neue
Lebensideale, und es erwuchs im Proteftantismus eine neue biblifd be»
gründete Sitte. Jürn Jakob Swehn zeigt uns, wie ftarfe Kräfte bier Heute
nod) liegen.
Erft die Aufflärung vollendet die Auflöfung der Sitte und febt in
vielen Gallen an ihre Stelle die öde Nüslichkeit, die Refleftion, alfo im
Sinne des Bolfsgeiftes das Nichts.
Sweifellos find viele Sitten vernunftgemäß nicht zu begründen. Wir
nehmen, wenn wir Befannte befuden, den Hut ab und bebalten Die
Schuhe an den Füßen, während der Orientale Die Kopfbededung aufbehält
und bie Schuhe auszieht. Seine Weife ift zweifellos vernünftiger, denn Die |
KRopfbededung tft fauber und die Schuhe find ftaubig. Aber aud er handelt
nicht fo, weil es vernünftiger ift, fondern weil es in feiner Heimat fo Sitte
ift. Begeidnend ift aber, daß die Aufflärung Diefe an fid fehr gleich“
gültige Sitte nicht befeitigt bat, wohl aber wertvolle Sitten, weil diefe mit
der Religion gufammenbingen, denn man wollte fein Leben nicht mehr nad
ber Religion, fondern nad) der Bernunft einrichten.
Damit fiel die Ehrfurcht por dem überfommenen alten Out in Gitte
und Lebensform, es follte nun alles vernünftig fein.
Gs ift freilich ein Borrecht des Menfchen, fic) neue Lebensformen zu
Ihaffen. Jeder Bogel bat feine ihm eigentümlide Weife, fein Weft zu
Bauen und feine Jungen aufgugieben, und es fällt ibm nicht ein, diefe Weife
zu ändern. Der Menſch aber tft imftande, ftatt alter Sitten neue einzur
führen. Auch der begeiftertfte Berebrer alter Sitten wird nicht Darauf be»
ftehen, daß eine als fchädlich erfannte Gitte beibehalten wird. Aber dag
ſcheint mir ein wunderliches Unternehmen zu fein, daß die Menſchen ver⸗
ſuchen, ohne Sitte nur nach der Vernunft ihr Leben einzurichten, als wären
wir Tauter voneinander unabhängige Einzelwefen, während wir Doch mit
unferm Bolfe verbunden find als Blutsgenoffen und Schidfalsgenoffen.
Die Auflöfung der Sitte führt dazu, daß jeder glaubt, in jedem Augen-
blid nad feinem Grmeffen handeln zu können, wobei er dergift, daß man
in Der Stunde der Leidenfdaft nicht ruhig überlegt, fondern nad Trieben
banbelt, die nun durch feine Schranken der Sitte gehemmt find.
Man muß es als ein großes ®lüd betrachten, daß tro aller auf-
Iöfenden Kräfte die Bindungen der Sitte fi) oft als ftarfer erweifen, als
bie verhängnispollen Theorien. Mander läßt fid in ber Fremde, in Der
Oroßſtadt geben, weil er ſich einbildet, daß ihn Hier niemand fennt. Zu
Haufe ift er Durd) die Sitte gebunden. Kommt ein folder Wrenfd in einen
fremden Grbteil, fo fühlt er fid) ganz befreit bon den Geffeln der Sitte,
und der an die Sitte gebundene Afiate oder Afrifaner fieht Diefer ihm
fremden Srfcheinung mit tiefer Berwunderung au.
4° 635
Es wäre wohl ein fchönes Ziel, ftets nach ber Vernunft au handeln,
wenn man unter Bernunft nicht ben platten Alltagsverftand verfteht, der
nad oder Nüblichleit tradtet, fondern das Hddfte But im Menfchen, die
®efamtheit feiner fittliden Kräfte. Wenn man das aber will, dann fann
unfer Geitftern nicht die ſchwankende Sinfidt eines einzelnen fein, die mis
Sicherheit irre führt, fondern es muß der fittlide Wille einer Sefamtheit
fein, der bie Menſchen angehören. So fann 3. DB. der fittlide Sefamtwille
ber Europäer dem Der Orientalen gegenüberftehen. Dabei erwies fic bis
in die neuefte Zeit ber Guropder als Der Ueberlegene. In dem Mahe
aber, in bem die fittliden Kräfte Europas verfallen würden, würde fid
das ändern. Schon Heute ift der einzelne Guropder, der fic durch Feine
Gitte feines Volkes gebunden fühlt und nur nach feiner Willfiir handelt,
ein Schädling, ber bas Anfehen feines Bolles por fremden Böllern herab.
ebt.
Gs verfteht fid von felbft, daß die Sitten früherer Jahrhunderte für
unfere Seit nicht mehr paffen. Mande Härten alter Seiten haben wir
überwunden und wünfchen fie nicht zurüd. Auch fann man die Sitte eines
weltfernen Bauerndorfes nicht in die Oroßſtadt verpflangen. Sie würde
Da hoffnungslos verfümmern. Aber das ift wohl ein Schade, Daß wir oft
Darauf verzichtet haben, neue Sitten gu bilden für den Zufammenbang
der Menfchen in der ®roßftadt, und daß nun diefer Mangel an Sittel von
der Oroßſtadt aus fid Über das ganze Bolt ausbreitet. An die Stelle der
Gitte foll neuerdings der Sefegesparagraph treten — eine unerfüllbare
Sorderung. Man kann ja nicht das ganze Leben Durch Oeſetzesborſchriften
beftimmen, und die Zahl der Beamten, die bie Sefepe durchführen follen,
ift ja ohnehin mehr gewadfen, als uns lieb ift.
Wo aber die Sitte das Berhalten ber Sheleute zueinander regelt und
das Gerhaltnis zwifchen Eltern und Kindern, zwifchen jungen Burſchen
und jungen Mädchen, zwiſchen Nachbarn, zwiichen Untergebenen und Bore
gefebten, Arbeitnehmern und Arbeitgebern, DBedürftigen und Wohl
babenden, da bedarf es nicht vieler Oeſetze und nicht vieler Beamten. Dem
Europäerfinn ift es ja zunächſt unfapbar, wie 3. DB. eine afrifanifde Dorf-
gemeinde befteben fann, too feine gejchriebenen Oeſetze vorhanden find,
wo niemand fchreiben Tann, und wo Doch Das Beben ohne große Störungen
verläuft. Hier ift eben die Macht der Sitte nod ungebrochen, Die Die Bee
ziebungen bon Menſch gu Wenfch regelt und die Willkür der Veidenfchaft
einſchraͤnkt.
Wir konnen freilich nicht fo leben und können nicht verſuchen, es nach⸗
zumachen, aber wir können daraus entnehmen, wie wichtig die Bildung der
Sitte iſt, wichtiger als geſchriebene ®efehe. Dabei gebt ja die Sitte neben
dem Sefes ber — aud jebt bei uns. Auch der deutjche Richter handelt
und urteilt nicht nad Dem toten Buchftaben, fondern nad dem, was Braud
und Sitte geworden ift bei Anwendung des Gefeges. Sp brauchen wir für
unfer bürgerlidhes, wirtidaftlides, Firchliches Leben die Bindung durch
Die Sitte, und es fcheint, Daß unfere Jugend hierfür ein Berftändnis ge
wonnen bat und zur Schaffung folder Sitte Hindrängt. Darin liegt Kraft.
Das ift mehr als Wajoritätsbeichlüffe und papierne Paragraphen. Es ift
der Wille bes Bolfsgeiftes, der fich in der deutfchen Sitte ausprägen will
636
wie in der deutſchen Sprache, Dem deutſchen Lied und dem deutſchen Heim.
Diefe Sitte lehrt uns, wie wir uns gemeinfam freuen und gemeinfam
trauern fdnnen, wie wir gemeinfam arbeiten am Aufbau des ganzen Volkes,
nicht nur einzelner Stände. Greilid) gehört dazu ein gemeinfamer @laube
— der Ölaube an die Kraft, die Aufgabe, die Sufunft unferes Bolfs. Wenn
wir uns in Diefem Olauben gufammenfinden — Alte und Zunge, ®elebrte
und Yngelehrte, Reiche und Arme —, dann werden wir aud die Formen
finden für diefe Gemeinfdaft — in guter deutfder Sitte, in der bie Be"
gangenheit, Die Gegenwart und die Zukunft des Bolles fid) gufammen-
ſchließen. Carl Meinhof.
Völkiſche Seelſorge.
1.
eter Rofegger ift aus dem weltentlegenften oberftetrifchen Berg-
bauerntum emporgetaudt. Die Luft zu fabulieren, mehr nod, Die
mbtbenbilbende Urfraft der Golfheit hat er bon feiner Mutter mitbe-
fommen, aus dem Sdofe einer bes Lefens und Schreibens unfundigen
Köblerstochter, Die aber boll bon jener ®nade war, der wir auch unfere
Bolfslieder und Bollsmärchen danken. Ss gibt nicht mehr allzu viele, die
— heute noch — fo unmittelbar aus den Urtiefen bes Wald- und Wurzel-
bodens einer faft primitiven vollstümlichen Vebensform zu einer folchen
Wirkſamkeit für die Hodfultivierte Bejfamtnation emporfteigen, wie fie
Peter Rofegger immerhin ausübte. Dazu fommt, daß Peter Rofegger
felbft immer „Autodidalt“ und damit allezeit gänzlich frei und unberührt
geblieben ift von jedem „Intellektualismus“, bon jeder Literatenfchulung,
pon jeder DBläffe großſtädtiſcher Zreibhausgedanten. In den vierzig
Banden feiner gefammelten Werte ift nichts anderes, als immer wieder nur
er felbft, fein Bauerntum, fein heimiſches Bollstum niedergefchrieben.
Bir haben nod) ein zweites, in feiner Kunft noch größeres Bhänomen
berfelben Art in Defterreich: Anton Brudner. Aud) Brudner fam gang
aus dem Bolt und ſchoͤpfte aus Landichaft, Boden, Bauernbraud und Kult.
Aber was er gab, ward böchftes Kulturgut und alfo nur der oberften, ge-
bildetften und dazu mufifalifch gebildetften Schichte zugänglich. Rofeggers
Werk aber fpricdt zu jedem, gleichgültig ob Arbeiter, Bürger ober Bauer,
ja, es ſpricht fogar ftärler noch zur mittleren und unteren Schicht, als zur
oberften, wenigftens dort, wo es nicht auf lebte darftellerifhe Feinheiten
anfommt. Und trob feiner erdhaften Boden- und Waldftändigteit, es
ſpricht zum Doll der Qüneburger Heide ebenfo wie zu dem Berlins und
dem in Oefterreid).
Was da tard und wirkte, was ba Klingt und mitjchiwingen läßt, was
ba wie ein verborgener Waldauell raufdt und podt und alle deutſchen
Herzen mitpochen läßt, ift eben das Weben und Walten ber alten und
bod ewig jungen deutfchen Bolfsfeele; es ift ber Herzſchlag Des deutſchen
Bolfes. Ss ift ber deutſche Bolfsgeift, bei bem es ſchließlich einerlet ift,
od er uns aus den blanfen Augen der Nordfeeleute entgegenlendhtet, oder
ob er uns entgegenbligt aus den Worten des großen Redners an Hie
637
deutfche Nation, ob er uns entgegenftrömt aus dem mittelalterlid myſtiſch
innigem Beten einer Brudnerfymphonie, oder ob er uns warm und [licht
ins Herz bineinglüht, wie bei ben Kinder- und Hausmarden der Sebriider
@rimm oder bei den Sefdidten und Seftalten aus Peter Rofeggers
Waldheimat.
Gs ift wertooller, wenn bas „Boll“ in allen deutfhen ®auen den
Namen und vor allem das Werk Rofeggers in fid aufnimmt, als wenn
es bie Einwohnerzahlen der Steiermarf und die der Landeshauptitadt Grag
oder die Anzahl der Tonnen bon Voheiſen weiß, die alljährlid aus Dem
fteirifchen Eraberg ergraben werden, wertvoller aud, als wenn es Die
Namen und Mitgliederzahlen der völkifchen Bereine bon Graz, Klagenfurt
und den umliegenden Dörfern fennt.
Mit einem Worte: bom Standpunkte unferer Bemühungen um bas
beutfche Wefen, um den deutihen Bolksgeift, ift uns die feeliiche Bolfs-
bildung widtiger als die rein verftandesmäßige, rein ntelleftuelle.
Wir fchließen ung keineswegs dem faden ®eraunze an, das in jedem
Automobil, in jeder Induftrieanlage und in jedem modernen Badezimmer
eine Sünde gegen Die „gute alte Zeit“ fiebt, wir ftellen aud keineswegs
Die deutſchen Mädchen in Sti-Ausrüftung wie Hdllifhe Schredgefpenfter
dem @retden am Spinnrade gegenüber. Aud in Den Induftrieanlagen
bes Rubrgebietes fann Derfelbe deutſche Herafdlag pochen, und aud) bom
Seppelin, alg er über das Weltmeer flog, ftrablte deutſcher Bolfsgeift
aus, ganz ebenfo groß und fchön, wie aus einem Heldenlied unferer Bore
zeit. Nicht um das geht unfere Sorge, as Induftrie, Technik, Welthandel
und Grofftadt am Außeren Lebensbilde und in den äußeren Erſcheinungs⸗
Den ünferes Volkes verändert haben, fondern nur iim bas, was am
eutſchen Innenleben frant oder fdledt, oder aber mit frembem, ere
gies Schutt zugefhüttet worden ift. Und aus diefer Erfenntnis heraus”
ehe id) unfere Aufgabe nicht darin, Daß wir etwa an diefer Bolfsfeele
| genom „völkiſche Arbeit“ mit allerhand Traktätlein leiften, fondern
lediglich Darin, daß wir alle Die Quellorte, an Denen fie nod oder wieder in
Reinheit berporauillt, auffpüren, daß wir diefen Quellen Die Wege frei
maden, daß wir uns jelbft recht oft Darin baden.
© —⸗
— — —
—
Am
Wo find nun diefe Quellen ?
Als Steiermärler Denke ich zuerft an jene ftillen, waldvergrabenen
Bergbauernhöfe, deren Inwohner fo gar nidt „völlifch“, aber dafür in
ihrem Wefen, in ihrer Lebensführung, in ihrer Kultur, in ihren Liedern, in
ihrem ®lauben, in ihren Sitten und ihrer harten Arbeit Durch und durch
Deutfch find.
Sretlid haben fie für nationale Reden nicht das mindefte Berftänbnig,
und wenn man ihnen fagt: „Bedenke, Daf du ein Deutfder Bift!* fo
ſchauen fie einen verlegen und adfelgudend an, etwa fo als ob man ihnen
fagte: „Bedente, Daf du zwei Füße haft.“ Der Arzt und Dichter Hans
Kloepfer, der feit vierzig Jahren unter ihnen Iebt und fie fennt, wie faum
einer, bat einmal berfudt, ihnen einen „völkiſchen“ Bortrag zu balten.
Als Ergebnis fchrieb er mir: „Es ift zwedlos, unnötig, faft unerlaubt,
638
dem richtigen Almbauern völlifches Empfinden zu predigen. Gs lebt tief
und unbewußt in feinem uralten Bolfstum, in feinem Wefen, in feiner Ar»
beit, wie der Saft im Holze, wie das Blut im Körper. Cs fommt ihm
gottlob nicht als etwas Aeußerliches bor, als Kleid, bas man ausbürften,
bügeln, fliden, wohl gar wenden fann. Gr braudt es nicht zu „betätigen“
und fann es aud nit. Wie wenn man ihn aufforderte, Die Natur gu
bewunbern. Gr ift fie; er ift das lebte urfprüngliche Stüd Menſch, einge»
fügt in den Rahmen der Natur und der Bolfheit mit all ihren Selbſtver⸗
ftändlichfeiten, ihrem ©leichmut, mit ihrer Härte und ihrem unnennbaren
Reize.“ Das gilt ebenfo für die oberbahrifden Bauern, für bie Schwarz⸗
mwälder, für die Qüneburger Heidebauern und für jeden deutfchen Bauern
guter Art.
Man dente fid auf eine Stunde Iang binein in eine verfdneite ftei-
rife Shriftnadt, wie Die Leute um den ſchweren Edtifch fiben, aus bev
Heiligen Schrift vorlefen, und ihre wunbdervollen, berzbezwingenden
Krippen- und Hirtenlieder fingen, wie fie Dann ein Schüffeldden voll Mild
und SHirjebrei für die Grau Berdta, die mit den Seelen der ungetauften
Kinder durch die reiffroftgligernde Rauhnadt zieht, ans Fenfter ftellen,
wie der Bauer fonad mit Weihraud und Weihwaſſer durch alle Räume
bes Saufes und Hofes geht und bie Froftriefen und böfen Winter⸗Unhol⸗
Den verſcheucht, wie fie dann alle mit Kienfpänen, Gadeln und Laternen
burd den ftarrenden Winterwald zur Shriftmette gieben. Und dann denfe
man ſich plößlich verfeßt in ein pornehmes ftädtifches Bierlofal, wo ein
pöllifher Berein feine vaterländifche folenne Gulfneipe begeht — gewiß in
befter Iautefter Abficht. Alsbald ift Deutlich, wo Die deutſche Bolfsfeele
reiner, fchöner und unverſchütteter waltet.
Sreilid, wir können nicht in der Gropftadt an Stelle der Gulfneipe ein
bäuerlihes Weihnachten begeben! Giderlid nicht. Aber unfere ®razer
Wanderdogeljugend fonnte in der letten Chriftnadt, mitten in der großen
Stadt, in einer der ſchönſten Barodfirden ihr Weihnadhtsfeft für fid und
einen gefdloffenen Kreis in der Gorm eines weibnadtliden Myſterien⸗
fpieles mit wundervollen ®efängen begeben, und in einer Art, Die dag urs
alte Whfterium ftreng volkhaft geftaltete, aber bod Dem gebildeten moder-
nen Menfden nahe bradte. Diefe Weihnachtsfeier war fo deutſch, dah
einem aud) bier die Wahl zwiſchen biefer Form und der folennen Gul-
Ineipe nicht ſchwer wurde.
Gs ift alfo fon möglich, aud in der Oroßſtadt, aud im Induftrie»
begirf, es Braucht ,nur“ Der Menfchen, die es können. Aber freilid an
Diefem „nur“ hängt unfere ganze Frage.
Gs bedarf der Menfchen, die es finnen; nicht nur der Menfden,
bie eswollen.
Die maddtigften find freilich Die, welche es weder wollen nod) können.
Zwei Beifpiele: eines, bas ihre Macht, und eines, das ihr jammerlides Cre
geugnis zeigt. Cine Statiftil bes Wiener Bolfsbilbungsamtes bom Jahre
1920 ergab, daß in diefer Stadt während des genannten Jahres famtlide
Bolfsbilbungsanftalten — alfo alle Arten bon Schulen, vom Kindergarten
bis zur Hodfdule, alle Bollsbildungsinftitute, Arbeiterheime, Urania»
Borträge, alle Mufeen und Galerien und Ausftellungen und fchließlich
639
nod alle, aud alle zweifelhaften Theater eingerechnet — durchſchnittlich
und tiglid) bon 160000 Menfden beſucht waren. nb diefelbe Statiftif
ergab für Diefelbe Stadt und für dasſelbe Jahr einen tägliden Durch»
fcnittsbefud) ber Kinos von 280000 Menfden. Das beißt Hundert-
milltonenmal im Gabre find bie Seelen Der Wiener Bendlferung bon einem
®eifte beeinflußt, ber dem, was wir Deutfches Wefen nennen, bei der heu⸗
tigen rein aus ®efhäftsinftintten gefdaffenen Gorm der Kinodramen ent»
gegenwirfen muß. Gs ift feine Macht, aud die Preffe nicht, Die diefer Ge»
walt über die Seelen gleihlommt. Und folange es allen benen, Die es
Srnft meinen mit Boll und Bollsbildung, nicht gelingt, fid Des Kinos zu
bemäcdtigen, fteben wir auf verzweifeltem Poften.
Das zweite Beifpiel betrifft jene Leute, Die unmittelbar ins feelifde
Kulturgut bes Bolfes Hineingreifen und Daraus aus angeborener Oe⸗
Ihmad»- und Derftändnislofigfeit und aus Setvinnfudt ein Zerrbild
fhlimmfter Art maden. Ss ift ein alter Bolfsbraud am Borabend Hes
St. Nifolaustages, daß Der Nifolo als Bifchof verkleidet bon einem ketten⸗
flirrenden, in Pelze gebüllten Teufel (,,Bartl* oder „Krampus“) gefolgt,
im Die Kinderftube tritt, ben Braben Lob fpendet, den Schlimmen mit der
Rute drobt und fie ſchließlich allefamt unter Ermahnungen mit Nülfen,
Aepfeln und Backwerk befdenft. Daraus wurde in den dfterreichifchen,
wabhrfcheinlic aud in den füddeutfchen Städten Die Unfitte Des „Nikolo⸗
Rummels“, d. h. einer mehr minder zweifelhaften Tangunterbaltung, bei
ber rotes Papier, rotes Licht, Ihwarzbeftrumpfte Damenbeine und Schaum⸗
wein bie Hauptrolle fpielen, und Die als ein „Betrieb“ fchlimmfter Art
von der Halbwelt fleißig befudt wird und daher ein eintraglides Oeld⸗
geſchaͤft ift.
Das wäre nod nicht das Aergfte. Allein, biefelbe Gade wird nun bon
jenen, Die zwar wollen, aber nicht fonnen, einfach übernommen. Der ddl-
tifche Berein, der für feine Schutzwerke Geld Hereinbringen will, veranftaltet
nun nach dem Borbilde des gefhäftstüchtigen Reftaurateurs oder Bare
befigers felber einen „Nilolorummel“. Der Unterfchieb ift nur der, bad
biefer „Rummel“ völliiden Sweden dient. Daß bamit Geld für ein Boll“
gut gefammelt wird, ift ja ſchoͤn, aber baß durch Diefe Art ber Geld“
aufbringung ein anderes Bollsgut nicht nur verzerrt, fondern geradezu in
ben Kot gezogen wird, Das fällt den Leuten gar nicht ein.
Zu diefer Reihe gehören alle jenen mißpverftandbenen, wenn aud) ge⸗
wif gutgemeinten völfifchen, vaterländifchen und Bereinsfeftlichkeiten, De
infolge des Unbermdgens und ber falfden Ginftellung ihrer Beranftalter
gu Dem geworden find, was Avenarius mit Recht als „Rulturgreuel“ be»
zeichnet bat. Su alten, nicht mehr lebensfähigen, nur mehr als Serrbilder
wirkenden Gormen erftarrt, erfüllen fie zur Not den nddften und beute
lichten Zweck, Oeld bereingubringen, aber bon beutfcher Seele, bon irgend⸗
welcher innerliden Wirkung ift feine Spur mehr ba.
3.
Goll es beffer werben, fo müffen wir bet uns felber anfangen. Wir
milffen guerft bas GinftrdSmen beutfcher Bollsfeele in unfere eigenen Reihen
möglid) maden. Feiern, Fefte, Spiele, Lieder und Tange können zwar
640
ein wichtiger Zeil, aber eben dod nur ein Feil folder völkifcher Seelen»
pflege fein. In Wahrheit banbelt es fid um viel mehr, um feelifde Bolfs-
bildung im weiteften Sinne. In jenem großen, weiten und bedeutfamen
Ginn, den Walter Hofmann in ben Sat zufammengefaßt bat: „Wahre
bentide Boltsbildung muß fic die Boll-Bilbung, die bewußte Erwedung
und Pflege deut{der Bolfheit gum Ziele ſetzen.“
Sd Tann nur aus ben Erfahrungen Urteile ſchöpfen, die wir felbft
aus unferer ſüdmärkiſchen Kulturarbeit gewonnen haben.
Danad haben fid uns namentlich drei Arten von Hilfsfraften —
ober wenn ich beim früher genannten Bilde bleiben darf — von Quellorten
erichloffen, mit Benen und bon denen aus wir den Schutt wegräumen
fSnnen.
Diefe drei find folgende: Einmal bie bereits beftehenden und nod zu
erridtenden Bolfsbilbungsftellen tm weiteften Sinne; Dann Die Menfden
aus Der Gugendbetwegung und ſchließlich — bas Widtigfte — ber Seit-
Bon ber erften Art ift bie allertvidtigfte Die deutſche Volksſchule.
gu diefer wichtigften aller Bildungsftätten tritt Dann ber Kranz aller ber
übrigen, gleichgültig ob fie Mittel» oder Hochichule, ob fie Mufeum, ob
fle Boltsbildungsverein oder Kirche, ob fie Bücherei oder Seitidrift, ober
ob fie fonft wie heißen. Gs muß unfere ernfte Sorge fein, Daß fie bom „rech⸗
ten deutfhen Mut“ erfüllt feien. Ihrer aller müffen wir uns bedienen.
Auf diefes letzte Wort möchte id ba ein befonderes Oewicht legen.
Wir miiffer uns ihrer „bedienen“. Bielfad — bei uns in Oefterreid war
und ift es wenigftens recht oft fo — tun wir es oft einfach deshalb nicht, weil
viele pon dieſen Volksbildungsſtellen Bereine find, weil zudem auch wir
— alfo etwa Der Schulverein, die Siidmarf — ein Berein find, und weil
— eben jeder richtige Deutfche ein geborener Bereingmeier ift. Der rid-
tige Deut{de Täßt nur die 57 Bereine gelten, denen er felber angehört,
namentlich Die 12, Bei denen er Ausfchußmitglied tft. Aber er befindet
fic gegen alle übrigen Bereine — es find wohl viele Taufende — in einer
Art von ftandbiger Stammesfebde, er nörgelt an ihnen gleidjam pflicht-
gemäß, obne fi im minbeften über ihre Tätigkeit far zu werden. Das
trifft immer Dann zu, wenn ein anderer Berein die unerbirte Riidfidta
Iofigteit begebt, etwa dasfelbe Siel und vielleidt gar mit Denfelben ober
bod ähnlichen Mitteln wie er felbft zu verfolgen. Gs ift genau basjelbe
wie bei ben politiſchen Parteien. Sie feben nicht, Daß fie partes, d. 5.
Zeile eines Sanzen find und daß Staat und Bolf nur dann gebeihen
fSnnen, wenn fich Diefe Teile als organifche Slie ber eines und desfelben
Körpers fühlen und gebärden würden. So aber führt die Hand gegen den
Gup, das Herz gegen das Hirn, die Haut gegen die Nerden Krieg und das
Orgebnis ift Krankheit bes Sefamtfdrpers.
@reinen wir nicht immer und immer aneinander herum und vorbei,
feden wir Dod endlich, wie es fo viele grundebrlicdhe, bis zum lebten Opfer
bereite und alfo edle Streiter gibt, die alle das Heil unferes Bolles wollen,
und „bedienen“ wir ung ihrer! |
Die anderen zwei Arten Don Quellen, deren wir uns ebenfo bedienen
miiffen, find die Gugendbewegung und ber Seitgeift. Sie gehören, fo wie
641
wir fie bier faffen, zufammen, foweit nämlich beiden eine Sehnſucht nach
„neuem Lebengftil* zugrunde liegt, in dem wir Deutlich die Sehnfudt nach
Deutfcher Seele zu feben bermeinen.
Laffen wir uns nit irre maden durch Auswiidfe, die aud ber
Sugendbewegung nidt erfpart find. Laffen wir uns aud nicht abfdreden
pon den Schlagworten: ,Hie jungdeutich, bie freideutich, hie pazififtifche,
bie nationale Jugend.“ Geben wir nicht aud) bier wieder nur Parteien und
Klafjen und feindfelige Stämme, fondern feben wir Das, was Diefer ganzen
Sugendbewegung — fomweit fie echt und nicht Smitation ift — gemeinfam,
was nicht in fie bineingetragen, fondern tas in ihr drinnen ift. Und das ift
por allem die Satjache, daß es in Wahrheit nur eine Deut[ de Jugend»
bewegung gibt, Daß alles, was in anderen Ländern Derartiges beftebt, nur
Nahahmung und nidts Lebenspolles ift. Wer das recht zu feben vermag
— twas durchaus nicht jedem leicht anfommt — Der muß in dieſer Bewegung
etwas Erfchütterndes, aber aud) etwas Befreiendes feben. Denn er fiebt
bier in Wahrheit deutſche Bolfheit in morgenrotem Leuchten berborbreden.
Gr fiebt bier, mit Derfelben Shrlichfeit, Nüdfichtslofigfeit und der tiefen
Snnerlidfeit der Deutichen Bolfsfeele einen neuen zeitgerechten Lebens-
ftil bereiten, wie dies etwa in den Tagen Der Reformation, des Sturmes
und Dranges, der Romantifer oder der Urburfdenfdaft in anderen, übri-
gens recht Ähnlichen Formen gefchah.
And Dabei ift ja Diefe Zugendbeiwegung nur der deutlichfte, aber nicht
ber einzige Hinweis dafür, daß uns die neue Seit wirklich entgegenfommt.
Die Tatjache, daß diefe ihrem Wefen nad rein feelifche Strömung, aud
Die deutſche Arbeiterjugend erfaßt bat, ift mit Redt bereits bon dere
ſchiedenen Geiten als ein „Weg nad Weimar“, als ein Weg zu Goethe,
zum organifchen ganzen deutſchen Wenfden und damit als ein Heimfehren
zum Deutjchen Weſen, erfannt worden.
Denn was da quillt und drängt, das ift genau diefelbe Sehnfucht, auf
Die es auch uns anfommt: ein Auflehnen gegen die Geffeln der Allerwelts-
medanifierung, des aufflärerijchen Underftandes, gegen das Hirnmenſchen⸗
tum Des [ebten halben Jahrhunderts. Gs ift die Gehnfudt nad Wäldern
und blauen Bergen, nad) Freude und Grieden, nad) Mythus und Kult,
Seft und Kunft. Gs ift auch hier ein deutliches Durchbrechen der beutfchen
Bolfsfeele Durd den ihrem Weſen nicht entiprechenden und auf die Dauer
unerträglichen Zwangspanzer von „Nur Kraft und Stoff“, es ift der wahre
»Surdbrud gum Bolfstum*. Gs ift das Wiederfinden jenes rechten Weges,
ben der deutſche Bolfsgeift von Anbeginn einfdlug, den er aber oft und oft
verlor, der ibm immer wieder berfdiittet ward und Den er bisher Doch
immer wieder gefunden bat. Gs ift Der ibm vorbeftimmte, der einzig rid-
tige Weg für das deutſche Bolf.
Ihn freigulegen, alle jene zu fuchen und zu fammeln, die bewußt oder
unbewußt an feiner Greilequng arbeiten, ibn allen, aud) denen, bie fid
bewußt bon ihm abwenden, immer wieder zu zeigen, fie alle zu der Quelle
bingufiibren, bas find jene feelifchen Aufgaben und Werte, die uns in der
Bolfstumspflege fo nötig erfdeinen.
Denn was hilft es unferem Bolfe, nur bie ®renzen gu fidern und
eg im Innern an Wurzelfäulnis und ®ipfeldürre zugrunde geben gu
642
[affen? Was Hilft es, an einem Baume nur die Rinde zu pflegen, aber bas
Mark verfaulen zu laffen? Oder um das heilige Wort aud) bier zu ge»
brauden: , Was nübte es ihm, wenn es alle Schäße Der Erde gewänne,
aber Schaden nähme an feiner Seele!“
Gs war ein ftolges Wort, das Smanuel ®eibel dereinft in Die Welt
tief: „Und es foll am deutichen Wefen einmal nod die Welt genefen.*
nd es war ein furdtbar ernftes Wort, das Fichte in feiner achten Rede
Der deutfchen Nation gugerufen hat: „Wenn ihr derfinit, berfinkt die ganze
Menfchheit mit, ohne Hoffnung einer einftigen Wiederberftellung.“
Solchen hoben Mut, folches fternenlidte Ideal braudt por allem unfer
Deutfches Volk, felbft wenn am deutſchen Wefen zunächſt noch nicht Die
Welt, fondern porerft einmal wir felber genefen wollen!
Organifation, Wirtfdaft, Technik, Finanzen — alles notwendig: aber
böber als alles ftand allezeit und wird immer fteben Die Idee. Gs geht
nit ohne fie. Und alle großen Parteien — fie danten ihre Sröße nidt
fo febr der Organifation als ihrer Idee. Der Seift ift es, der lebendig,
madt, die Seele ift es, bie fidh Den Körper baut. Bictorod. ®eramb.
Hellfehen im Hadler Sietland.
Anders find die codices fcribentium,
anders Iumen naturae.
’ Paracelfus.
iner ber beften niederdeutfhden Männer und Borlampfer feines Bolls-
tums, der 1920 in Stade verstorbene Arzt und Schriftfteller Dr. Ouftad
Stille, ließ por zwanzig Jahren ein unfdeinbares Büchlein mit platt-
Deutfchen Erzählungen, „Ut 'n Sietlann’, Landdolters Belewniſſe“ erjchei-
nen, Denen dann nod) zwei Fortjebungen „Ut Landdolters Leben“ und
„Hadler Lid“ folgten. Diefe Kleingejhichten, Novellen und Stigzen haben
es, obwohl fie Allerbeftes, Allerzuverläjjigftes aus einem allerdings nur
Heinen Bezirk des niederdeutichen Bauerntums boten und dadurch typifden
Bedeutungswert behalten, im DBergleich gu anderen bon der Welle fraftiger
Reklame getragenen plattdeutjchen Büchern nur zu einem ſehr beicheidenen
äußeren Grfolg gebracht — eigentlich zu gar feinem. DBielleicht bolt eine
fpätere Zeit oder eine hochdeutſche Uebertragung, Die id) gerade dieſen
Bändchen twiinfde, foldes nad. Augenblidlich Liegen in ihnen jedenfalls
Beobadtungen und Werte brad), die für die Kenntnis der niederdeut{den
Bolfsfeele bon größter Bedeutung find. Nämlich darum, weil Stille ftets
unmittelbar aus dem Bolf gefchöpft bat, feine Retujden gibt und fub-
jeftive Ueber- wie Untermalungen vermeidet. Wir feben und erleben alle
Diefe Sietlandmenjchen mit, ähnlich wie Die Gmmentaler Bauern Sottbhelfs
oder die fteirifhen Rofeggers, nur mit dem Unterjchied, daß diefe Siet-
landbauern purd das Mundftüd ihres Qandsmannes und feelforgerifden
Arztes — fo wird man Stille bezeichnen dürfen — noch unmittelbarer zu
uns ſprechen. Dadurch entichleiert fid uns aus dieſem engen Elbmarſchen⸗
bezirt eine Anzahl bellfeherifcher Tatfaden und Begabungen, wie fie in
643
folder verhältnismäßigen Hülle bisher in feiner Darftellung nieber-
deutſcher oder deuticher Stammesgruppen gefammelt fein Dürften.
Was die Stillefchen Schriften bon rein Dichterifher Verarbeitung dere
artiger Stoffe unterfcheidet, ift alfo bie ganz objeftive literarifhe Behand⸗
lung der zwar unerflarliden, aber in ihrer Subftang unerjchütterlich
feftftebenden Satfaden. Dadurch erhalten die Sietlandichilderungen jener
drei Sraählungsbücher einen feltjam phosphorefzierenden Unterglang, eine
röntgenftrablenhaft den allem Wenfdenfdidfal umwirkten Iſisſchleier
durchdringende ®eifterfichtigfeit, Die mit weit größerem Sauber anzicht
und mit weit ftarferem ®rauen wieder entläßt als alle mehr oder minder
berühmten „belletriftifden“ Selpenfterge[idten. Das Sigentümliche ift,
daß man die Wahrheit der mitgeteilten Tatſachen in Zweifel zu ziehen
überhaupt gar nicht verfucht wird, daß man fogar die „Vörlute“, Bee
bezungen und fonftige in den Kreis des fogenannten Wherglaubens fallen»
den Grideinungen ebenfowenig anzweifelt wie die mebr oder weniger
bellfidtigen Beranlagungen der mit ihnen verknüpften Perfonen. Wir
Befinden uns in einer Welt, die uns unfre Schulweisheit als eine völlig
birngefpinftifhe oder bewußt betrügerifche ftets verlächerlit bat, wir
glauben den Urtezt alter Palimpfefte gu lefen, Die alle Schulporftellungen
bon Raum, Zeit und fogenannten wiffenfdaftliden Sndergebniffen aufs
gewaltigfte erjchüttern.
Stilles Sewährsleute find teils feine Patienten, deren Vertrauen er
fic als Arzt, teilnebmender Menfd und plattdeutfch fpredender Sietländer
in befonderem Maße erworben bat. Ferner bauerlide Befannte und
Greunde, deren Glaubwiirdigfeit au prüfen er Durch jahrelangen Berfehr in
der Lage war.
2.
Wenn nadftehend einige diefer Phänomen furg fligatert werden, fo
gefdiedt es nicht, um auf die Sietlandbiider als angenehme Oruſelgeſchich⸗
ten hinzumeifen. Sie wollen nur die Art Diefer Pefidte fowie ihrer Wahr»
nehmer furg ffiagieren, al8 Ausgangspuntt einiger Beobadtungen, Die
Heute wahrfcheinlih mehr als in der Fraßmaterialiftiichen Zeit ihres Er⸗
fheinens, fowohl vom vollstundliden wie wiffenfdaftliden Standpunkt
aus, intereffieren.
Wohl einer der tragifäften wie marfanteften Falle, namlid eine
Doppelhellfehung, verfniipft fid mit Stilles Hauptgewährsmann, Dem
BWarfmann Smeelf — nebenbei der Typus eines prächtigen und ehrliden
nieberfaidjifhen Bauern — fowie dem Schickſal feines Sohnes Hermann.
Diefer fteht 1870 bei der Garde in Berlin und vertraut, gedrüdt und be
fragt, Dem Bater beim Pfingfturlaub (alfo gu einer Zeit, wo noch niemand
an Krieg dachte): fein ſchleswigſcher Stubenfamerad Genfen, der „was
fehen fdnne*, babe, mit verlorenen Augen in die Gerne fchauend, in einer
gebirgigen und bewaldeten ®egend eine Sdhladtenfgene und in biefer ſich
felbft erblidt, wie er und andere Soldaten drei namentlid bezeichnete
Stubengenoffen, darunter Hermann, in ein ®rab gebettet Hatten. Dies
Oeſicht erfüllt fid dann buchftählich ein Bierteljabr ſpater tn ber Schlacht
von @rapelotte. Sn dem Augenblid, wo Hermann den tödlidden Schuß
erhält, flieht feine Mutter daheim mit Trauer im Blid, bie Arme nad) ihr
644 2
ausbreitend, Blutibergoffen, feine Grſcheinung in der Tür. Die Beftäti-
gung der Gingelbeiten erfolgt nad dem Kriege perfönlich dur Genfen,
an beffen Seite Hermann mit dem Ausruf ,O min Bader, min MWoder!“
gefallen ift.
Der alte Smeelf tft gleichfalls Hellfeher. Gr erwacht eines Nachts bon
einem Kiopfen am Genfter und Hirt eine Grauenftimme rufen: „Nachbar,
ſteh ſchnell auf, beim Maurer Kopp tft Feuer!“ Gr folgt bem Ruf, nie»
mand ift am Genfter, fein Feuer zu feben. Gr wedt feine Frau, fie bee
zweifelt Die Richtigleit feiner Angaben, da die bon Smeelf an der Stimme
erfannte Melderin ganz außer ber Ridtung wohne. Eine Woche fpdter
erfolgt ber Wedruf durch diefelbe Frau in Wirklidfeit, und bas Koppiche
Haus brennt in Der Sat ab.
Swifden Smeelf und Kopp beftand Feindſchaft: der Koppſche Sohn,
ein notorifher Taugenichts, Hatte Smeell am Sage porber einen Snterid
geftohlen, war bon Diefem zur Riidgabe aufgefordert worden, beim Aus»
Bruch des Yeuers mit dem Ruf: „O Gott, Smeells Snterid!“ aus dem
Bett gefprungen und Hatte beim Rettungsverfud des Tieres tödliche
DBrandiwunden erlitten. Dies Schidjal bes Berbrennens war dem Jungen
pon einem mit einem ganzen Bünbel offulter Fähigkeiten begabten alten
Armenhäusler, Wingel, — nad bem Bollsmund folle er ,twelde ftehn
laffen*, bie Rofe befpreden und das falte Bieber abfchreiben fönnen —
mit völliger Sicherheit propbezeit, ja, in einer bon Gmeelf beobachteten
unbeimlichen Szene geradezu über ihn heraufbefhworen worden, nachdem
Der junge Kopp ben Ninzeliden Hund aus Mutwillen in ein Feuer ge»
worfen hatte. Die Einzelheiten Diefer beiden gleichfalls fehr fompligierten
bellfeherifh»zauberifchen Borgänge wurden Stille, der ben ſchrecklich vers
brannten Jungen auf der Feuerftätte behandelt hatte, im —— daran
pon Smeelk mitgeteilt.
®eradezu der Thpus bes niederdeutſchen Hellſehers ober „Spöten«
Fiefers“ ift Der Durch eine blutige Ciferfudtstat belaftete Holafhubmader
Monfees. Die fdwere, nie verwundene Untreue der [pater verfchollenen
Braut Shriftine Mangels fcheint dieſe Fähigkeit in ihm ausgelöft zu haben.
Gr lebt feitdem einfam, hört und fiebt Spuferfdeinungen und verfucht, fein
Ser; dur Mitteilungen zu erleichtern. Schließlich perabfdiebet er fic bon
einem $reunde: feine Seit fet um, er babe in der Nacht, völlig wad, feine
frühere Braut an feinem Bett, ibm winlend, fteben feben. Dann fei fie
in einer großen Stadt in ein mit vielen Schiffen bededtes breites Waffer
geiprungen, mit einem von ihm bell gehörten Schrei. Jetzt müffe er ihr nad).
Kurz danach findet man ihn tot im Graben feines Haufes, felbft ertrantt.
Drei Tage [pater läuft beim Ortspaftor ein amtliches Schreiben aus Ham-
Burg ein: man möge wegen Der unverebelichten Shriftine Mangels, Die
Dort gebürtig fein folle, den ®eburtsichein [diden: fie Habe [id in Der Elbe
ertraͤnkt.
| 3.
Stille Bat nun feine Stetlanbbiider feineswegs abfidtlicd in ben ,,inter-
effanten“ Drennpunft biefer SHellfeberphännme und -begabungen ge-
ftellt. Sonbern fie famen ifm von felbft entgegen, fie find verflochten mit
Den thpifdften und marfanteften feiner Bauernfiguren, fie bilden eiwen
645
Wefensbeftandteil ihres feelifhden Sefiiges. Tatſachen des Hellfebens, der
Selenergie und »pathie, des Bannens, Behezens, Befpredens, bdfen Blicks
und wie Diefe fo mittelalterlid anmutenden offulten Gabigfeiten feiner
Sietlandmenfchen fonft zu benennen find, werden bon afchgrauer bis auf die
neuefte Zeit überliefert, bald als. objeltine Borfommniffe in beiligen und
profanen Büchern, Schriften und Zeitfchriften, bald als fubjeltin perarbei-
tete Motive in Märchen, Sagen, Bolfsliebern und ähnlicher Folfloriftif,
bald als Gegenftande peinlider Seridtsperfabren (Hexenprozeſſe), zum
allergrößten Seil aber, aud) heute nod, durch mündliche Ueberlieferung,
wie ich felbft und wohl jeder im ländlihen Volkstum Aufgewadfene be»
ftätigen fann. Noch heute laffen fie fid, Die Stillefhe Sammlung zeigt es,
in reidfter Fülle, wie Nadtidattenbliiten unter fonnenbefdienenem Tage
laubwerk, in den verfdwiegenften ®ründen des Bolfsbodens beobadten
und fammeln. Und das ift ebenfo natürlich und wenig vertwunderlid wie
etwa der duch Wiſſer aus dem gleichen Grunde herausgegrabene Mär-
Menreidtum, über den ich feinerzeit gar nicht erftaunt war. Es mußte, bier
wie dort, nur einer fommen, der Die Alraunwurzel batte, den Schab zu
beben.
Man follte meinen, derartige, ganze Bollsitämme, Bölfer und Litera-
turen wie Pilzmyzelien den Waldboden Hurdhfebende Phänome müßten
ber Wilfenfhaft wie der Allgemeinheit das allerhddfte Intereffe ab-
gewinnen. Das tun fie an fid aud, nur in eingefchränlter, für die poraus-
febungslofe wiffenfchaftlihde Erforfhung ungünftiger Weife. Denn das
ganze okkultiſtiſche ®ebiet hat bei der zünftigen Wilfenfchaft oon jeber
als recht anrühig gegolten. Ginmal wegen der rationaliftifch"-materia-
liſtiſchen Ginftellung der führenden Biologen, bis auf Virchow und Hädel,
in Deren Forſchungskreis dieſe wohl auffallendfte aller biologifmen Tate
fadengruppen fonft hätte fallen müffen. Dann aber auch wegen der vielen
Schwindeleien, die gerade Dies ®ebiet durch feine Berquidung mit übelftem
Aberglauben und den gefhäftsmäßigen Ausbeutern der Dummbeit don
jeher gezeigt bat. So läßt der Mann der Wiſſenſchaft, um nicht felbft
Opfer fmarter Betrüger und Dadurch ®egenftand des Gefpdttes zu were
den, lieber die Hand davon, oder tat es wenigftens bis auf die jüngfte Zeit.
Nachdem aber die heutige phyſikaliſche Shemie Durch die Auflöfung Her
Elemente, Wolefiile, Atome in Gleftronen, denen fie Die eigentlide Maſſe
abfpridt und nur nod) Energie beläßt, Dem alten Schulmaterialismus den
Boden genommen Hat, ſcheint — trob des heutigen allerbrutalften Qebens-
materialigmus — Ausfidt vorhanden, dieſe ganze, materialiftiich durchaus
unerllärbare, ſeeliſche Phaͤnomenologie unter neue wiſſenſchaftliche Fore
{Hungspuntte zu rüden.
Das allgemeine Intereffe daran war dagegen ftets lebhaft und wird
e8 bleiben, ein Zeugnis für die innere und objeltine Wahrheit biefer Sr
[Heinungswelt. Nur Hiitet fich ber ®ebildete, aus dem gleichen ®runde wie
bisher der Mann der Wiſſenſchaft, Die Sade ſchließlich doch ernft zu
nehmen. Denn wer wird im Zeitalter der tednifden Wilfenfhaften und
Der modernen Geperimentalpfpdologie, die nur mit meßbaren, zählbaren,
us „Werten“ arbeiten, ernftlid an Hellfehungen und Behezungen
glauben
646
4.
Wie ift nun das Hellfehen, um uns auf den wichtigften Teil biefes un⸗
beimliden Begabungsfeldes zu befchränten, zu erflären?
Aus dem Kreis der Sinneswahrnehmungen zweifellos nicht, da es
fid um innere ®efihte zufünftiger, alfo zur Seit bes Erſcheinens
fogufagen im Nichts ſchwebender Ereigniffe handelt. Es find mithin Fabig-
feiten, deren Betätigungstraft in einer anderen Ebene als der der gewöhn«-
lichen an Zeit, Raum und Kaufalität gebundenen Wahrnehmungsfähigteit
fliegen muß. „Borftellbar“ ift das Hellfehen fomit an fid ebenfowenig, wie
es möglich ift, fid vorzuftellen, das Greigniffe gweimal gefcheben könnten,
einmal in der fogenannten Wirflidfeit, bas andre Mal bildmäßig por
Diefem Seitpunft, dabei nicht traumbaft-verfätwommen, fondern in voller
Plaftif und Lebensflarheit, etwa nad) Art eines Films auf der geiftigen
Band ber ihn erfchauenden Perfon. Denn unfer Sntelleft ift nun einmal
an das zeitliche Grfennen gebunden.
Sofort aber werden das SHellfehen und feine ®efichte felbft erbellt,
wenn toir fie unter den Kriterien der Rant-Sdopenbauerfden Bhilofophie
betradten. Schopenhauer fagt (in Kapitel 41 des zweiten Bandes don
„Wille und Borftellung*): „Das Subftrat oder die Ausfüllung, pleroma,
oder der Stoff der Gegenwart ift Durch alle Zeit eigentlich derfelbe. Die
Unmöglichkeit, diefe Identität unmittelbar zu erfennen, ift eben die Seit,
eine Gorm und Sdranfe unſres Sntellefts. Daß, permöge berfelben, 3. B.
bas Sufiinftige nod nicht ift, berubt auf einer Sdufdung, welder wir inne
werden, wenn es gefommen ift. Daß bie wefentlide Gorm unfres In«
tellefts eine folde Täuſchung berbeiführt, erflärt und rechtfertigt fid dare
aus, Daß der Sntelleft feineswegs gum Auffaffen des Wefens der Dinge,
fondern bloß zu dem der Motive, alfo gum Dienft einer individuellen und
zeitliden Willenserfcheinung aus den Händen der Natur herborgegangen
if.” Wir haben alfo in den bellfeberifhen Borgängen eine Beftatigung
ber Kantifhen Bernunfttritif durch das Phänomen. Ferner: wir find ge-
zwungen, zweierlei geiftige erfenntnismäßige Begabungen und Betati-
gungen anzunehmen: eine gewöhnliche, allen Menſchen gufommende, Die
mit dem an Seit, Raum, Kaufalität gebundenen Apparat der fünf Sinne
arbeitet, und daneben eine zweite außergewöhnliche, Die über fid in gang
andrer Ebene auswirtende bon Diefen Beichräntungen unabhängige, völlig
anders geartete Wahrnehmungsorgane verfügt. Daß diefe dem gewöhnlichen -
Menfden unheimlich erfdeinen, fommt daber, weil ihre Ergebniffe fid
Den aus dem gewöhnlichen Sinnesapparat abgeleiteten Anfdauungs- und
Begriffstomplezen nicht einfügen. Mit Redt nennt man daber folde Be⸗
gabungen, Die übrigens bon ihren Trägern durchweg als ein Danaergefchen?
Der Natur empfunden werden, offult und mbfterids, denn in dem tran-
faendentalen ®ebiet des Wtdfteriums wurzeln fie allerdings. Dabei cha-
rafterifieren fi das reine SHellfehen und die Hierber gebörigen tele-
patbifhen Fähigkeiten als paffive, in sid zwangsmäßige, während bie des
Bannens, Befpredens, Behezens und verwandte Gnergien der aftiven
Swillingsgone der Damonie zuzuweifen find.
647
—— ———— — ——— f
5.
Hat über die phpfifalifHe Srflarbarfeit diefer Begabungen die Wiſſen⸗
(daft, foweit es ihr möglich, bas letzte Wort gu [prechen, fo ift anderer⸗
feits in gleih hohem Maße die Bolfsfunde an ihnen intereffiert. Wir
baben uns bie Fragen vorzulegen: Wo, in welden Schichten und weldem
Umfang finden fie fic heute nod bor? Welde [ymptomatifche und welche
praltifche Bedeutung haben fie für unfer heutiges Bollstum?
Der Berbreitungsbezirt all biefer Fabigfeiten ift hauptſächlich auf
das Land und die Landbevölkerung befdrantt. Sie haben darin Ihre natire
lichen Wurzeln, was ja auch ganz begreiflich ift. Nur die Aderbau und ſon⸗
ftige Naturalwirtfchaft treibenden Bolfstreife — Bauern, Fifcher, Sager,
Biehgiidter und ähnliche Berufsangehörige — hängen noch unmittelbar mit
der Natur zufammen, zu denen fic Dann nod ber Seemann der älteren Seit
(nit mehr der Dampfermatroje) gefellen mag.
Wie diefe Kreife ben Hauptfi des fogenannten Aberglaubens bilden
(an dem allerdings bie nieberen ftädtifchen fraftigen Anteil haben), fo
erzeugen fid) andrerfeits aud nod heute dort Die echt bellfeberifchen und
verwandten Begabungen. Das ift ohne weiteres erflarlid, wenn man fic
porftellt, Daß es fic nidt um intellektuelle, fondern rein vitale Fabigleiten
banbelt, die mit den tier, pflanzen-, erdmagnetifchen Erjdeinungen eng
und ganz Iofal zufammenbhängen. In Urgeiten, wo fie fid bei der völligen
Berquidung des ganzen Dolfslebens mit der Natur felbftverftandlid weit
reicher und frdftiger gu entwideln vermocdhten, aweifelte Daher niemand an
ihrer Wirklichkeit, ſchätzte fie hod, infofern fie den Sharafter aktiver Heil
famer Kräfte oder weittragender Prophegeiungen annabmen und fchrieb
re Herkunft gdttlidem Alusfluffe gu (vgl. dle Merfeburger Zauber»
fprüde), während fie bei wahrfcheinlich ebenfo häufiger unfogialer Wire
fungsweife als daämoniſche Kräfte gelten.
Shriftentum und Kultur haben baber, ganz folgerichtig, mit dem Kreife
der alten Naturgottheiten aud) diefen ganzen Fähigkeiten⸗ und Kräfte»
fomplez als teuflifd oder Damonif in den Bann getan. Diefe Werte
[Hhabung ift, mutatis mutandis, aud) heute noch die geltende, woraus fid
wiederum erflart, daß Die Träger folder Begabungen fich nur felten und
ungern ben DBertretern der Bildung entfchleiern. Beifpielsweife Stille
gegenüber erft, nadbem man ihn Durch jahrelange Prüfung als zuver⸗
laffigen und getreuen Mann und feelifden Freund erfannt hatte, don Dem
man fid weder Unglaubigfeit nod Berfpottung zu verjehen Habe. Dann
allerdings fprudelte Diefer Born, aus dem ſchickſalhaften Grleben ber ee
währsperfonen beraus, in folder Fülle, daß er einen fidern Schluß auf
si > beute nod allgemeine und reidlide Borlommen tm andvolf
zuläßt.
In anderen, befonders in gebildeten und ftäbtifchen Kreifen Dagegen
wird man hellfeherifehe Begabungen verhältnismäßig felten antreffen. Wie
wäre Das aud möglih? In weldhem Lebenszentrum follten fie benn dem
normal oder übernormal „Bebildeten“ heute nod erwachſen fdnnen, nach⸗
dem ibm Die bundert- und taufendfaden Swangsfitiefel, Spfteme, Erklü⸗
gelungsapparate unfrer heutigen Erziebungstunft, Wiffenfchaft, Kultur, Die
Suggeftionen, Snfiltrationen, Berverfionen, Beſchwätzungen, Berdbummun-
648
QOMIIIAS wi agnyjusnvg, mpjiquage
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gen dur Politik, Mode, Reflame, Durch Theater-, Filme, Radios, Feuille-
ton» und fonftigen Seitungs- und Seitfitid die hm bon der Natur fo fein
und aufnabmefrob gelieferte Gebirn- und Seelenantenne fiir die eigentlich
wertvollen Lebensenergien: die der Natur felbft, der edlen Kunft und der
edten Religion mit dem tiefen Myſtizismus ihrer Träger und Schöpfer
zerftört Haben?
And das Bolt der Srohftädte? Wie follte es mit geiftigen Augen noch
„bell“jehen fonnen, da es mit den Lörperlichen ftatt des blauen Himmels nur
nod graue Bunftichicht, ftatt des grünen Waldes und blumiger Wiefen
nur nod gegen [mutige Dächer, Mauern und Pflafterfteine fieht?
Somit erhält auch diefer merfwürdige Begabungstreis, wie alle andern
dur) unfre SKulturentwidlung gum langjamen Abfterben verurteilten
Naturfrafte, für unfer Bolfsleben die ſymptomatiſche Bedeutung einer
ernften Warnung. Wir miiffen uns wieder einmal befinnen, wohin ung
der Seifter- und SHexentang der heutigen Zeit, viel gräßlicher als aller
noch im Untergrund des Bollstums umfreifender Hezen- und Seifterfpuf,
führen wird, wenn wir ung nicht Harmachen, wo wir jebt fdon fteben.
@ottlob, es maden fid ja Anzeichen bemerkbar, daß wir die Oroßſtadt
nur mehr als Note, nicht mehr als beherrſchenden fulturellen Faktor aner-
fennen und dulden wollen.
Die praktiſche Folgerung aus unferer Betrachtung wäre die, Daß Die
®ebildeten wieder mehr den Sufammenbang mit den landlid-bauerliden
Kreifen zu pflegen beginnen. Daß fie ihre blind gewordenen Augen Kräften
und Tatſachen Öffnen, die fie bei rechter Naddenffamfeit wieder Iebren, die
Sauberrunen des Lebens, ftatt aus Freund Wagners modernen druds,
film» und Titfchpapiernen Pergamenten aus den wunderbaren feelifden
@eheimidriften ber urewig-alten und -jungen Natur unmittelbar zu lefen.
Dann werben fie auch daraus eine Blutauffrifhung für bie eignen matt-
gewordenen Bebensträfte gewinnen. Bilhelm Poed.
Bauernfunft.
rwin Redslob, ber Reichskunſtwart, gibt feit einigen Jahren ein
Sammelwer! ,Deutide Bolfsfunft* beraus*. Die einzelnen Bände
werden bon Kennern der Heimatfunft, zum Teil bon den Leitern wichtiger
Heimatmufeen, verfaßt. Der Hauptwert ift auf reiches und gutgewähltes
Büldermaterial gelegt. Der Text wendet fid) nicht an bie Gelehrten, ſon⸗
dern an alle, die Seilnahme für die Golfsfunft haben oder Doch haben
follten, nicht gum wenigften an die Sanbdwerfer. Und wenn wir Diefer
Sammlung einen befonderen Auffat widmen, fo tun wir es gerade um
* Zm Delphin-PBerlag, Münden. Bisher 5 Bände. Bd. 1: Wilhelm Pefler,
Niederfadfen. Bd. 2: Werner Lindner, Warf Brandenburg.
Bd. 3: Maz Sreug, Die Rheinlande. Bd. 4: Hans Karlinger, Bahern.
Bd. 5: Karl Bröber, SHwaben. Die Bände haben je 32 bis 52 Seiten Sezt
und 156 bis 242 Bilder. Preis fartoniert je 7,50 We, in Bappband 8,50 Mik,
in Oanzleinen 9,50 ME. In Gorbereitung find Schlefien, Granfen, Thüringen,
ffen, Weftfalen, Gadfen, Elſaß. Hoffentlih [heut man fid nidt vor den
taatsgrengen der Potentaten und Diplomaten, die mit den Bol ls grenzen
42 Deulldes Doltstum 649
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deswillen, daß unfere Lefer nicht nur fic felbft unterrichten, fondern dafür
forgen, daß diefe Bande — fei es in Bolfshodjdulen, fei es in Fad-
furfen, fet es Durch Bibliothefen — an die Handwerfler Herangebradt
werden. Nicht gum „Nachmachen“, fondern zur Erwedung der ſchlummern⸗
den bolfhaften Bhantafie und zur Schulung des Qualitätsgefühls. Segen-
über dem technifhen Fortfchrittsdünfel, der nur gu leicht in Schund endet,
gilt es die Erfenntnis zu weden, die bon bedadtfamen alten Bauern, wenn
fie einem ein altes Stüd pom Bort oder aus dem Schapp bolen und
pormweifen, in Die Iangfam gefprodene Formel gefaßt zu werden pflegt:
„Ja, Die Alten haben a u ch was gefonnt“, oder: „Sowas Lönnen fie heute
nicht mehr.“
Die Entwidlung der Induftrie zwifchen 1870 und 1914 ging fo raſch
und glänzend vor fid, der Erſatz, den die Mafchine für die Handarbeit
bradte, war fo überwältigend, Daß fid) Das Gefühl einer Beitenwende
bis in die abfeitigften Dörfer hinein regte. Man unterfchied zwiichen den
„Altmodifhhen“ und denen, die „mit der Zeit geben“. Das Altmodifde
war nicht mehr wie in früheren Zeiten des Stilwandels das Wiirdevolle,
gu Dem man mit Scheu aufblidte und das nur den Alten ziemte, weil fie
eben aus alten Seiten famen, fondern es war nunmehr das Unpollfommene,
Laderlide, Beradtlide. Das — mit Zahn zu fpredhen — „Langfam-
wandelnde und Langdauernde“ verlor feine Autorität. So wurde aus dem
ewigen leifen Stilmandel der Geſchlechter eine Stilfataftrophe, in Dem das
nur Durch Generationen zuerwerbende Qualitätsge»
fühl für gut und [chledit, würdig und winbig, gediegen und fchundig,
geziemend und ungiemlid) weithin zerftört wurde. Das generative
Urteil der Boltsfitte wurde durch das inbivibuelle
aftbetifde Urteil erfest. An die Stelle objeftiver, überperſön⸗
lider ©eltungen trat die SHerrfchaft des nidts-als-jubjettiven ,@e-
ſchmacks“. (Es ift Dasfelbe Dünn- und Leerwerden des Urteils wie auf
politiidem ®ebiet: an bie Stelle der volkskonſervativen demofratifchen
Ideale mit ihrer Betonung des natürlich, gefhichtli und beruflich gee
gliederten Fonfreten Boltslebens trat das formaldemofratifche Ideal, das
nur abftrafte Individuen anerfannte. Derfelbe Vorgang ift auf andern
Lebensgebieten zu beobadten. Alle diefe Dinge hängen innerlich zufam-
men; es handelt fid nicht etwa nur um Außere Swangsldufigfeit, ſondern
um einen volkspſychologiſchen Sefamtprozeh. Die innere Notwendigteit
Desfelben aufzuzeigen, ift eine der Aufgaben meiner in Arbeit begriffenen
Morphologie des deutſchen Bolfes.)
Alle Tradition galt als überflüffig, ja ſchädlich, das Neue war felbft-
berrlid. Das Alte, fo ſchien es, mußte völlig verlorengehn; bas Neue
begründete ein neues, gugleid „praltifcheres“ und „ſchöneres“, zugleich
nidts zu tun haben. Wie man erfreuliderwetfe dag alemannifche alas einbezogen
at, fo gehören aud die Schweizer, Steiermärfer, Siebenbürger, Tiroler uft. ulw.
n ein foldes Werf. Auch wenn fid die Sournaliften der Neuen Biirider auf den
eigenfinnigen Kopf ftellen und mit den Beinen in der internationalen Zigaretten«
dunftluft {trampeln follten, fo ändert das nidhts an der Naturtatfache, daß die
Schwyzer Bauern ebenfogut deutide Bauern find wie die ſchwäbiſchen, branden-
Burgilhen ufw. Gin Gefamt bild der deutfchen Volkskunſt muß alle ©ebiete
deutiher Bauernfiedelung umfaffen.
650
einträglicheres und gefünderes Dafein. Aber wie nad jedem Raufd) fo
ftellte fic) auch nad) diefem Gortidrittsraufd ber Katenjammer ein. Die
Srniidterung ging bier und da fo weit, Daß fie in eine Renaiffance der
Romantif umjhlug. Man vergötterte das Alte und beradtete Das Neue.
Aber man muß fid hüten zu vergöttern und zu veradten, ehe man
far erfannt bat. (Sntuitionen und „Sinftellungen*“ find nod nicht
Grfenntniffe, fie müffen fid erft an der Durcharbeitung des Materials
bewähren.)
Als man nun ernücdhtert um fid blidte, fiebe, da war das Handwert
nicht ausgeftorben, fondern war trog mancher Umftellungen und Ans
paffungen nod immer als Handwert lebendig. Und die Bauernhöfe
waren nicht durd) zentralifierte Agrifulturfongerne erfeßt, fondern ftanden
immer nod) mit ihren Strohdächern und WPferdeftällen an ihrem Ort.
Immermanns weftfälifcher Hoffdulge war trok Dampfdrefdmafdine und
angebautem Automobilfchuppen nod) immer der Hofidulge und didfdpfige
Bauer. Handwerfer und Bauern nahmen zwar neue tednifde Hilfsmittel
an, aber fie verloren darübeFnicht ihr Handwerfertum und Bauerntum.
Nur ein Seil zerbrach innerlich an ber modernen Technik und wurde pro-
letarifiert oder verunternehmert, ein Zeil aber war ftarf genug, um im
Wandel zu bebarren.
Denn dem nicht fo wäre, dann wäre alle Bemühung um die Bolfs-
funft nichts als Mufeumsarbeit. Da es aber fo ift, ift es unzweifelhaft,
daß Bauerntum und SHandwerfertum fid als befondere Schichten neben
der Induftriefhihht behaupten Tönnen. Sie werden ihren eigenen
Lebensftil entwideln, weil fie ein Gigenleben führen werden. Diefer
Stil wird fic) entwideln aus Der Behauptung einer Tradition und aus
ber Berwendung deffen, was die Sednif an Wirtidaftsfirdernbem dar»
zubieten vermag. Darum gilt es, den Sei ft des Alten in den alten Din-
gen zu erfaffen, die Würde des „Langfamwandelnden und Langdauern-
ben“ wieberberzuftellen, um aus diefer zähen Kraft heraus das Neue affi-
milatorifd zu verarbeiten. Wir müffen gu einer fittenbaften, generativen
Ginftellung auf das Neue fommen.
Redslob fagt in feiner Einführung zu dem G©efamtwert, Heimat-
pflege und G®egenwartsforderungen miiffen fid ausgleiden. Wir
möchten den Ausgleid) dahin umfchreiben, daß wir als Erftes die ftarfe
ſeeliſche Beharrungstraft fchäßen, die „nicht totzufriegen“ ift, als Zweites
die wählende Klugheit, die fich nicht imponieren läßt, fondern genau Die
Werte prüft. Der Bauer foll den Wandel beherrfden, nicht ibm
unterliegen. Grft fo ergibt fich ein rechter Ausgleih. Wir ftimmen
Redslob zu, wenn er fortfährt: „Wir leben in einer Epode ftarfer Bee
finnung auf die Werte des Bollstums. Die fulturelle Entwidlung der Böl«
fer gebt nidt mehr auf einen verwafchenen Alerweltsinternationalismug
aus, man will bas ©®eficht jedes Bolles Har feben, [abt feine Kräfte
um fo mehr, je mehr Gigenart darin zum Ausdrud fommt, und ftrebt nad)
einem neuen Europa, nad einer neuen Welt, darin jedes Bol! um feiner
felbft willen geachtet wird.“
Nun aber fragt fi, was ,,Bolfstunft* fet. Sehen wir Die Bande
burd), fo zeigt fid, daß ein Earer Begriff davon nicht erreicht wird. Aus
42° 651
den Bildern wie aus den Texten geht ein Doppeltes herbor: Erſtens, man
handelt bor allem bon Bauernfunft, d. h. Kunft für Bauern oder
auc bon Bauern, zweitens, man behandelt die Kunft der Stämme des
deutfchen Bolles. Man faßt aljo ohne weitere methodifche Erwägungen
Das Gauerntiimlide und das Stammestiimlide als „Bollstum“.
Bon einzelnen Umfchreibungen des Begriffs heben wir hervor: „Vor⸗
liebe für Holge und Schnitzmotive, Freude am Flechten, ftarfer Zufammen-
bang mit der Natur und den bon ihr gegebenen Materialien, edige Kraft
ber Formen, eingebendfte Naturbeobadtung, bejonders alfo Neigung für
Sier- und Pflanzendarftellung fann man ganz allgemein als wefentlide
Züge der deutſchen Volkskunſt bezeichnen... Das wudtige Heraus-
wadjen aus der Gorm des Seländes gibt dem Schwarzwaldhaus ebenfo
wie der ftrobgededten Hütte tm Küftenland ein befonders deutiches Gee
präge. Bor allem aber ift die räumliche Behandlung, die viele Einbauten
liebt und im ®eftühl der Kirchen wie in Den einzelnen Räumen bes
Haufes gern wieder ein Haus im Haufe baut, überall Tennzeichnend.
... Daß unferem Bolle Baum und Wald vielleidt die höchlten Symbole
find". (Nedslob.) — , Bur Bollskunft gehört immer das Handwerkismäßig-
Naive, das Unverbildete; es fommt nicht auf den Ort an, wo es gefchaffen
ift, ob in der Stadt oder auf Dem Lande, fondern auf die Art, wie es ge-
Ichaffen ift; manches, was in Der Stadt entftand, ift echtefte Bolfsfunft,
weil es eben fürs Bolt gefdaffen tft.“ (Pepler.) — „Ws Drager Der
Bolfstunft gilt ohne weiteres das Landpolf in alter Seit, befonders das
freie Bauerntum, bas fic vieles pon feinem Wohn- und Wirtfhaftsbedarf
felbft ſchaffte. Aus dem Bürgertum wird vornehmlich das Heinftädtifche
Handwerk bon ehedem binzugerechnet, das hauptſächlich für andere arbei«
tet... Bolfsfunft ift bebarrlid, aber nicht ftarr, tft Findlich und aud wie»
der felbftjider. Sie abmt nad) und ift fchöpferifch zugleich, bat eine un-
endlide Greude am bemmungslofen Schmüden, aber ift fadlid im gleichen
Atem, ift gefühlvoll und innerlich, aber aud wieder nüchtern und Herb.
Sie vereinfadt Haratteriftifdh, thpifiert großzügig, ftilifiert unbedenklich
für fic, indem fie das eigene künſtleriſche Wollen eingliedert in Die Kette
des erfahrungsmäßig Gewonnenen. Sie faugt die Einfälle der boben
Kunft und der Zeitftile in fic auf, zieht bas Herdorftedhende und Außerge-
wöhnliche verallgemeinernd zu fid) herab und vermeidet Dod) dabei ge-
wöhnlih Sefdmadilofigfeiten. Der „Stil“ ift aud ihr nur Rahmen, nicht
Feſſel. Die Volkskunſt vergrdbert, ohne berabzumürdigen, fie übertreibt
zugleich, gewollt oder unbewuft, fühn bis ins ®rotesfe, ohne originell
um jeden Preis fein zu wollen, und fchafft Dadurch ganz Neueg, oft bon
überrafchend eindringlichem, geradezu unnadabmlidem Ausdrud. Diefe
Wirkung ift deshalb fo groß, weil Außerlihe GFormenregeln in den Wind
geichlagen werden, dafür aber volles Fingerjpigengefühl gediegene Werk
gerechtigfeit fichert.* (Lindner) — Die weiteren Bände geben nicht mehr
auf den allgemeinen Begriff der Bolfsfunft ein. Bei Sreuß jcheint eine
[wer faßbare myſtiſche AnfdHauung zugrunde zu liegen. Karlinger, bei
dem das Pſychologiſche mehr als bei den andern zur Geltung fommt, gibt
nur einige recht gute Bemerfungen über das bayrifhe Bauerntum im be-
fonderen.
652
Das Ergebnis tft: Man bat wohl einen Stoff, aber ift in Berlegen-
beit wegen feiner Abgrenzung. Man bat wohl eine Logik der Einteilung
und allerlei Methoden des Auffudens und Ordnens, aber Leine fpeziclle
Methode, die das Wiffenfdaftsgebiet als foldes begründet. Aber ift es
in der Kunftgefhichte (troh Wölfflinsg ,@rundbegriffen*) und in der Lite-
taturge[didte (trotz Scherer einft und ®undolf jebt) viel anders?
Ein wefentlider Grund der methodifden Berlegenheit fdHeint mir in
der ſchwankenden Bedeutung des Wortes „Boll“ zu liegen. Das Wort
„Bol“ beginnt aber gerade in den lebten Jahren eine fo beftimmte Be-
Deutung anzunehmen, daß man es immer fchwerer im Sinne bon „untere
Schichten“ oder „Bauern“ oder was immer verwenden Tann. Damit fpe-
zifiziert fid auch das Wort „Bollskunft“*. Man follte Daher lieber bon
Dauerntunft reden (troß der Mitwirfung THeinftädtifher Handwerker
und friderizianifcher Manufalturen, denn fie ſchufen für den Bauer, wäh»
rend die moderne Induftrie nidt „für“ den Bauer, fondern „auch für
ben Bauer“ fdafft), Die Bauernfunft wäre dann ein ähnlicher Begriff
wie biirgerlide Kunft, fiirftlide Kunft, kirchliche Kunft. Sie würde frei-
lid, eben weil fie BauernEunft ift, ihren befonderen Plab im Lebens-
ganzen des Bolfes und damit eine eigentiimlide Würde haben.
Das Sharalteriftifhe aber, das auszudrüden in den oben mitge-
teilten Auszügen verfudt wurde, fcheint mir auf bie Formel Unbefan-
genbeit gebradt werden zu fonnen. Nicht größere oder geringere Pri-
mitipitat, Gefdidlidfeit u. dgl. ift das Wefentlidde, fondern die Unbe-
fangenbeit, mit der man zu Werle gebt. Der Bauer ift der in feinen
naturbaften ebensformen (Sitte) unbefangene Menſch. Darum ift
er „ungebrochen“, „naiv“ in einem Sinne, in dem es weder Der Bürger nod
der Proletarier ift.
Daf} Redslob die Bauernfunft nicht nad Sadgegenftinden (Haus,
Sradt, Schmud uſw.) einteilte, fondern nad) Stämmen (und erft tnner-
balb der einzelnen Bande nad Gadfategorien), ift tief im Wefen Der
Dinge begründet. Innerhalb der Vollsindividualitat laffen fid, und bas
ift nadbenfenswert, Stammesinbivibualitäten fondern, und Diefe bilden
Sanadeiten, die alle Lebensäußerungen und alfo aud alle Kunftäußerun-
gen umfaffen. Darin beruht nun ein großer Reiz des vorliegenden Werkes,
daß man diefe Stammesindipidualitäten an den einzelnen Häufern, Sdran-
fen, Sradten, Sdpfen ufw. vergleideny ftudieren Tann. Gin Beifpiel
geben unfere vier Bilder. Man vergleide nur einmal bas verjchiedene
Rebensgefiihl, bas aus dem Bau der Stühle ſpricht. Man febe fid in
Sedantfen auf diefe Stühle, und man wird — ein verſchiedenes Lebens⸗
gefühl empfinden. Das ftarffte ®efühl der Würde und bebagliden Feier-
lidfeit wirb man bei den Stühlen aus dem Alten Lande (Clbmarfd bet
Hamburg) haben, fie feben breitbeiniges Auseinanderbiegen der Knie,
aufrechte Haltung des Oberlörpers mit einiger Neigung nad) hinten, brei«
tes Auflegen der Unterarme voraus. Aud) Haben diefe Stühle etwas
* Im neuen Sinne ftellte Arthur ilies, der urger Maler, in feinem
Bortrag die Frage: ,, Geithunft oder Vollskunſt Seine Ausführungen, die uns
pon grundlegender Bedeutung gu fein fcheinen, wurden in unfree Seitfdrift im
Maraheft 1921 veröffentlicht.
653
SHronartiges, fie können nicht bier oder dort, fondern nur an beftimmten
Stellen fteben. Den Außerften ©egenjat gegen dieſe Indipidualiftenftühle
bilden die — gleidjam — Kommuniftenftühle der wendifchen Bauern-
ftube mit ihrer anfprudslofen Veicdterfehbarfett. Oder man beadte Die
Rolle des Ofens, der bei den gemütlichen Oberdeutichen die Stube bes
berrfcht, aber bei ben referbierteren Norddeutichen, die nicht fo leicht und
eng „zufammenboden“ oder „tufcheln“, troß funftooll gemalter Kacheln
oder Gifenplatten mit dem Welfenroß für Das Auge zurüdtritt. Am ein-
Dringlichften aber [pricht das Raumgefühl aus den Stuben, Das ®eordnete
oder Wühlige, bas Gedampfte oder Heitere, das Kühle oder Warme
uf. Läßt man fid zu folden Sinfühlungen und DBergleiden anregen,
fo fommt man dem wefentlid) Bolfhaften näher, und alsdann erfüllt das
Werk feine Aufgabe am beiten. St.
Liebeslhrif im deutfchen Bolfslied.
„Solange e8 nicht eine greife Sugend gibt,
wird ftets das Liebeslied die Blume der Qprif fein.“
(Ludwig Uhland in feiner Abhandlung über das VGolfslied.)
ie bunte Bielgeftaltigfeit des Bollsgefanges und die Mannigfaltigfeit
der Namen, unter denen wir in unfern Sammlungen Die Bolfslieder
gruppiert finden, Tann nicht darüber binwegtäufchen, daß bas Liebeslied
recht eigentlid) Kern und Mitte unjerer Bolfslieddidtung ift. Im Liebes-
lied erjchließt und fpiegelt fic) im engften und eigentlichften Sinn bas Herz
des Volkes, und wenn es por allem Die alten Abjchieds- und Minnelieder
find, Die heute wieder bon der Jugend gefungen werden und uns in Wort
und Weife ergreifen und erheben, fo beweifen fie mit Diefer ihrer langen
Bebensdauer zugleich, Daß gerade in ihnen unvderginglide Werte Laut und
©eftalt gewonnen haben.
Daß pornehmlich die Liebe im Bolfslied die treibende und geftaltende
Kraft ift, und daß fid) das Wefen des Bolfsliedes im Liebeslied am boll-
kommenſten verlörpert, das ift natürlich und einleudtend und darum mehr
für felbftverftändlich hingenommen als befonders hervorgehoben worden.
Im Liebesgefühl finden wir, wie fonft nirgends in gleidem Maße, das
naturbafte und dag geiftige Wefen der Menfchenfeele in einem und im
innerften Punkt verkörpert und vereinigt. Hier ift im ganz befonderen Sinn
„der Kern der Natur Menfchen im Herzen“, und diefer Kern trägt zugleich
die Keim- und Nährkraft für das ganze Gefiihlsleben ber Seele in fic.
Aus ihm treibt und quillt das Sefühl nod unbewußt, unmittelbar und
abfichtslos, und wenn nad Rudolf Hildebrand der oberfte Wert des Volks⸗
liedes in der ,ungemadten, echten, treibenden Stimmung“ liegt, „Die im
Keime fist*, fo find gerade im Liebesgefühl bie Bedingungen für Diefe
Stimmung einzig vollfommen gegeben. In feinem Liebesleben fühlt fich
der Menfd am tiefften Dem Naturtriebe verhaftet, zugleich aber hebt ihn
Die Liebe in die reinften geiftigen Höhen empor, und Oottes- und Menfchen-
liebeinallihren Sormen tragen nicht zufällig ihren Namen. Liebeslieder
fingen die Bögel unter und die Gngel im Himmel, und im menſchlichen
Liebeslied ſchwingt unter- und übermenſchliches Grleben mit.
654
Kein Gefühl füllt fo ganz die Menfchenfeele, wie das Liebesgefühl,
feins ift fo allgemein und naturbaft urfprünglich in jeder Menfchenfeele
angelegt, und feins ift fo zeitlos unbedingt und ewig glei. Darum ift es
natürlich, daß die Seele guerft bon ibm im Sefange überfließt, daß fein
Ausdrud im Lied bon allen mit- und nachempfunden werden fann und
Daß das echte Liebeslied ewig jung bleibt. Damit aber haben wir Drei
Wefensmerfmale des Bolfsliedbes umfchrieben, die Dem Kunftliede, aud
wenn es Liebeslied tft, fo allgemein nicht zugeſprochen werden fönnen.
Wohl berühren fi Bolfs- und Kunftdichtung gerade im Liebeslied
am nädjften, und es ift nicht zufällig, Daß die im beften Sinne pollstümlichen
Igrifden Gedichte meiftens Liebeslieder find. Aber wie es im Wefen ber
Kunſtlyrik überhaupt liegt, das individuell Bedingte, Befondere, fo nod
nicht ®efagte und Geftaltete auszufprechen, fo fudt aud das Liebesgedicht
pornebmlid die befonders geartete, Durch die Dichterperjönlichkeit ſubjektiv
bedingte Gmpfindungsweife gum Ausdrud zu bringen. Werden dadurd
oft auch unergründete Siefen der Menfchenjeele offenbart, fo beweift dod
gerade wieder unfere moderne Lbrif, wie leicht Damit Die ®renze des
Bathologifchen geftreift und überfchritten wird. Zu all dem ftebt nun das
BGolfslied in völligem Gegenſatz. Es will nichts Neues, nichts Befonderes
in befonderer Weife fagen, fondern das allgemein und glei Smpfundene
in einer allen verftändlihen Sprache ausdrüden. Die Liebe im Bolfslied
ift Die eine, alte, ewige, fich ftets gleichhleibende, bon der es nichts Neues
zu fagen und zu erzählen gibt, bie aber das Leben und die Menfchenfeele
immer wieder erneut und verjüngt und Darum gum unmittelbaren Grflingen
Bringt, und zum [dlidt-natiirliden, abfidts- und anfprudslofen Ausdrud
tm Wort drängt.
Darin alfo, daß bas Bolfslied das das Herz bewegende Oefühl un-
mittelbar in Tönen ausklingen läßt, und aud im Wort als Gefühlsaus⸗
drud nichts fagt und mitteilt, was Dem Hörer nicht {don befannt und ver»
traut ift, fönnte man es lyriſcher als die Lyrik der Kunftdichtung nennen.
Und doch offenbart es gerade darin wieder einen ©rundgug feines Wefens,
Daß es fic des epifhen Sewandes, das urfpriinglid aller Bolfsdidtung
eigen war, nie völlig entfleidet. So beginnen die meiften Bolfslieder ere
zäblend, oder Inüpfen doch den Sefiiblsausdrud immer wieder an ein
fleines Bild oder Begebnis. Gs entipricht der Gegenftandlidfeit aller
Bollsdichtung und wiegt den mufifalijd unanfhauliden Ausdrud er»
gänzenb auf, daß das Volkslied gern in [haus und greifbaren Bildern und
Begebenheiten geftaltet. Diefe epifhe Sinkleidung entipringt aber gue
gleich der feufchen Scheu, das eigene Gefühl in nadten Worten ausgu-
{preden. Darum erzählt der primitive Menſch, wenn ihn die Liebe bee
wegt und zur Seftaltung treibt, eine Gefdidte bon zwei Liebenden, ohne
fic deffen bewußt gu fein, daß er feinem eigenen ®efühl Ausdrud gibt,
und darum fucht aud der Bolfsliedjanger fein ®efühl, Indem er es laut
werden läßt, gugleid auf jede Weife zu mastieren.
Denn nicht nur in der epifchen Berfchleierung gibt sid die fhambafte
Gurdt por Entblößung bes ®efühls im begrifflichen und begreifliden Wort
fund, fondern fie Durdwaltet das ganze Wefen des Bollsliedes und drückt
ibm recht eigentlich feinen Stempel auf. Mit ihr hängt aud) die viel bew
655
adtete, aber felten erflärte Satfade gufammen, daß das Bolfslied nie ge-
{proden, fondern ftets gefungen wird, daß Wort und Weife fo unlösbar
miteinander verfnüpft find, Daß eins ohne Das andere nicht gedadt werden
fann und nicht gedacht werden darf.
Schon daß der Schöpfer des Bolfsliebes gezwungen war, fein Lied
— anders als der ſchreibende Dichter — bor feinen Hörern laut werden zu
laffen, läßt es uns verftehen, daß er zum Sänger werden mußte. Wem
bas Welen des Bolfsliedbes vertraut ift, Der empfindet es unmittelbar, Daß
für Den urfprünglichen Sänger des Bolfsliedes ein Herjagen im nüchternen
nadten Wort als Gntweibung und Entblößung und Darum als ungulangli&
und unmöglich ericheinen mußte. Der Gefang dagegen, Der wefentlid
Klang und Rhythmus ift und Dem gehobenen und beichwingten ®efühls-
leben entipricht, ift Ausdrud und bergende Hülle zugleih. Darum fennt
Das Golf nur den Gefang als Sprache des lyriſchen ®efühlsausdruds. Gr
allein hebt fic) deutlich genug bon der Alltagsipradhe ab, beſchwingt und
dedt zugleih das Wort und erhebt es in Die mujifalifche, bas Gefühl
unmittelbar ausdrüdende und anfpredende Sphäre. Wenn Rodus von
Riliencron fagt: „Die Liebe im Bolfslied tft weſentlich mufilalifch“, fo
deutet er damit an, daß ihr Der unbeftimmte und allgemeine mufilalifche
Ausdrud, der fid) nicht tm verſtändlichen und begreifliden Wort verrät,
durchaus ent{[pridt. |
Ebenfowenig freilid wie das Wort ohne Weife ift die Melodie des
Golfsliedes als ein Lied ohne Worte zu Denken; denn ein allein mufifa-
lifder, ins Allgemeine und Unbeftimmte zerfließender ®efühlsausdrud
würde dem gejunden gegenftanbdliden Sinn bes Bolfes nie genügen
fönnen. Aber indem Has gedichtete Wort fid gleidjam immer des ere
gänzenden Ausdruds durch die tm Sefang erllingende Weife bewußt war,
fic alfo befcheiden guriidbalten durfte, gewann es eine ſchlichte und zarte
Snnigfeit und Anfprucslofigfeit, und wieder, ba es fid) durch den tm
Borbergrund ftehenden ®efang gededt wußte, fein natürlich offenes, gerade
im friſch finnliden naturwahren Ausdrud unfchuldig reines Wefen. Aud
daß man von feinem Pichter des Bolfsliedes weiß und es nie mit Dem
Anfprud auftrat, als das Werf einer Dichterperfönlichkeit gewürdigt zu
werden, erklärt fid) zum Zeil Daraus, daß es fingend entftand und fingend
weitergegeben wurde. Seinem Schöpfer und erften Sänger wurde das Lied,
fobald es erflang, nadgefungen, und fo wurde es ibm, der es gleidfam
als einen anderen ®ebraudsgegenftand für Den überall geübten Bolls-
gefang und Bolfstang gefchaffen hatte, buchftäbli bom Munde wegge-
nommen. G8 gehörte nun feinem mehr und gehörte Dod jedem, der es fingen
fonnte, gehörte allen, die es bei Sang und Reigen erklingen ließen. Go
tritt der Dichter völlig in den Hintergrund, und wenn man überhaupt don
einer Kunft fprechen darf, fo nur bon ber Kunft des Gefanges, bie jeder
gu üben vermochte, dem fie bon Gott und Mutter Natur in bie Wiege gelegt
worden war. Wenn man aber das Lied fang, oder gar tanzte, es im mit-
und nachſchaffenden Tun und im befchwingten Rhythmus Hes Körpers
ergriff, fo befaß man es leibhaftig.
So bemädtigte fid das fingende Bolt feines Liedes, an Hem es dod
aud {don vor feiner lebten dichterifchen ®eftaltung einen befonderen An⸗
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teil hatte. Wan fühlt es diefen Liedern felbft noch ab, daß fie pielmehr
aus dem Bolfsleben Herborgewadfen, als im heutigen Sinne gedichtet
worden find. Nicht nur, Daß der Volksliedſchöpfer fi mit dem ganzen
Bolfe in gleicher Welt- und Lebensanjdauung und in derjelben poetifchen
Dent- und Smpfindungsweife verbunden fühlte — in Der „inwohnenden
allgemeinen @rundftimmung, jenem alles Bolfsleben burdftrdmenden
Quell der Poefie*, von dem ſchon Ludwig Uhland meint, man lönne zwei»
feln, ob er nicht höher anzufchlagen fei als die fertigen Seftaltungen der
Lieder —, nein, Darüber hinaus war felbft die ſprachlich Dichterifche Geftal-
tung bor Der eigentlichen legten Gormung zum Liede [don im gewiffen Grade
borweggenommen. Gs treten uns in den Bolfsliedern in Worten und
Wendungen immer wieder Diejelben poetijchen Symbole entgegen, Die
offenbar in der Bollsfprache [don als geprägte Münze umliefen. Man dente
beifpielsweife nur an die Blumen- und Garbenfprade der Liebeslieder,
Die Dod auch außerhalb dieſer Dichtung im Bolf lebendig und jedermann
geläufig war. Und wenn wir aud) nicht ent|cheiden finnen, ob Die poetifchen
Gormen mehr aus der Bolfsdidtung in bie Volksſprache oder mehr aus
Diefer in jene übergingen, fo läßt das Dod jedenfalls auf eine innige
Wechſelwirkung zwijchen beiden fdliefen. Bedenkt man dazu, wie über-
reich Der Schab der Lieder war, die im Gedächtnis und im Sefang des
Bolfes lebendig waren, fo fann man fügli bon einer Vollksliedſprache
fpreden, in der ſich das ganze Boll verftand und die es als fein freies
Eigentum beberrichte.
Das Bolt hat alfo die dichterifche SGeftaltung feines Liedes offenbar
nicht bloß negativ Durch Serfingen und Vergeſſen beeinflußt; es [uf aud
poſitiv daran mit, und das Wort, daß das Volk fic fein Lied, wie eine an»
Dere Sprache, felbft gefhaffen babe, birgt immer noch mehr als ein Körm-
hen Wahrheit. In diefem faft unbeabfidtigten und unbewußten Herbor-
wachſen des Liedes aus Bolfsleben und Bolfsfprade finden wir einen
@rund mehr für jene ſchlichte An[prudslofigkeit des Bolfsliedes, das fich
feiner Schönheit und feines Wortes nicht bewußt ift, und uns darum als
„eine Kunft ohne Kunft* anmutet.
Diefe innige Berbundenheit bes Liedes mit dem Bolfsleben, das
in feiner tiefen und quellfrifmen nature und volfsgefunden Empfindungs-
weife unmittelbar aus ihm berausleudtet und heraustlingt, ift es por allem,
die uns fo erquidend und bezaubernd aus unjern alten Deutjchen Liebes-
liedern anfpridt. Sie weden unwillfiirlid) Die Sehnſucht nad einer Zeit,
in der fie gleich [chönen Blumen auf dem Boden des Bolfstums empor-
wuchfen, in der fie nidt — wie bon uns heute — bewundert, fondern bon
allen Bollsfhichten und in allen Deutfchen ®auen gefungen, getanzt und
gefpielt wurden. Die bon uns ausgewählten Lieder ftammen faft aus-
nabmslos aus Handichriften und Druden des 16. Jahrhunderts, der Zeit,
in der das deutfhe Bolt hie letzte Blüte feines Bolfsgefanges erlebte.
Nad dem Niedergang des Minnefanges, in dem fic der Ritterftand
bom Bolte losgeldft hatte, und bor der endgültigen Trennung einer oberen
Bilbungs[hidt bom „Volke“ und dem Auftreten der neuen literarijden
* Siehe Srlefenes.
657
Kunftlieddidtung, hatte fid im 15. und 16. Jahrhundert noch einmal Das
ganze Bolf im gemeinfamen Lied gefunden. Darum fennen wir das
Volkslied im Bollfinne Des Wortes nur aus dieſer Zeit. Bor Die Zeit bes
Minnefanges — Ubland nimmt gerade für bas 12. Jabrbundert die eigent-
lide Blüte des Bolfsliedes an — reicht unfere Kenntnis aus Mangel an
Quellen nicht zurüd, obwohl fider mandes unferer alten im 15. oder 16.
Jahrhundert aufgezeichneten Lieder aus jenen früheren Jahrhunderten
überliefert worden ift. Wad dem 16. Gabrbundert aber hat fic die tren-
nende Kluft, die fich gwifden den beiden Schichten des Bolfes auftat,
nicht mehr gefdloffen, und was wir feitdem als Volkslied fennen, ift Das
Lied der unteren, bon jener Bildung wenig oder gar nicht berührten Bolls-
hit. Daß das Volkslied Durch dies Herabfinfen und dieje Zurüddrän«-
gung einer allmabliden Berarmung verfallen mußte und verfiel, weil ibm
mit der Derbreitung der Schulbildung immer größere Zeile Des Bolfes
fern und fremd blieben, beftätigt jeder Bergleich jener alten mit den neueren
Bollsliedern. Wohl blidt uns aud von Diefen nod eins und das an-
dere in rührend ſchlichter Schönheit an, aber fie find Dod) nur verlorene
Blüten am abgeftorbenen Baum. Daß wir in den alten Bolfsliedern den
ungeteilten Herzichlag und den natürlichen Seelenadel des Bolfes als eines
Oanzen fpüren, das madt fie uns erft pollwertig, und wir feben darin
ein verheißungspolles Omen, daß unfere Gugend heute immer zielbewuß-
ter den Anfchluß jucht an den Geift Des Bolfsliedes und feiner mufifae
lifhen Kultur, in dem zum lebten Male unfer ganzes Bolf den Ausdrud
gemeinfamen Wefens fand. Das Bolfslied ift feit Jahrhunderten nicht
mehr unfer im Sinne der lebendigen Wechſelwirkung zwijchen Lied und
Doltsleben. Gs ift Erbgut für ung geworden, das es in ernftem Bemühen,
in innerer Gmporläuterung zu feinem Geifte neu zu erwerben gilt. Daß fid
in ihm ſchlichteſte Bolfsnatur und höchſte Kultur zu finden vermögen,
beweift die Zeit des 16. Jahrhunderts, in der es nicht nur in feinen mufi-
falifch treffliden Weifen pom ganzen Bolt gefungen, fondern aud) in den
funftpollen Säben feiner großen Shormeifter* an den Giirftenbifen porge-
tragen wurde und gleicherweije im gefelligen Berfebr der Häujer in den
bürgerlichen Kreifen erflang.
Wenden wir uns nun zu der kleinen Ausleje unjerer Liebeslieder, fo
mag zunädft an ihnen anfdaulid werden, wie alle bon dem tiefen Ein»
verftändnis Des Herzens mit der Natur zeugen und wie faft ein jedes
den allen eigenen innigen Ausdrud nur in der Berfdmelgung der Emp⸗
findung mit einem Naturbilde findet. Sonne und Sommer, Schnee und
Winter, Mat und Blumen, Nachtigall und andere Waldvdglein, die tih-
Ien DBrünnlein „die da fließen“, der grüne Wald und die Liebes- und
®oldmühle darin, das ſchwimmende Hirfdlein mit dem ©oldringlein im
Wunde — das alles find Die frifchlebendig empfundenen Naturfombole,
in Denen fid) Olid und Sehnfudt des Tiebenden Herzens (f. die erfte Gruppe
unferer Auswahl) hell widerfpiegelt und in leuchtender und doch zart und
[Hin verfchleiernder Bildfprache zu uns fpridt. Aber aud das Liebes.
leid findet in den tiefen, trennenden Waffern, in dem durds Tchnittreife
* Siehe die Notenbeilage diefes Heftes.
658
Korn raufdende Sichlein, in der teilnehmend mittrauernden Linbe, in den
berabfallenden Röglein feinen Herzensfpiegel und feine natürlich fchöne
und ergreifende Bildſprache. Und wieder Kleider ſich Die Abſchiedsklage
(dritte Gruppe) in die zugleich [piegelnden und dedenden Bilder bon der
dunflen Wolfe, dem „Regen aus den Wolfen wohl in das grüne Gras",
dem endlofen Ritt über die einjame Heide, den erfrorenen Blümlein im
Liebesgarten.
Aber all diefe Bilder find doch nur fdine Ginfleidbung eines tiefen,
in feinem Liebesglüd und Liebesleid nidt nur nature, fondern gleich“
zeitig gottverbundenen Giiblens, das in feiner frommen Ginfalt aud une
ausgejprochen überall jpürbar, {id Doch immer wieder unbewußt und ab»
ſichtslos auf Die Lippen drängt. „Sotts Wille muß ergehen — Gotts Wille
ift ergangen“, ,@®ott weiß wohl, wem ids will“, „Iaß uns der lieb ©ott
wachſen“, „grüß fie mir ©ott im Herzen“, „wollt ©ott, ich hätt den Schlüf-
fel“ — fo flingts ergeben und dankbar, heimlich froblodend und bittend,
innerlich jaudgend und ſchalkhaft fcherzend Durch die glüdlich froben Lies
der, , Ad) Gott", „Hilf Gott“ feufzt es aus den Hagenden. Natur- und
Öottesgefühl find im BolfsliedD eins und untrennbar, überall fpürt man
in ihm „Den Schöpfer, der, über dem Ganjgen waltend, die Nenjchenfeele
mit Der ſchönen Natur zum Ginflang verbunden Hat und damit fic felbft
dem empfangliden Sinne ftiindlid) nabebringt* (Ubland).
Wenn nun aud) Liebesglüd, Liebesleid und Abfdiedstlage fic in
Diefen Liedern immer wiederbholen, fo flingt Doch aus einem jeden ein eige-
ner Sergenston fo voll und warm heraus, daß er in Wort und Weife
unmittelbar zu jedem empfänglichen ®emüt fpridt. Wir beichränten uns
darum darauf, nur nod an einigen Liedern gu zeigen, wie fid in ihnen nod
beute — aud) nad) der Feftlegung in Schrift und Drud — das ftets wandel-
Bare Leben bes Bolfsliedes fpiegelt.
Das Liedbden „Schein uns, du liebe Sonne“ ift in feiner
Quelle dem Liede „Dort nieden in jenem Holge* angehängt.
Erft Ahland Töfte dieſe ficher nicht urfprüngliche BerbindDung, die aber
immerbin aud ein Lebensftadium beider Lieder bedeutet. Mir bat fid am
erftgenannten Liede in eigener Grfabrung beftätigt, wie leicht fid im
Bolfsmund der Wortlaut eines Liedes ändern fann. Als ich mir bas Lied,
ohne den Text zur Hand zu haben, ins Sedadtnis guriidrufen wollte,
ftellte fic für bie beiden mir auffallenden Schlußzeilen unwillfürlich fol-
gender Schluß aus einem anderen Bolfslied ein: „Mein Lieb Hat mid
umfangen, nun Winter beißt’s ade“. Er paßt erftaunlid gut in den Zus
fammenbang und fdafft fogar faubere Reime. Dennoch fühlen wir, wie
Durch den leichteren Ton und die glattere Form ein gut Stüd von Der tiefen
Sreuberzigfeit bes Lieddens verlorengebt.
Gon „MitLufttätihaugreiten“ geben wir abfidtlid die voll»
ftändige Faſſung der Quelle, obgleich Die gefiirgte Form bei Whland, Die
mit der dritten Strophe fchließt „das foll bes Jägers fein“, ſicher urfprüng-
lider und fchöner ift. Aber der Vergleich fann zeigen, wie die Singjeligteit
des Bollsmundes ein Lieb gern in die Lange zieht, und dem urj[priinglt-
den Sext oft ziemlich nichtsfagende Strophen anhängt. Auch über den
Bolkslieddichter fagt die beliebte Gorm der Schlußftrophe (Hier die bore
659
lebte) nichts oder doch nidts Sicheres. Auch wir haben bei verfdiedenen
Texten unferer Auslefe folde Strophen fortfallen Iaffen.
Die vier Lieder Her zweiten ®ruppe laffen nod) Deutlich ihre epifche
Herkunft fpüren. „Ab EIslein“ erinnert an das tragijche Lied bon den
zwei Königskindern, bie nicht zueinander fommen fonnten, und fcheint die
Iprifhe Form und den trdftliden Schluß erft in fpäterer Zeit gewonnen gu
baben. „Es gingen zwei Befpielen gut“ findet fidh aud in einer
neunftropbigen Faſſung im Grfurter Liederbud) bon 1582. Dort fest fid Der
Sext nach der dritten Strophe, die mit ben Worten „Daraus fonnen wir
uns nit teilen“ fchließt, fort, und endigt Damit, daß Der Knabe, der das
Zwiegeſpräch belaufdt bat, bas arme der zwei ®efpielen Dem reichen bors
giebt. Wir feben, wie Hier das Lied nach einer befriedigenden Löfung
ftrebt, Dadurch aber feine ergreifende Wirkung einbüßt. Aud „IH bört
ein Gidlein rauſchen? wurde einft in einer ausführlichen Faſſung
gefungen. Wir ftimmen aber Rochus bon Liliencron zu, wenn er ber»
mutet, daß das Lied, als es „nod) etwa 10 oder 15 Strophen hatte, ſchwerlich
bon fo tounderlieblider Wirkung war, als mit feinen vereinfamten Drei
Strophen.“ Liliencron weift in Diefem Zufammenbang darauf bin, daß all
Das, was man für wefentlide Sigenichaften des Bolfsliedes zu halten
pflegt, „das Sragmentarifche, Abgerijfene, Springende, mehr Andeutende
als Ausführende, ja, das oft begegnende Dunkle, Berworrene, Wider-
ſprechende“ erft allmablid) im Laufe der Zeit entftanden fei, „wenn Die
Bolfslieder bon Mund zu Mund gegangen, von Geſchlecht zu Gefdledt
gewandert find“, und Inüpft Daran die Bemerkung: „Aeußerli muß man
fagen, fie (die genannten Gigenfdaften) beruben auf allmablider Bere
derbnis des urfpriingliden Seztes; aber freilich nur aduferlid. Denn ge-
rabe Hier bewährt und zeigt fid jene mbdftifhe Perfdnlidfeit des fingen-
ben Bolfes auf tounderfame Art, indem diefe allmablide Umformung,
Die das Zufällige und Unwefentlide abwirft, bas Dauernde und Wefent-
Tide gu ftarferer Wirfung Heraushebt, den DBolfsliedern oft gerade erft
den größten Reiz verleiht.“ So gewinnt aud „Ss ftehteine Vind in
jenem Tal“ erft in unferer bon 10 auf 3 Strophen verkürzten ©eftalt
feine rührend ergreifende Wirkung.
Unter den Abfchiedgliedern bringen wir als Beifpiel eines fogenannten
Tages oder Wächterliedes „Der Morgenfterniftaufgegangen.“
Aud dazu mödten wir ein Wort bon Rochus von Liliencron bierber-
feten: „Das Wächterlied, welches eine eigene ſcharf abgegrenzte Sattung
bildet, ftammt zwar gunddft aus dem höfiſchen ®efang und Hat die dort
ausgeprägte Art und Weife unter dem Einfluß romanifder Poefie er-
halten. Gleichwohl dürfte es feinen Urfprung vielmehr in dem älteren
deutſchen Bolfsliede haben. So fehrte es Denn auch nad dem Ablauf ber
böfifchen Seit gum Bolle als eine fehr beliebte Form zurüd. Gein Inhalt
ift unter allen Bartationen immer in der Hauptfache berfelbe: die heim-
lid Liebenden, bom treuen Turmwart bebiitet, ruhen beieinander; Der
Wächter verfündet den anbrechenden Tag; es ift Beit, fich zu hüten; die
Liebende wedt den fhlafenden Bublen und nun geht es unter fehnfiidtigen
Klagen an ein trauriges Scheiden. Man hat an dem Stoffe Anftoß ge»
nommen, als ob er unfittlich fei; in der Sat wird er oft in einer Die feine
660
Linie der Zucht überipringenden Weife ins Lüfterne ausgemalt. Ander-
wärts aber erfdeint er in fo reigend unfchuldiger Faffung, daß man ihm
richt durch die allzu realiftifche Ausdeutung als einer verbotenen Liebe
gu nahe treten darf. Die Liebe ift Hier gewiffermaßen Iosgelöft bon jeder
Stage der äußeren Gittlidfeit, als Blüte des irdifchen Menfchenlebens
gefaßt, um das, worauf es abgefeben ift, bie Klage des Scheideng in rück⸗
fictslofer Innigkeit berborquellen zu laffen. Diefe Wächterlieder find
Darum zur typiſchen Gorm für den Trennungsfchmerz der Liebenden ge-
worden.“
Lnfer Lied ift eine Uebertragung aus dem Niederbeutfchen. Der platt-
Deutfche Sezt, den wir bei „Alpers, Die alten nieberbeutichen Volkslieder“
finden, bat 7 Strophen, und wieder lehrt der Bergleid, daß aud bdiefe
gefiirgte Uebertragung aus unferen Sagen (jie ftammt bon Franz Wüllner)
wenigftens Inrifcher ift als Der niederdeutiche Text. Und wenn dort „Dat
Megdelin ein ſchneewitt Beddelafen toreet, Darmit fe den Held aber de
Müren leet“, fo Elingt das, wenn es auch naider und urfpriinglider fein
mag, für unjer Smpfinden doch reichlich „Liebesabenteuerlih“ und läßt
leicht jene „realifche Ausdeutung“ auffommen.
Den erft fpät aufgezeichneten Text von ,Da Droben auf jenem
Berge” bringen wir am Schluß unferer fonft nur älteren Quellen ents
nommenen Sezte als Beijpiel eines Liedes, das fic, pom Bolfe nad feinem
Munde guredtgefungen, bis in unfere Zeit (in Weftfalen) Iebendig erhalten
bat. Daß die vielfachen Anklange Anleihen aus verſchiedenen andern Lie-
dern verraten, Daß alte Bollsliedmotive umgebogen wurden (fiebe bas
zerbrochene Mübhlrad), daß die Bolksliedfprache in ihm verfladt erjcheint
(fiehe den Schluß der 2. und den Anfang der 3. Strophe) wird man leicht
beraushören. Dennoch ift der echte alte Volkston noch in ihm lebendig und
rührt aud in unjerer Seele die Saiten, die nur erklingen, wenn Klänge aus
jugendlidheren Tagen unjeres Bolfes fie gum Mitſchwingen bringen. So
mag uns das Lied gufammen mit den ihm poranftehenden zeigen, was war
und was blieb, und uns gemabnen, bor allem aus den alten reinen und
tiefen Quellen gu fchöpfen, die uns noch heute gu Jung⸗ und ®efundbrunnen
werden fönnen.
Gern hätten wir zu jedem Tezt feine Weife hingugefebt, wenn es fid
nit aus drudtednifen Oründen verboten hatte. Dod) fügt es fic gliid-
lid, daß wir mit nur zwei Ausnahmen fämtliche Lieder unferer Auswahl
mit ihren Melodien im 8. Heft („Alles um Liebe“) der jüngft bon Fritz
öde bei ®eorg Kallmebher herausgegebenen „Mufilantenlieder“,
finden, die uns erft nachträglich in Die Hand fielen. Gs ift gewiß fein
Zufall, daß in diefer Sammlung von Liebesliedern aud) unfere aus bers
ſchiedenen Boltsliedfammlungen zufammengelefene Auswahl faft voll⸗
ftändig vertreten ift. Wir verweifen übrigens warm empfeblend auf Dieje
einzig fdine, billige und überaus reichhaltige Sammlung des deutfchen
Liedes. Rund 600 Lieder, vorwiegend echte Volkslieder und daneben Die
beften volfstiimliden, werden uns in den 9 fchmuden Heften dieſer Mufi-
fantenlieder, Durch{dnittlid) reichlich 60 Lieder in jedem, für den erftaun-
lid geringen Preis bon 50 Pfennigen für bas Heft, bon 5,50 Wark für
den ganzen Band, geboten. Bor allem aber bitten wir, unfere Auslefe nicht
661
nur „literarifch zu genießen“, fondern biefen Liedern ihr urfpriinglides
und volles Leben im Gefang wiederzugeben. Außer „Die Brünnlein,
Die da fließen“, von dem wir die alte Weife nebft ein paar anderen
in der Notenbeilage diejes Heftes finden, und „Ab Bott, wie weh
tut [heiden“ fehlt feines unferer Lieder in Dem erwähnten fo leicht
zugänglichen Heft. Stanz Heyden.
Das muſikaliſche Bolfslied.
U ud) ©attungsbezeichnungen haben ihre Sdidjale und nirgends mehr
als in der lebendigen Kunft. Und eben in dem fteten Wechfel der Be-
Deutung folder Srunbbegriffe liegt eigentlich das Darftellungsmittel jeder
Kunſtgeſchichtsſchreibung. Am deutlichiten wird dies noch immer in Der
Entwidlung der Mufil gu verfolgen fein: bier, wo Die „Begrifflojigfeit“
zum innerften Weſen gehört, wandeln fid) Name und Art in verwirrender
Lebensfiille. ES gehört darum aud) zu den fchwierigften Aufgaben jedes
Lehrers, Klarheit und Ueberfidt in den Gefamtgang zu bringen und den
Lernenden bor Selbfttäufchungen auf Grund bon Namensverwedflungen
gu bewahren. Da gibt es „Sequenzen“, einft Die Begeidnung für friib-
chriſtliche hymniſche Didtungen auf SHalleluja-Fubilationen, Heute Der
Gadhausdrud für motivifhe Riidungen. Oder ,,Sabulaturen“, zuerft Die
Oriffacidenfdrift für Lauten und Tafteninftrumente, {pater das mufie
kaliſch⸗poetiſche Regelbud) der Meifterfinger. Oder endlid „Kadenzen“,
früher Schlußformeln, danach Brabourpaffagen-Epifoden in Inftrumental«-
fongerten. Ja, felbft Dort, wo Der Sattungsbegriff derfelbe bleibt, wandelt
fic) feine Bedeutung bon Spode zu Epoche: was zur Zeit der Benezianer
alg „Sonate“ galt, ift heute weltenfern davon gefchieden. Was die Ro-
mantifer unter Demfelben Worte begriffen, gilt nicht für die Klaffifer, gilt
aud) nicht mehr für uns.
Go ift denn aud bas „Volkslied“ ein Sdmergensfind für den, Der
flare, feft umreißbare Bezeichnungen liebt. In Die Literatur erft Durch
Herder eingeführt, beftand das Wort für die Mufit ſchon längft, aber eben
Darum in taufendfaltiger Abwandlung. Erkennt man drei Abarten bes
mufilaliihen Bolfslieds: das im Bolfe entftandene, Das ins Bolf gedrun-
gene und zuletzt das funftmapig ans Bolfstum fid anlehnende, fo dber-
dankt die Iebtere ©attung ihr Entſtehen Herders Zeitgenofjen, dem Bere
liner Schulz, deſſen „Lieder im Bolfston“ bon 1782 an erfdienen. Die
gegenfeitige Durchdringung der erften beiden Arten ift fo alt wie die Runft
felbft: wie Die altgriehiihe Mufiferfdule bon Lesbos, fo fuchten und
fanden die gelehrten Romponiften Der niederländifchen, der franzöfifchen,
der deutſchen Schule in vollstümliden Weifen geeignete Elemente zur
funftbolleren Bearbeitung.
Amfo erftaunlider bleibt es, wenn bon jeher gegen das vollsmäßige
Lied als „Selbftzwed“ eine verddtlide Herabfegung angewendet worden
ift: Ariftophanes, der attif he Romddiendidter und in ber Politif wie der
Kunft gleich reaftiondr, freidet es Bem berbaften Meifter der „bürger-
lihen Tragödie”, Guripides, ſchwer an, daß er auch als Mufiler bom Sodel
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der hohen Kunſt in die Niederungen des Pöbels und ſeiner, vom aſiatiſchen
Ausland her verſeuchten Muſik ſteige. Daß die mittelalterliche Kirche es
nicht gern mitanſah, wie die urſprüngliche Gepflogenheit, Hymnen und
Halleluja im täglichen Leben zu fingen, dDurd) das Bordringen der fah-
renden Wufiler zum Stillftand gebracht wurde, berftebt fid. Dazu fam,
Daß unter jenen Bolfsmufifanten fid) entlaufene Klerifer und verlotterte
Afademifer befanden, die den Augen der Rechtglaubigen ein Breuel fein
mußten. So beißt jet das Volkslied „carmen barbarum, carmen bulgare,
carmen tribiale*, und in deutjcher Sprade befam es den nod) heute bers
{Himpfierenden Beinamen „Gaſſenhauer“. Wie wenig nocd ein Didter
pon Der im edelften Sinne vollstümlichen Cinftellung eines Ehriftian Weife
aufs „Boll“ zu fprechen war, beweifen feine Worte in der VBorrede gu
feinem, mit dem Komponiften Krüger gefchaffenen Liederbuch (1684): „Die
Welt ift zwar erfüllt, wo man die Melodein / Bon fünfzig Jahren Her in
Rechnung bringen will, / Dod: Was die Bauern fdon in ihrem Tange
Ichreien, / Das übertäubet aud) das befte Saitenfpiel.“
An dem Begriffe „Bollslied“ ijt gunddft einmal der Zeil „Volk“
Sabin guriidguldrauben, daß, mit Ausnahme der primitiven wie der alten
Kulturvölfer, die fic nad) Karl Büchers trefflidem Nachweis in „Arbeit
und Rhythmus“ zur Arbeit, zum Sang eigene Texte dichten und eigene
Rhythmen erfinden, unfer Bolt fich feit langer Zeit nicht mehr produzierend,
fondern allein nachſchaffend betätigt. Jakob Grimms Meinung, die in
Der GSefamtbeit den Romponiften erfennen will, hat fic langft als unbaltbar
erwiefen. Wir fennen eine Menge Fälle, wo fic Dichter und Komponift
ober der eine bon ihnen im Schlußreim naib ftolz vorftellen, nicht allein im
„Prinz Eugen“, den ja jeder von uns im Obr bat. Das eine darf als feft-
ftebend angefehen werden: daß nicht ein jeder der Ounſt folder Aufnahme
ins Bollsallgemeingut gewürdigt wird und mander um fo weniger, je mehr
er’s anftrebt. Mönche (wie jener ausjägige, dem einige Perlen Der Lim-
burger Chronik zugefchrieben werden), Minnefänger (wie der abenteuernde
Bolienfteiner, der Reuentaler), Spielleute, Schulmeifter (wie nod) Silcher!),
Kantoren (die Schöpfer unferer choraliſchen Bollspoefie, um die uns Ber
Katholif Max Reger beneidete), aber fogar Studenten und ebrenwerte
©eiftlihe (wie der Berfaffer der „Singenden Mufe an der Pleiße“, dere
jenige des ziemlich bandfeften „Augsburger Tafelfonfefts") und endlich
©®rofmeifter der Hohen Kunft haben Hier mit oder ohne Willen und Wollen
mitgebolfen, fo Mozart. So Tann es vorlommen, daß ein Lied wie bas
pon Brahms verwendete „Berftohlen gebt der Mond auf“ und „Schwefter-
lein“ als Golfsgut gilt, bis es der nadpriifenden Wiffenfdaft gelingt,
zu zeigen, daß ein gebildeter Dilettant, Succalmaglio, der rheinifche Zurift,
fein geiftiger Urheber war.
Die mufifalifche Entftehung unferer Volkslieder liegt ziemlich Mar vor
Augen: ift fon an dem Worttert mit feiner Beporzugung lautmalender
Wendungen und arditeftonifh-mufifalifdher Refponfionen die Beftimmung,
gefungen bon Mund gu Mund zu gehen, erfennbar, fo wird gern gum impro-
pifierten Text eine porhandene Melodie verwandt, und dies mit Borliebe
bei Spottgedidten. So heißt es in einem Liede des fünfzehnten Gabr-
bunderts: „Die Weifen gu den Lieden, / Die Han id nit felbft gemaden, /
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Ich will eud nit betrügen, / Gs hat's ein Andrer getan.“ Was Meifter
der Sonfunft wie Hasler und Sfaal für die Berfdmelgung bon Kunſt⸗ und
Volksgut geleiftet haben, wird nie vergeffen werden, und Luther, mit dem
ber erftgenannte in Berbindung trat, bat mit feinen Hauschorälen eigent-
lid) erft Den Anftoß zu jener, aus dem italienifden Mabdrigal und Ber
Soloarie herborgegangenen deutſchen Sololiedpflege gegeben, Die den
Boden fowohl für das neue deutſche Kunft- und das Volkslied fchuf.
Schulz, Zelter, der ®vethefreund und »vertoner, Zumfteeg, Schuberts Ab-
gott, Reidardt und Gilder wären ohne jenen Borgang nicht zu Denten.
Wie dann das Bolf die ibernommene Kunftfompofition abwandelt, „zer-
fingt“, wie fi) in ber Melodieführung des Deutfchen Südens durch Bevor⸗
gugung der barmonifden Akkordſprünge und ihrer beiteren ®rundftimmung
ein ®egenfak zum ernfteren Norden mit feiner Herborfehrung der bejinn-
lichen Sonftufenf{dritte ausweift, das fann bier nur angedeutet, nicht wiffen-
[daftlid eingehend abgehandelt werden.
Kommen wir zum Schluß: zur Stellung unferer Zeit bem Bolfslied
gegenüber. Wiederbelebung durch) erneute Pflege jener Mufil der Hasler
und Iſaak erftreben die um öde, um den Wolfenbütteler, den Bären-
reiterberlag. Gs ift dag die Zeit der ausflingenden Mehrſtimmigkeit der
nieberländifhen Schulen, und fo wird Hiermit [don jenem Dogma Der
Boden abgegraben, wonach das mufifalifde Bolfslied einftimmig zu fein
Habe. Aud Luther hielt nod) an der motettenhaften Mebrftimmigteit feft,
deren Damaligen Grofmeifter Josquin be Prés er begeiftert pries. Grit
das Bordringen der italienifhen Renaiffance mit ihrer Schaffung der Mo⸗
aodie, der Arie, bes ®eneralbafjes, das beißt des akkordiſch begleiteten
Sinzelgefangs und Cingelfpiels ließen aud) das Bolfslied, deffen Blüte
ja in Deutfchland fein follte, während fic) Granfreid mit dem „chanſon“,
Stalien mit der Brabourarie begnügte, einftimmig werden. So fchreibt der
Königsberger Liedermeifter Heinrid) Albert in einem DBorwort 1640:
„Wunbert Gud etwa, daß ich geiftlide und weltliche Lieder in ein Bud
aufammengefeßt babe, fo denket daran, wie es mit Gurem eignen Leben bes
Schaffen ift, Die Ihr fo oft an einem Sage des Morgens andädhtig, des
Mittags in einem ®arten oder Iuftigen Orte, und des Abends bei einer
ehrlichen Sefellfdaft, aud) wohl gar bei ber Liebften fröhlich feid.“ Wie
der Dreißigjährige Krieg jenes erfte deutſche ,Runftoolfslied“ erwedte, fo
foll der Hinter ung liegende Weltkrieg zu einer Neublüte Des mehrftimmigen
@efanges werden. Solange dabei rein muſikaliſche und nicht zugleich vere
ftedt „edellommuniftifche“ Erwägungen obwalten, ift nicht das geringite
einzuwenden. Was jeboch zu erwarten und zu verlangen wäre, ift: griind-
lichſte Bertrautheit aller Bearbeiter und der Ausführenden mit dem SGeifte
jener längft berfdollenen Zeit, dazu ebenfo gründliche Kenntnis der mufifa-
liſchen Forms und Stilmittel und peinlidfte dorifhe Schulung. Und
was die Sexte anlangt, fo wäre, den vielen Klagen aus recht berufenem
Munde abzubelfen, nod manderlet zu tun, ehe wir bon „DBollsgut“
werben fpreden dürfen. Und vergeffen wir Dod nicht, daß, wie oben {don
einmal angebeutet, es neben dem arbeitgeborenen Rhythmus der lebendige,
aus ber Zeit geborene Sezt war, der dem Doltslied erft gum Entſtehen
verhalf. Hermann Unger.
664
Wilhelm bon Polen; und die deutfche
Literatur feiner Zeit.
ifhelm bon Poleng, dem Didter und Landedelmann aus der Lau-
fiß, nahm ber Sod 1903 allgufrih im beften Nannesalter don eini-
gen vierzig Sabren die über ein Sabrgehnt unermüdlich geführte Feder
aus der Hand.
An den rein Lünftlerifchen Qualitäten Poleng’ hat fdon die zeitgendffi-
fe Kritif Dies und das zu bemäleln gefunden. ®eben wir ebrlid zu:
Poleng war feiner unferer ®rößten mit aus der Tiefe elementar triebbaft
berporquellender Intuition. Aud in feinen Weifterromanen gibt es
Streden, wo ber Poet feine Feder mit dem profaifchen Stift bes Wilfen-
{Haftlers, beifpielsweife des Hiftorifers, Nationaldlonomen, Sthifers oder
Theologen dertaufdt und fo feine Dichtung der Gefabr einer ftellenweijen
Berfandung bedenklich nahe bringt. Diefe Eigenheiten — nennen wir fie
rund heraus Mängel — erklären fid gum Zeil aus der ganz [pegififden
Kinftlerderanlagung Poleng’.
Der Dichter war ein durchaus altiver, vielfeitig intereffierter ®eift.
Das hamäleonhaft [hillernde Leben bes fterbenden neunzehnten Sälu-
Iums in all feiner widerfprudspollen Problematif, feiner Krifen- und
Kampfftimmung einerfeits, feiner müden, blafierten Gin-de-fiecle-Laffig-
feit andrerfeits bat Poleng intenfiv erlebt; es künſtleriſch auszufchöpfen,
dazu tourde ibm der Kulturroman das gegebene Inftrument, tweldes er
gründlich zu meiftern verftand.
Freilid fann ber Kulturroman großen Stiles, ber Poleng ganz be-
fonders lag, gewiffer Ballaftftoffe nicht entraten. Aud weiß man redt
gut: das fpröde und doch unentbebrlide Fremdgut läßt fid felten im
Schmelgztiegel der Kunft gu einer reinen gebändigten Legierung umgießen.
Wer Polenz Werk genießen will, hat fic mit diefer Satfadhe abzu-
finden, und das fällt nicht ſchwer angefidts der reichen Fille reifer Schön⸗
beit, die des Dichters Werk bietet. Jedes der gewidtigften Bücher Polenz’
bat inmitten ber verfchiedenften Zeitfragen ein heiß und mannbaft um-
fampftes Hauptproblem gum Bortourf, jedes gibt einen Ausſchnitt aus
dem @efamtbilbe der Epoche. Segment reiht fid an Segment, bis eine
alle wefentliden Merkmale aufweifende, abſchließende Schau vorliegt.
Ginmal bat Poleng fic felber über den ihm befonders nabeliegenden
Fragenkomplex geäußert. (Liter. Echo. Sm Spiegel. 3. 1900.): „Unter den
fogenannten brennenden Fragen, die mich intereffieren, fteht an erfter
Stelle Die Agrarfrage, die mir als Butsbefiter fogufagen auf Den Nähten
brennt. Dann liegt mir fehr am Herzen bie Frauenfrage. Und was aus
unferer Kirche im Laufe der Zeit werden wird, möchte ich auch gern wiffen. .
Die foziale Frage ift die Frage der Fragen für mid.“ Nehmen wir nod
Die Problematif der deutfhen Literatur zur Gabrbunbertwende Hingu,
fo ift in Diefer Fünfzahl die Summe der großen, bon Polenz eingehend
behandelten Fragen gegeben.
Poleng ift denn aud) der unbeftrittene Meifter des großen Seit- und
Kulturromanes feiner Epoche geworden. Namhafte Kritiler wie Adolf
43 Deutiches Dollstum 665
Bartels, Bölfche, Nidden, Spiero ftimmen faft reftlos überein: Wilhelm
pon Poleng iſt Der deutfhe Dichter-Kulturhiftorifer des ausflingenden
porigen Sabrbunderts, eine „geradezu providentielle Erſcheinung“, die
„Deutiches Leben, pon deutſchem ®eift erfaßt, in deutſchem Geiſte darftellt,
mit Deutfhem Herzblut getranft*. „Abfolute Treue, unbeirrbare Ehr-
lichkeit“ werden ihm mit vollem Redte nachgerühmt. Drum wird fein Gee
famt{daffen als autbentifches Quellwerk Eulturbiftorifcher Art angefeben,
dem Siftorifer der Sufunft, der einmal Poleng’ Zeit darftellen will, zur
willfommenen Ergänzung.
Die foziale Frage ift dem Dichter bereits in feinem Grftlingswerf, dem
Roman „Sühne“ (1892) ein vielbegrübeltes Welträtfel. Für die Folge
unterftebt er in faft allen feinen Werten mehr oder minder ihrem Banne, fo
im „DBüttnerbauer”, ,®rabenbager“, „Wurzelloder“, „Land der Zukunft“,
in mander feiner Novellen und dem Drama „Andreas Bodholdt“.
Mit den in den neunziger Jahren recht fritifden deutſchen Agrarper-
bältniffen febte fic) Polenz aufs Sründlichfte auseinander im „DBüttner-
bauer” und „Orabenhäger“.
Die erbitterten religidfen Gehden zwiſchen Wiffenfdaft und Dogma,
bie in jenen Jahren ausgetragen wurden und zerfebende Konflikte in bie
Seelen warfen, fanden im „Pfarrer von Breitendorf* ihren Niederfdlag.
Die Frauenfrage, das Verhältnis der Gefdledter zueinander, formte
fid zumal in „Shella Lüdelind“ zu einer tiefgründigen, hochwertigen
Monographie.
In dem Roman „Wurzelloder“, der 1902, alfo ein Jahr oboe Poleng’
SHingang erfdien, findet fic) eine ſynoptiſch treue Charafteriftil des lite.
rarifhen Lebens in Deut[dland gegen Schluß des Zahrbunderts.
Wer dem Entwidlungsgange Polenz' nadgebt, foweit Dies Das vor⸗
ldufig verfügbare Material geftattet, und dann das elfbändige Lebenswert
des Dichters ftudiert, gewinnt bon lebterem den Gindrud einer großen
Künftlerbeichte, fo Tebendig fpiegelt fich bes Autors Leben im Werle wie-
der. Kaum einer der anderen Romane aber bat den intimen Reiz des
Gigenbiograpbifden fo ftart wie „Wurzelloder“. Hier Halt Polenz mit
ber gewohnten ®radbeit, Die zumal die eigene Perfon nicht fdont, Abrech-
nung, einmal mit Perfinlidftem und Intimftem aus feiner Jugend und
dann mit der literarifchen Situation der achtziger und neunziger Jahre.
Gs ift Dies Die Zeit Der literarifchen Repolution der Diingften.
Aud) Poleng hatte in diefen Febben auf der Seite der naturaliftifchen
Jugend geftanden, ohne indes je zu den eztremften Kampfhähnen zu zählen.
Gr gewann dann aud bald einen fritifden Abftand bon jenen ftreitbarften
Süngften und mauferte fid gu einem gemäßigten Kunftideal durd).
Die Schilderung Diefer wildbewegten, von Poleng felbft intenfivft
durchlebten Krifengeit erreicht einen bejonders hoben ®rad der Unmittel-
barfeit und Porträttreue. Artur Eloeſſer nennt „Wurzellocker“ eine ,li-
terarijde RKonfeffion*; anderswo beißt es febr bezeichnend, ber Roman
fet eine ,protofollarifhe Bernehmung des Naturalismus“.
Poleng hatte nad feiner Berheiratung, die ihn wirt{daftlid unabban-
gig gemadt, erft ein freies Literatenleben in Berlin geführt. Hier pflog
er regen Umgang mit Dem buntgemifdten, überfchwänglichen Kreije junger
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Iiterarifder Bobemiens, die fic um die Brüder Hart fdarten. Hier ver-
fehrten Wilhelm Arent, Hermann Sonradi, Karl Hendel. Nach und nad
fanden fid) dann Des weiteren in Berlin ein: Karl Bleibtreu, Arno Holz,
Johannes Schlaf, Otto Erid) Hartleben, Ernft pon Wolzogen, Max Hal-
be, Bruno Wille und andere. Unter ihnen war mand ungeftümer DBraufe-
fopf, der auf radifalen Umfturz im Reihe der Kunft Hindrangte. Man
befampfte den als fiplid-feminin empfundenen Schönbeitskult der Mün-
Gener um Paul Hevfe; man prangerte jene Pfeubdoepifer bom Schlage
eines Julius Wolff an, die in [hwächlicher, ftarf verdünnter Romantif
einen billigen Kult mit dem Mittelalter trieben; man böhnte auf die übli«-
He Goldſchnittlyrik voll faft- und fraftlofen Singfangs, wie ein Baumbad
fie prompt Jahr für Jahr auf den Weihnadtstifch au legen pflegte. Nicht
minder ging man den gefdidtstlitternden, anmaßenden Profefforenro-
manen bon Ebers ufw. zu Leibe.
Wie etn Alpdrud lag diefe gefchmadverdberbende Talmifunft auf der
Jugend. Die wollte heraus aus der ftidig-muffigen Atmofphäre der plat-
ten, fpießerifchen Niederung, hinauf in reine, Iuftige Hdbenregionen. Frei
willig aber gab bie alte Generation aud nicht ein Brudteilden ihres
Madtbereidhes her; da braudten die ungeduldigen Jungen ihre Ellbogen
und fchafften fid) Raum.
Bon Berlin wie bon Minden ber erging eine doppelte Rampfan-
fage der Zungen an die alternde ®egnerfchaft. An der Spree erprobten
bie beiden Hart ihre Kräfte in den erften planfelnden „Kritiſchen Waffen-
gängen“ (1882). Bon der Ifar aus madte der auf Solas Naturalismus
eingeſchworene Michael Oeorg Conrad einen bajuparifch ungeftümen Bor-
ftoß durch die Herausgabe einer programmatifden Seitfdrift „Die ®e-
fellihaft“ (1885).
„Wurzelloder“ gibt beredte Proben diefer Kampfitimmung. „Pen
Wirklichkeitsſinn“ Hatten die Alten im Publikum ertöten wollen; fie hatten
alles „verbüllt, vergoldet, idealifiert“, ,jammerlide Seftalten mit einer
unmögliden Gprade, triefend von Heroismus und biirgerlider Ehr⸗
puffelichteit ins Leben gequält.“ Das war mit einem Worte „Unnatur,
Mangel an Mut, Kraft, Originalität.“ Gine Nation, die auf Gravelotte
und Sedan ftolg war, ſchwärmte fchlecht beraten für minnige, innige Bugen-
fheibenlieber, gedredfelte Profefforenromane mit wiffenfdaftliden Fuß⸗
noten, tönende Sambendramen, falfh nad Schiller empfunden. „Die
ungen wollten heraus aus diefer Mifere; wenn eine Revolution berechtigt,
notwendig, ja heilig war, dann Diefe.“
Lind immer wieder fallen die Hiebe der Stürmer und Dränger hagel«-
dit. ,Unnatur, Impotenz waren Brandmale der alten Richtung.
Schminte, Schönheitspfläfterchen und falfches Haar gehörten zu ihren Re-
quifiten und bengaliihes Licht. Der Idealismus war feige, wagte nicht,
in Die Schächte des Lebens Hinabgufteigen.* Den Profefjorenroman trifft
eine niederjchmetternde Kritif: „Bom gefdaftliden Standpunfte aus mag
der ja gang einträglich fein; denn bon barmlofen Seelen werden Ddiefe
Schmöker, die eigentlich nicht diel mehr find als Sndianerge[idten, ja um
Weihnachten herum gerne gefauft, aber mit Literatur...“ So Berting, ein
Bertreter Der neuen Richtung.
43° 667
Im G©egenfab zu diefer matten Alterspoefie fam Hie Jugend zum
Naturalismus. Aud Polen; war erft eifriger Anhänger der neuen Rich»
tung; er war Mitbegründer der „Sreien Bollsbühne“ (1890) und fpäter-
bin des „Ban“ gewefen (1895).
Smile Sofa und zumal Ouh de Maupaffant, der Meifter der fein ge-
fchliffenen erotifhen Novelle, haben ihn beeinflußt. Einen verwandten
©®eift fah Poleng ferner in Tolſtoi, deſſen ftarfes Ethos und warmes
Sozialempfinden bei ihm verwandte Seiten traf.
Im naturaliftifmen Lager war jedod) Poleng’ Bleiben nicht lange.
Die neue Kunft hatte mand ausgeprägten Wefenszug, der PBolenz’ Eigen-
art zuwider lief. Schon der Erftlingsroman „Sühne“ zeigt zwar in Ber
Senif noch des Autors naturaliftifhe Schulung, in ber Idee jedoch ift Die
Smangipation Polenz’ bom Naturalismus bereits erfolgt. Das Traftpoll
ethiſch zugelpiste Problem des Buches, die ausdriidlid betonte ergiebe-
rifhe Nebenabfidt find fdon ganz unnaturaliftifd. Dem jungen Lite»
raten Griebrid bon Choiſeule legt ber Dichter eine unzweideutige Abfage
an den Naturalismus in den Mund: „Ich gebdre nicht zu denen, die in
einer möglichft getreuen, gleidfam photograpbifmen Wiedergabe der Natur
den Swed der Kunft erbliden; ich ftrebe zwar nad Realismus, aber nad
einem ibealifierten, geadelten.“
Sewif, heißt es anderswo, follte die Poefie bas Leben Hbefdreiben:
noawobl, fo wie es fid in unferen Köpfen malt.“ Auch wolle er nicht „im
Schmutze wühlen und das Lafter verberrlichen.“
Poleng ift der Mann ftärkften etbifhen Smpfindens. Sr läßt Fried-
rid bon Shoifeule fic alfo über Ziel und Swed feiner Kunft Außern: „Ich
wollte ein Problem bon bober fittlider Bedeutung erläutern, id wollte an
Diefem einen Galle dartun (beftrafter Ehebruch), wohin im allgemeinen
das Abinetden vom Pfade der Pflicht Führt, wohin der Menfch gelangt,
wenn er fid) gegen urewige, heilige Satung auflehnt.“ Diefe Auslaffung
ift Wort für Wort Polenz’ eigene Auffaffung.
Der nad) baldig eingetretener Srnücdhterung und Selbftbefinnung er-
folgende Brud) mit Der naturaliftifmen Richtung vollzog fid mit vielem
Salt und ohne fede Briistierung der ®egenfeite. Daß dem fein ariftolra-
tifhen Gentleman mit feinem auf das Sefiderte, Bediegene, Beordnete gee
ridteten Sinn inmitten Der gigeunerbaften, genialifch-repolutionär fich ge»
bärdenden Runde um Die Harts auf die Dauer aud im Äußeren Bertebe
nidt wohl fein fonnte, läßt {id begreifen. Er hatte immer gar zu fehr den
Eindrud des weißen Raben gemadt. Das formlofe ®ebaben, die fofett
zur Schau getragene Schäbigfeit der Außeren Srfdeinung, das obdadhlofe
SHerumfampieren bei befjer fituierten Freunden, dies forglofe, leichtfinnige
Bon-der- Hand-in-den-Mund — alles Wefenszüge des Hartfchen Kreijes
in Berlin und fpäter in Sriedrihshagen — bereiteten Poleng ftarles Un⸗
bebagen. Zumal verurteilte er, daß man die Kunft für die leiblichen
Griftengmittel forgen ließ. Er felber madte denn aud) fonfequent feinem
ungebundenen Literatenleben in der Refideng ein Ende und wurde Drund⸗
beſitzer und Landwirt in der Heimat.
Eine eingehende Würdigung und gründliche kritiſche Beleuchtung ere
fährt ber Naturalismus in den lebhaften Debatten zwifchen Berting und
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Wallberg und Berting und Lehmfink, fo beißen die Bertreter der verſchie⸗
denen Kunftridtungen in „Wurzelloder“. Berting ift Naturalift, Profeffor
Wallberg ein ftreitbarer, fanatifcher Borkampfer der alten Generation,
Lehmfink, Bertings Freund, ift offenfundig Poleng’ Sprachrohr; fein
Kunftprogramm ift das Polengfde: Ein tdealifierter Realismus.
Bertings Kunftiwollen hat einen fühnen, univerfalen Zug. Er mddte
einen Ginblid tun in Die beimlidften Heimlidfeiten der Menjden, hin⸗
durchſchauen durd alle verdedenden Hüllen wie Sefelligkeit, Familie,
Staat, Gitte, Geſetz, bis hinein in das „Allerbeiligfte der Alltagsproja”.
Diefer Wunfd brennt ihm in der Seele, weil er fühlt, daß der Menſch feine
wahre Natur verheblt und taufend Masten trägt. Aber ©efühl, Stim-
mung, Pbhantafie allein wären ungenügend, das Alleben zu faffen und den
großen Szperimentaltoman zu fchaffen; dazu müßten Wiffenfdaft, Ted-
nif, Soziologie, Die ganze Welt, alles Seiende beifteuern. Aber diefer
univerfale Wille zerbricht an der Grfenntnis des engbegrenzten menfch-
liden Könnens: „Ja,“ fo ruft Gerting [dmerglid aus, „wenn man den
Optimismus hätte und die Arbeitskraft eines Sola.“
Lehmfink entgegnet rubig: „Den großen Schatz ewiger Wahrheiten
bätteft bu damit nicht bereichert.“ Das Beiftige, Srhabene, Seelifche miiffe
den Dichter anziehen, nicht das Zwergenhafte, der tote Mechanismus. Bue
mal die große Syntheſe fei des Dichters ehrenpollfte Aufgabe; von hoher
Warte aus müffe er beftrebt fein, die dunklen Zäler der Gmpirie aufzu-
Hellen, und er dürfe fich nicht verlieren in fleinlid@es, wiſſenſchaftliches
Sifteln und Sergliedern.
Bei der Forderung univerfaler Lebensbetradtung im Rahmen ber
Kunft wird aud) die alte, nimmer verftummende Frage laut: wie ftebt Das
Ananftändige — anders gewandt, die Moral — zur Kunſt? Gerade dem
Naturalismus hatte man gegnerifcherfeits immer wieder den Borwurf der
Unmoral gemadt. Heinrich Hart geftebt, Poleng fet einer der erften unter
den Neueren gewefen, den felbft Die verbiffenften ®egner nicht zu ders
läftern gewagt. Polenz bat der beillen Frage eine eigene Abhandlung
gewidmet. Seine Meinung gebt dahin: Welt und Mend find Robftoffe
fünftlerifchen Schaffens. Scheidet man überängftlich etwas Wejentlicheg,
3. DB. Das Häßliche, Gemeine von der dichterifchen Lebensgeftaltung aus,
fo wird das Kunftwerf nur ein unvdollfommenes, einfeitiges Konterfei, kurz,
ein Serrbild ber Realität ergeben. Das Unanftändige, 3. B. in Berbin-
dung mit bem ©efchlechtlichen, ift aber ein fider nicht unwwefentlides Mo⸗
ment der Wirklichkeit und ift verfnüpft mit dem Alltaglidften und Natür-
lidften. Dies im Prinzip eliminieren, hieße auf Lebenswahrbheit und -voll-
ftändigfeit verzichten; fomit ift bas Unanftändige ein nicht gu umgebender
Gattor in ber Kunft. Zreilich darf es nie Selbftgwed werden, nie Darf
iifternbeit des Autors es derart häufen, es nie derart berlodend malen,
daß man die häßliche, untiinftlertfhe Abficht hHerausmerft. Zu oft liegt Das
getabelte Unanftandige einzig im verberbten Auge des Befchauers, und
der Borwurf fällt dann Doppelt auf den Tadler zurüd.
Aud die Sinwürfe der alten ®eneration, die neue Kunft wühle das
Haßliche, Schmußige, Stelhafte aus bem Kehridthaufen hervor, wehrt er
alfo ab: Schön und Haplid feien relative Begriffe. Sinfchneidende
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LebenserfdHeinungen wie ®eburt, Krankheit, Sefchlechtsleben, Tod könnten
für übermäßig feine ®emüter abftoßende, häßliche Züge haben, darum
dürfe Die Kunſt ihrer aber bod) nicht entraten. Der Naturalismug wolle um
alles nicht zimperlich fein, nod die Wahrheit des Lebens falfden; er Habe
den rüdfichtslofen Mut, felbft in die Kloaken des Dafeins binabzufteigen.
Nicht bon ungefähr war es, Daß der Naturalismus fold einen engen
Konnez mit der Wifjenfchaft, zumal der Naturwiffenfchaft anftrebte. Der
Naturalismus war ebenfo wie der Sozialismus, mit Dem er paftierte, und
der Naturfor{Hung auf dem Boden einer reinen Diesfeits-Weltauffaffung
gegründet und aller MetaphHfif abbold. Die Naturwilfenfchaften beherrſch⸗
ten Das neungebnte Sabrbundert. Sie batten den „Ichönen blauen Dunft
ber idealiftifmen Weltanichauung“ zerrilfen. Sie Hatte ihrer Zeit Die
alleinige Slaubwürdigfeit der bewiefenen, im Experiment gewonnenen Tat»
fade eingeb’mmert. Die epochemachenden Grfolge, welche die Natur-
wiffenfchaft erzielt hatte, waren gu einem nicht geringen Zeile der fdarfen
Beobadtung des Objefts, der feinen Analyfe gugufdreiben. Bon der
Wiffenfdaft fonnte die Runft methodifd Iernen. Zur didterifen Intui-
tion follte fic eine möglichft gewiffenbafte Exaktheit und minutidfe Ana-
Infe gefellen; die Ergebniffe der Naturwiffenfdaft perwertete man über-
dies als willfommenes Neumaterial.
Die erboßten Parozismen Profeffor Wallbergs, bie im ®runde dod
nur das Unbdermdgen einer fenilen ®egenpartei bewiefen, hatte Gerting
überlegen abtun fönnen. Lehmfinks fühles, ſcharfes Kritiferauge aber hatte
die wahren Blößen der neuen Kunft erſpäht und nannte fie rüdhaltlog ehr-
lid) beim Namen. Der Naturalismus ift ihm Oberfladenfunft, Daher das
Milieu feine Force, und das Seelifche feine Renonce. Das Phyſiologiſche er»
fapt er zwar mit fdarfen Sinnen, bas Wegleugnen der Metaphyſik aber
macht ibn bleiern erdbaft; er weift breite, horizontale Flächen auf, aber ihm
fehlt Die Tiefe. Das Individuelle fommt zu furg über dem mit dem Sozia«
lismus geteilten Kult des Bollsganzen en malfe. Dem Naturaliften fehlt
ber tiefe Glaube, Die quellende Wärme des ®efühls, bas ftarfe regulative
Sthos, febr zu feinem Nachteil. Gr entflammt nicht, reißt nicht mit fort;
qualvolle Grfdiitterung, beflemmendes, widerfpruchspolles Unbehagen,
Sroftlofigfeit find die bon ibm ausgeldften Wirfungen. ®leich der Wiffen-
{aft will ber Naturalismus univerfell international fein; ibm geht das
ftarfe Baterlandsgefühl ab. Daf er fein Verhältnis gefunden, einmal zur
eigenen Nation und besgleiden nicht zur Religion, das find Schwerver⸗
breden, Sodfünden in Lehmfinks Augen.
Man gebt fiderlid nicht fehl, wenn man Lehmfints Urteil für Polenz’
eigenes nimmt. Religion, genauer gefagt: eine hohe ethifhe Bindung
und Baterlandsliebe find Angelpunfte im Schaffen bes Dichters.
Wenn Bartels die Shnoptifertreue bon „Wurzelloder“ Iobt, tut er
gang nad Berdienft. Man will an gewiffen Harafteriftifmen Zügen man-
er Seftalten des Romans beftimmte Perfdnlidfeiten des damaligen lite»
rarifhen Deutfchland — zumal Berlins — wiebererfennen. Diefe mehr
oder minder Der Wirklichkeit entliebenen Giguren, gufammen mit den
anderen, die bewußt mehr im Typiſchen belaffen find und dod) für ihre
670
Seit ein getreues Seugnis ablegen, bilden eine wertvolle ®alerie von
Sharalttergemälben des Gabrhundertendes.
Gin feinnerbdiges, bon der Defadence angelränteltes Brodult des Fin
de fiele ift Sri Berting, der naturaliftiihe Literat. Ob man bei ibm nad)
Bartels Bermutung an Otto Grid) Hartleben oder Hermann Conradi
denfen foll, bleibe Dabingeftellt. Der Charafter hält fic durdaus in ver»
Ihwimmenden Konturen; er mutet faft an wie eine Art Hilfsfonftruftion,
den Naturalismus in Aktion gu zeigen. Gr trägt die typifchen Züge des
bodgradig geiftigen Menſchen der Jahrhundertwende. Als Sohn eines
bald bier bald dort bin verfebten Staatsbeamten ohne die folide Bin-
bung eines irgendivo feft verankerten Heimatgefühls, mit ben Seinen über-
worfen und fo des Gamilienriidbaltes bar, jedweden Religionsbefennt-
niffes Ios und ledig, im Banne der Ideen Schopenhauers, Hartmanns,
Nietzſches, Darwins, Vogts, Molefdotts und Biidners, einer Kunft ver-
ſchworen, die aud) nod erft um ihr Dafeinsrecht lämpft, einem Mädchen
aus dem DBolte in freiem Berbaltniffe gugetan, genialijd groß im Wollen,
tlein im Bollbringen, das ift Grig Berting, eine durch und durd) wurzel⸗
Iodere“ Griftenz. |
Heinrich Lehmfink ift, wennſchon Bertings Freund, fo Doch in der Idee
fein ®egenipieler: ein Gharafter, eine Perfdnlidfeit. Boll Wiffensdurft
und Idealismus hat er fid zu einer imponierenden geiftigen Höhe binauf-
gelämpft. Wahr um jeden Preis, gründlich und unbeftedlid kritiſch ſchaut
er Durd) die oftmals blendende Aufenfeite der Dinge in ihr Inneres
binein. Dem Freunde ein guberlaffiger Freund und Helfer, als Jungs
gefelle den Damen gegenüber poll ritterlider Berebrung, treu reichsdeutfch
bis ins Herz und großer Bismardverehrer, ein gewiffenbafter, gründlicher
©elehrter, dabei zuinnerft Anhänger eines geläuterten Chriftentums, fo ift
Lehmfin# unter den irrlichternden Seiftern des Buches der fefte Pol, der
ftete, flare, gielfidere Mann.
Der ftreitbare Profeffor Wallberg vertritt den nicht feltenen Top des
pon Unfeblbarfeitsdiinfel befeffenen afademifden Literaturpapftes. Der
alte Serr wird gum wütenden PButer, wenn — zumal aus dem Kreife der
verbaßten, weil renitenten Jugend — Meinungen laut werden, die feinen
äftbetifchen Dogmen zuwider laufen. Mehr mit erboßtem Poltern denn mit
fadliden Gründen fampft er um jedes Handbreit verlorener Pofition.
Den literarifchen Juden jener Zeit verlörpern Siegfried Silber und
der Berleger Weißbleiher. Im Beſitz einer gewiffen grobfchlägigen,
reflamefunbdigen Reporterbegabung zwängt fich der gabe Silber bon Stufe
gu Stufe aus dem Nichts in bie höchften ©efellfchaftsichichten hinauf. So⸗
lange er in bartnddigem Kampfe ftand und nach oben drängte, fühlte er fid
ber Sogialdemofratie [didfaloerbundDen. Sobald ihm jedoch ber große
Wurf gelungen ift und er fid auffallend ſchnell bom fdwadronierenden
Repolutionär zum fatten Bourgeois umgeftellt hat, läßt er alle Begiehun-
gen zu ben ehemaligen roten ®enoffen fallen. Weißbleicher ift ein Gers
legerthp, für den man getaufte wie ungetaufte &zempelfiguren zur Gee
nüge finden fann. Wahre Kunft, Dienft am fulturellen Fortſchritt der
Ration, ideale Befichtspunfte überhaupt find Weißblecher Heluba. Bücher
verlegen ift ihm ein Oeſchaft wie jedes andere; die Abfabmöglichkeit, die
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bobe Auflagenziffer, der Elingende Erlös, das find die einzigen Wertmaß-
ftäbe, bie Weißbleicher anerfennt. Dabei fofettiert er gerne mit einer ge-
wiſſen Magenatengefte: er verlegt die grünen Grftlinge und Machwerke
purer Dilettanten — wenn fie gablungsfabig find.
Der intereffante Bertreter einer ganz neuen Literatengilde ift der.
blutjunge Markus Hiefel aus Wien. In diejer gelungenen, launigen Karte
fatur erfennt man unfchwer einen Jünger des Shmbolismus, jener Kunft-
ridtung, welche Durd den mittlerweile abwirtfchaftenden, gar zu extremen
Naturalismus rüdläufig ausgelöft wurde. „Srübgereift und zart und trau-
tig,” jo darafterifiert Hugo bon Hofmannsthal den „Anatol“ Sdniblers.
Dies pafe genau auf Markus Hiefel. Der ift ein Jüngling bon einer faft
blumenbaft anmutenden Paffivitat. Ihn quält die raube Welt der realen
Dinge; in mimofenbafter Gmpfindfamfeit erfchauert er feelifd wie förper-
lid) bei jeder Derben Berührung, jedem entfernt plebejifd Elingenden
Worte. Das gaufelnde, geftaltlofe Symbol ift fein Künftlertraum. Selig
wäre er, wenn es ibm gelänge, feine lange, bagere Perfönlichkeit ſchließlich
felbft Durch eine fühbne Metamorphofe in ein duftig-poetifches Symbol auf-
zulöfen. Auch der ganz aparte, in feiner Geinfultur faum mehr fteiger-
bare Stil feiner Aeußerlichteit fol eine ſymboliſche Wirkung erzielen.
Sieffinnig und ftumm wie ein Pagodengdge verliert der Jüngling fid
in poetifhen ®ejichten. Seine Rede ift rar, orafelbaft, dunkel, blumig.
Mahdhenbaft zart blüht er ftill babin. Jede robuftere Betätigung liegt ihm
bimmelfern. Mit melandolifdem Lächeln und matter Refignation vermeint
er fiegend über dem Leben zu ftehen und es bemitleiden zu können... Man
ſpürt es gar fo deutlich Heraus, wie Poleng mit grimmigem Bebagen und
feinem Spotte diefen Charakter entwarf; es war ihm, dem gefunden, fraft-
poll altiven Geifte in die Seele hinein zuwider, dies defadent weibifche
®etue, dies lächerliche, fofette Bortaufden von Ueberlegenbeit feitens der
Allerjüngften. Immer wieder muß man an gewiffe prominente Bertreter
des Shmbolismus denten, etwa an Hugo bon Hofmannsthal, oder (nad
Abolf Bartels) eher nod) an Stefan George.
Eine nicht minder intereffante Ausgeburt ber Deladence, man möchte
fagen, ihr echtes Kind, ift Baron Shubslh. Bon Seburt Pole, in Berlin
Daheim, Doch geiftig zu Haufe an her Seine, nirgendwo beheimatet und
überall, tft er der Weltbürger ganz modernen Schlages. Als internatio-
naler Gdrittmader und commis boHageur Der Moderne verfehrt er mit
Wilde, Rops, Strindberg, Bahr. Seine ein ſchmales Bändchen füllende
Lprif erinnert an Berlaine, feine Profa an Hubsman. Im ganzen ift der
Pole ein Durdaus entartetes, morbides GOewächs, in berüdend jeltfamen
und Dod abftoßenden Farben ſchillernd, im Kerne giftig. Sin vibrierendes
Nerpenbiindel, dem Abfinth und allerhand Marfotifen verfallen, ift er auf
ewiger Jagd nad neuen, nod) ungelojteten Genfationen. Chubsſskys Spee
gialgebiet ift Die perverje Sinnlichkeit, der Sadismus, ferner jenes Diiftere
®rengreid), wo das Erotifche mit bem Religiöfen zum Satanismus fich vere
bindet. Hier erfennt man ohne Mühe das Original: Stanislaus Przybys⸗
zewsti.
Hedwig von Laban verkörpert einen Melufinentyp: gemiitsfalt, finn
lid fpielerifch, dabei graufam und berdorben. Man mddte fie faft nehmen
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als Bertreterin einer um die neunziger Sabre peinlich empfundenen Gruppe
von Ddidtenben Frauen, die in ſchwüler Erotif und gewmagtefter Selbſt⸗
enthüllung das Denfbare leifteten. Die Inhaltsangabe Der Novelle, die
Hedwig bon Lavan Fri Berting zur Durdfidt übergibt, deckt fid über»
rafhend mit der Handlung des feinerzeit berüchtigten „Nizchen“, einer
Novelle von Hanns bom Kablenberge. (Pfeudonhm für Helene bon Mom⸗
bert). Das dürfte ein bedeutfamer Fingergeig fein.
Siterarifhe Salons ähnlich dem der Frau Hilfhius mag Polenz in
Berlin W. gefannt und beſucht haben.
In einem ausgemadten Literaturroman lagen Begugnabmen auf
@eiftesgrößen der Vergangenheit und Gegenwart denfbar nabe. Man ftößt
auf Namen wie: Goethe, Srabbe, Wagner, Schopenhauer, Niebiche, Bahr;
an Ausländern finden fid: Byron, Poe, Wilde, Balgac, Sola, Maupajlant,
Berlaine, Huysman, Ibfen und Strindberg.
Nießfche, wie konnte es anders fein, war aud) für Poleng einmal,
porab in den Sturm- und Drangjabren, der große Hezenmeifter und
Sauberer gewefen. Wie „Alfo fprad Barathuftra* Dem jungen Berting
gum aufpeitfchenben Erlebnis wurde, fo mag es aud Poleng felbft er-
gangen fein. Lehmfints mefferfdarfe Kritit des Philoſophen läßt aber
zugleich darauf fchließen, Daß der gereifter, niidterner und kritiſcher gu-
ſchauende Dichter den großen Einfamen mit anderen Augen fehen gelernt
batte.
Am Meere erlebte Berting „Zarathuftra* als einen glutpollen, rau-
[enden Dithyrambus. Mit ftaunender Shrfurdt fab er den Tühnen Denfer
bem Wilting alter Borzeit gleich fein Boot hinaus ins brandende Meer
ftoßen: hinter ibm, aufgegeben auf Nimmerwiederfehen lagen Staat, Fa-
milie, ©ott; por ihm die Dräuende Ungemwißbeit, der er fonquiftadorengleid
eine neue Welt abtrogen wollte. Diefem Fabrmanne fid anvertrauen war
böchfte Luft und tieffter Schauder zugleich. Man hatte das ®efühl, eine
Welt in Stüde geben zu feben in dem Augenblide, der eine neue, jchönere,
ftolgere gebar.
Lehmfink bat in langjähriger Auseinanderſetzung mit Wiebfde fein
Urteil ſtark revidiert. Ihm tft Niebfche feine Führernatur, „feine Worte
find baarfdarfe Meffer ohne Oriffe. Er ift Artift bon höchſter Gorm,
Sanger, Dichter und darum — Lügner.“ Er ift Aefthet, fein Neformator;
es fehlt ihm die Treue und jene ©lut, die ihr Leben einfebt für Die Lehre.
Ganz fehlt ibm die Liebe Shrifti, ben er befehdet, deffen Schubriemen auf-
zulöfen er aber nicht würdig ift. Die Inbrunft gebt ibm ab und Die bes
freiende Sat. Niebfches größtes Berdienft ift nad Lehmfink, daß er die
„nechtfeligen Berwafferer der Lehre Chrifti für alle Zeit brandmarlte
mit unauslöfhhlihem Hohne“, daß er die ,,Sflavenfeligfeit, Ablehr bom
Leben, Zleifchabtöten, Askeſe und Triechende Tugend als Mißftände Des
Shriftentums“ an den Pranger ftieß. Dem ®efreuzigten felber habe auch
ein Niebfde nichts angubaben vermocht.
Gin anderes Greignis bildete für Berting — für Polenz wohl nicht
minder — das Sefanntwerden mit Ibfen. Dtefer andere nordifche Magus
wirkte wie ein Naturphdnomen. „Alles an diefem Dramatifer war unge-
wdHnlid: Technik, Sprache, Probleme, Perfinlidfeit und Werdegang. Sein
673
Appell ging an die gefamte Kulturwelt. Hier ſchien eine neue Ethik ge-
offenbart, bas Theater repolutioniert. Das Seeliſche am Menfden war
Trumpf, das Gewiſſen Schauplab der Handlung. Die Moral feiner
Shefenftüde war feiner, freier, bom Lohnftandpunft losgeldft. Gefunder
Egoismus wirkte fid aus, fühne Selbjtverantwortung und Pflichtgefühl
famen zu ihrem Redte. Ibſen war Repolutionär. Seine Azt fuhr gegen
bas Gebälk des ©ejfellichaftsbaues, und wo dag Wurmmehl ftäubte, vere
riet fich Hinter trügerifher Aufenfeite morjde Faulnis und Berrottung.
®enau wie bei Nietfche gibt Lehmfink aud) hier die Kebrfeite der Me»
Daille. Gr vermißt bei Ibfen die Liebe, die weltumfpannende Inbrunft
der Shmpatbhie, das optimiftifche everlafting hea Carlyles, er findet ihn
falt, berglos, egoiftifch beifeite ftehend. Ibſen ift ihm der „[chulmeifter-
lide Tüftler“, der Meifter haarſcharfer Diagnofen, aber nicht einem Shate-
fpeare und Ooethe gleich Das gottbegnadete Ingenium.
Polenz' eigenes Kunftideal ergibt fic) in den Hauptzügen aus Der
Kritil, Die fein Dolmetidh Lehmfin~’ am Naturalismus, an Niewfde und
Ibſen übt. Das ganze, allfeitige Leben mit den Hellen ernften Augen eines
in der Wirklichkeit erfahrenen Idealiften fehen, d. h. es troß feiner düfteren
Seiten Dennod) lieben und bejaben, an das Bofitive im Menfden glauben
und ibm den reiten Weg weifen, das ift Polenz' ſympathiſches Kunſt⸗
credo. Gin heißer, unftillbarer Wunſch drängt ihn, eine möglichft erhabene,
objeftine Warte, eine Art Herrgottsftandpunft über den Dingen zu ere
reichen; zugleich möchte er aber auch binabfteigen finnen bis in die Ure
ſchichten des rudimentär-animalifden Menſchen, um dort feine Offen-
barungen zu [höpfen. Das altübliche Rezept des Romanziers, „ein Stüd
Alltagsleben hergunehmen, den Stoff nad einem wobhldurddadten Plane
guredtgufdneiden und die Gabel möglichft Har, folgerichtig, wahrſchein⸗
lid und padend berauszuarbeiten“ das genügt Polenz niit. „Darin liegt
nod zuviel bom profaifchen Handwerk.“ Gr mddte das Leben — wie por»
bin [don angedeutet — in feinem Allerinnerften, in feiner myſtiſchen Tiefe
paden: „Man mußte nod viel, viel tiefer bohren können. Gs mußte eine
Sonde geben, mit der man bordringen fonnte bis gu den ®ebieten, die in
ber Seele als unbebautes Neuland des Adermannes barrten.“ Drunten
ganz tief mußte Die Menjchennatur noch Refervoire haben, in die noch fein
Auge hinein gefdaut, wo friedliden Kindlein gleid die Triebe rubten in
einem Traumreich, wo es fein ®ut und Böſe gab, dem Liebe, Großtat
und Verbrechen entftammten. Das unbewußte Ich, nicht bas denfende,
follte zu Worte fommen. Das primitive, pflangenbaft animalifche Sein, dag
Keimblatt aller Anlagen, Inftinfte und Leidenichaften follte feine ®e-
beimniffe hergeben.
Darin fpricht fic) der faft fauftifch anmutende Schöpferdrang einer
bodjtrebenden Künftlerfeele aus, die in edlem Ungenügen nad Menfchen-
vermögen Ueberfteigendem Ausjchau halt. Daß ibm der große, laute Gr-
folg verfagt blieb, daß zumal feine Dramen ben heiß erhofften Anklang
tm Deutfchen Publifum nicht fanden, bat dem Dichter gewiß trübe Stunden
gebracht, aber er ließ fid) Drum dod) nicht unterzwingen.
Polenz beſaß die „Liebe gur Gade, die ftille, ftarfe, unbeirrbare Liebe
des Menfden für fein Werk, die fi) um Erfolg und Triumph nicht fümmert,
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die... ohne Lärm, pflangenbaft unbetouft am Werke fein muß, um Früchte
zu zeitigen.“
So {dreibt nur ein Mann, der einen tiefen etbifchen Fundus in ſich
trägt. Leberdies war Polenz eine ausgeprägte Gührerbegabung. Seine
Werke wollen den BolfSgenofjen die Wege zu wertvollen Ideen und Ide⸗
alen weifen. Gr fab feine Kunft in erfter Linie unter dem Gefidtspuntte
moraliſcher Berpflidtung gegenüber DBaterland und Bolt und Kultur. _
Darin berührt er fid) mit Jeremias Gotthelf: nur daß er im ®egen-
fate gu dem Schweizer den Sigenwert der Kunft hod einfchäßte.
Wer Poleng tennt und um die ungehobenen Schäte weiß, die fein
Werk birgt, und bie fic dem willig fchenten, der fommt und fie begehrt,
dem muß die zur Zeit gang ungenügende Wertfchäßung und Kenntnis des
Dichters im eigenen Gaterlande wehe tun. Wer aber Poleng fennenlernt,
der muß ibn lieben und wird ihm Die Wege zum Herzen feines Bolfes nad
beftem Können gerne ebnen helfen. Wilhelm Sholen.
Reihsbühnengefeh
und Befucherorganifationen.
syn Reidstag wird in feiner nadften Tagung eine Regierungsporlage
gugeben, Deren Srledigung über weite Zufunft des deutſchen Theaters
entideidet. Schon 1914 in Ausfidt genommen, ift das Reidsbiihnengefes
durch widrige Umftände immer neu Hinausgefdoben worden, obwohl vere
altete Beftimmungen, die bas Theaterwefen gewerbepolizeilichen Vor⸗
ſchriften unterftellten, dringend Aenderung verlangten. Man fann ber
Meinung fein, daß diefe zufallhafte Verzögerung eher der Gade zugute
fomme. ®erade im lesten Jahrzehnt nämlich Hat fic in ber, an foziolo-
gifhen Wendungen nicht eben reichen Gefdidte des deutſchen Theaters
eine Wandlung angebahnt, ber aud) Das befte Borkriegsgefet nidt Ned)»
nung getragen hätte und nidt Rechnung bätte tragen fönnen. An Stelle
der individualiftifchen Entwidlung, Die das neunzehnte Zahrhundert bee
berrfdte, ift eine tulturfogiale Betradtungsweife getreten. Sheaterpolitif
— ein Degriff, der uns heute {don ſchlank geläufig ift — gibt es mit bem
Recht des Wortes erft feit den lebten Gabren des Krieges und ben erften
der Nachkriegszeit, wenn fie auch in ihren Bilbungen, insbefonbere den fo
genannten Landesbiihnen, erftaunlich weit fortgefchritten erfcheint.
Wiederum Lönnte dieſe Schnellfertigfeit eines tbeaterpolitifchen
Shftems faft den Wunfd erweden, es möge ihm in einem vorhandenen
@igengefe der Bühne einige Hemmung entgegenftehn. Denn diefes
Spftem ift nicht organiſch gewachfen, nicht aus den inneren Bedingniffen
Des Theaters und einer in der Sat geänderten foziologifchen Funktion bers
porgegangen. Gs Hat, zum wenigften in Preußen, augenblidlide Hilflofig-
teit eines theaterfremben Sheaterbezernenten zum Anlaß, es ift von
Organifatoren gum Swed erfunden worden, indes bie Anfage der wirklichen
Wanblung in ibm als zufammenhanglofe Zutaten oder als voreilige Bers
fpredungen erfdeinen.
Die Preußifche Landesbühne, gegründet 1921, gebt in ihrer jebigen
675
@eftalt auf einen Entwurf des Biihnenbolfsbundleiters Wilhelm ®erft
zurüd. Die einzelnen ®ebdanfen find zum größten Zeil nicht fein geiftiges
Gigentum, hingegen fann er Die realpolitifche Leiftung uneingefchränft
für fidh in Anfprud nehmen. Der Theaterdezernent des preupifden Kul-
tusminifteriumg befand fid Damals in bedrängter Lage: Eine Anzahl von
Bühnen erhoben in der fon weitergreifenden Inflation fteigende Forde-
rungen, ohne daß man fie aus den nod) nicht gleitenden Statmitteln hätte
befriedigen können. Zudem erfolgten diefe Forderungen ohne alle Regel,
Gadfenntniffe befaß nur der politifd ifolierte Referent. Bei biefer
Lage mußte der Gerſtſche Plan als Hilfe in ber Not erfdeinen. Gr bat
aud in der Sat gehalten, was er fistalifd verſprach. ®erft, mit feinem
Berbande urfprünglih in reiner Kampfftellung gegen die „Boltsbühne“,
wußte den weltanihauliden ®egenfat und Die Interejfengemeinfchaft der
Organifatoren poneinander zu trennen, er gewann die Bolfsbiihne zu einer
paritätifhen Yufammenarbeit, wobei es ibm in der Auswirkung zugute
fam, daß er felbft in eben diefer Zeit eine politiſche Rechtsſchwenkung poll»
führte. Ift die Bollsbühne aud nicht fogialbemofratijd, wie ihr zu Unrecht
nadgefagt wird, fo ftebt fie Dod in ihrer Qufammenjfegung Der politifchen
Rinfen näher. Go war es mdglid, Burd entfpreddiende Fühlungnahme
ber beiden Organifationsleiter dem Kultusminifterium für feinen Theater-
etat den Rüdhalt gefdloffener Suftimmung des preußifhen Parlaments
bon der duferften Rechten bis zur Außerften Linfen zu verfchaffen.
Betradtet man die Preußifche Bandesbühne bon Hiefer Seite, fo find
ihre Berdienfte unbeftritten. Wenn die Angehörigen der Deutiden Bühnen
während der größten Inflationsnot in Das Reidsausgleidgefes einbe-
zogen wurden und Die Städte nur fo ihre Theater aufredtguerbalten dere
mochten, wenn feitdem eine Anzahl pon Bühnen mit regelmäßigen Zu-
Thüffen verfehen worden find, fo verdanten fie das großenteils den oft
gegen heftigen fiskaliſchen Widerftand aufdrängenden Sejchäftsführern der
Preußiſchen Landesbiibne, als welche die Leiter der beiden Organifationen
aus Diefer Leiftung mit Redt beftellt erfcheinen könnten. Ja, befchräntte
fih die Preupifhe Landesbühne auf dieſe Mittlerrolle, es wäre gegen
fie und ihren Aufbau faum mit einigem Fug etwas einzuwenden. Sang
abgefeben bon der wirtfchaftlihen Auswirkung — es ift [don eine Sat,
Die Gace der deutſchen Bühne zu einer alle Parteien überbauenden dffent-
liden Angelegenheit gemadt zu haben.
Aber die Zeit ift nicht die Zeit befcheiden großer Taten im Bereid des
Organifierbaren. Schon die erfte „Dentfchrift über den Aufbau der preu-
Bifhen Landesbühnenorganifation“ erfdredte durch ein Ueberangebot bon
Veiftungen, die dDiefe Bandesbühne bewirten werde. Was irgend an theaters
politifden Oedanken fchüchtern zutage getreten war, erfdien bier als une
mittelbare Berfiindigung eines idealen Suftands: Sozialifierung, Popu-
larifierung, Kultivierung, wirtfchaftlide Gefundung des Theaters, Anteil
der Mafjen, der theaterIofen Orte an der geitgendffifmen Bühnenkunft —
alles das mittels einer auf neuen Betriebsformen berubenden „Planwirt⸗
{daft“ und innerhalb eines lebendigen, auf jede kommende Entwidlung
„eingeftellten“ Organifationsipftems. Original war an Diefer zujammen-
geftoppelten Zielfebung nur eins: der ®laube, ein foldes Programm aus
676
der reinen Organifation verwirklicden zu können. Im übrigen ging Die
Hingende Schlagwortlifte wefentli auf zwei Gedanken zurüd, Die, aus
dem Seater felbft erwachſen, [don erfte Oeſtalt gefunden batten: Die ges
meinniifbige Wanderbübne für die theaterIofen Heinen Städte
ift vollsbildnerifh eine Schöpfung des Rhein-Mainijhen Berbands für
Volksbildung, ihre fiinftlerifde und organifatorifhe Ausformung bat fie
por allem durch die Schwäbische Volksbühne und das Frankfurter Künftler-
theater erfahren, auf deren programmatifder und beifpielbafter Arbeit
das ganze Wanderbühnenweſen feitbem beruht. Was aber die Plantwirt-
(daft betrifft, fo ift fie nur die Berbegrifflidung einer wiederum aus den
Kreifen der Wanderbühne herborgegangenen ſchöpferiſchen Idee: in orga-
nifchem Aufbau bon unten Her die Sheater ganzer ®ebiete zu OGroßbühnen
unter einem einheitlichen organifatorifhen und fin ftlerifden Willen
gujammengufaffen. Nichts bezeichnet die Entwidlung mebr, als Daß bie
urfpriinglide Bayriſche Landesbühne, in der dieſer Oedanke, wenn aud
mit ungulangliden Mitteln, verwirklicht war, dem Preußiſchen Syſtem der
Berwaltung pon oben erliegen mußte. °
Uebrig bleibt fomit als eigener Sug der Preufifden Landesbiihne nur
eins: Anfprud und Ueberzeugung des Biihbnendolfsbunds und der Bolfs-
bühne, daß die Sufunft bes deutſchen Theaters mit dem in ihnen dare
geftellten Organifationsgedanfen gleidgufegen fet. Man ift im Anfang
nicht gang fo felbftficher gewefen. Wenigftens fprad man, als die Sefdafts-
führung des balbamtliden Unternehmens an die Seneralfefretdre Der Bere
bande überantwortet wurde, gunddft bon einer „Borlöfung“. Dennod
ift das Statut fofort auf die Bebürfniffe der beiden Organifationen guge-
Ichnitten worden. Nicht nur haben fie — aud Heute nad fünf Jahren
„Borlöfung“ — die Sefdaftsfiibrung in Händen, bilden fie gufammen mit.
dem aus befonderer Lagerung der perfonalen Berbaltniffe überall mit
ihnen gleidgebenden preußiſchen Kultusminifterium die Mehrheit in dem
zentralen Auffichtsrat, zu dem dag lebendige Organifations[pftem ver⸗
{Hrumpft ift: unter Der Rubrif der Popularifierung find fie zugleich Der
SHauptzwed ihrer offiziöfen Mühewaltung. Das ganze Sufdupwefen ift
auf ihre Ginridtungen eingeftellt, wobei eine feinft ausgewogene Klaufel
fie inftand fett, als objektive Sadwalter Des deutſchen Theaters in Breußen
jeden auflommenden Wettbewerb, der ihren Berbänden erwadjfen Tönnte,
Hintanzubalten.
Daß ein foldes Shftem zu einem beftenfalls naiven Mißbrauch der
eigenen Bormadtftellung führt, war bon vornherein zu folgern, die Gre
eigniffe haben Erwartetes beftätigt. Keine theaterpolitiihe Maßnahme
der Landesbiihne, die nicht guerft den bejonderen Interejfen des Bühnen-
polfsbunds und der Bollsbühne guftatten gefommen wäre! Beborgugte
Anterftügung ihrer meift erft mit Öffentlichen Mitteln gegründeten Wander--
bühnen, Drud auf Städte, Bolfsbilbungsvereine, beftehende Unterneh-
mungen gang oder in Anteilen den Organifationen zu überantworten, feine:
Befebung eines Sntendantenpoftens, auf die das Kultusminifterium direkt
oder indireft Einfluß bat, ohne Daß Damit zugleich für Die eigene Bolitit
®efolgihaft geſchaffen, Segnerfdaft, Deren man fid im Notfall auch ge⸗
waltjam zu entledigen weiß, nad) Möglichkeit ausgeichloffen würde.
677
Sieht man bon den dabei porgelommenen, felbft Durch die befte Sache
nicht zu rechtfertigenden Uebergriffen ab, fo wird niemand berfennen, Daß
bie Selbftbegünftigung ber Organijationen feinem an ſich Tchlechten
Swede zugute fommt — ein Umftand, der am meiften mit Dazu bei—
trägt, Das gutiefft Unfrudtbare der Landesbühne gu verhüllen. Wer wird
es nicht begrüßen, wenn ein gemeinniigiger Berband auf ®rund ftaatlider
Anterftügung eine gute Wanderbühne unterhalten Tann? (Ghenfo wie die
DBefucherorganilationen als folde bon feinem ernften Bühnenleiter im
Reid vermißt werden möchten.) Aber die Landesbühne follte mehr fein als
ein Berbandsorgan: Sachwalterin der deutfden Sheaterintereffen über-
haupt mit der Berpflidtung, bie theaterpolitifden ®edanten der Seit zu
entwideln und jchöpferifch zu verwirklichen.
Bon da aus gejehen aber ift ihre Arbeit im Jabrfiinft ihres Beftehens
ohne Ergebnis geblieben. Was durch Organifation allein gefdeben fann,
geſchah: Ausdehnung, eine Anzahl Wanderbühnen, bas eine oder das
andere Städtebundtheater (wohl aud mit Haglidem Ausgang), aber feine
einzige theaterpolitiihe Neubildung, nichts, bas das Borhandene aud nur
um ein weniges innerlich wettergebradt hätte. So bleibt im ®efamtabfchluß
das fistaliich-politiihe Berdienft und, gleidfam im Segenftof, bie all-
mablide Srwedung theaterpolitifmen Denfens. :
Im Segenftoß: Wenn die Preupifde Landesbühne einen Programme
puntt auf dem Papier gelaffen bat, fo ift es der feierlich an erfter Stelle
ftebende: „bie Schaffung eines Iebendigen Organifationsfpyftems, bas alle,
Die gewillt und berufen find, an der Erhaltung des beutfchen Rultur-
theaters mitzuarbeiten, in freier Entfaltung organifeh am Geſamtwerk be»
teiligt.“ Daß Berufs-Organifatoren Gigenlebendigfeit des bon ihnen über-
fponnenen Organismus wollen könnten, ift beftenfalls Selbfttäufchung.
So wurde denn aud) Theaterpolitif (wie vieles im heutigen Staat) gerade
Dur) die Landesbühne zu einer Art [dein-dffentlidher ®eheimlehre, fo
Hat man folgerichtig die urfpriinglid) dezentralifierend gedachten Provinz⸗
biihnen langfam verfümmern Iaffen. Was aber die Träger der lebendigen
Bühnen felbft angeht, die dod) als erfte berufen fein dürften, an ber Gre
Haltung des Kulturtheaters mitzuarbeiten, fo gefdiebt ihre Beteiligung
nur nad) Maßgabe der Anerfenntnis, die fie dem beftehenden Syſtem
entgegenbringen, indes man Der „freien Gntfaltung* bes Programms dur)
deforative Spitenfühlung mit den verbandspolitifch vorbelafteten Standes-
pertretungen ausreichend zu genügen bermeint.
Dennoch könnte eine aus dem Organifden ertoadfende, bon der Schau
der einen großen Bolf-Bühne befeuerte Sheatergeftaltung heute „im See
+ genftoß* auf breiterer Grundlage ausgreifen, als bas nod bor einem
Sabrfimft möglid war. Während damals die erften Berfiinder bes Gee
dankens aud) innerhalb des Theaters unverftanden blieben, hat der einzige
Umftand, daß STheaterpolitif inzwifchen eine felbftverftändlidhe fozio-
Iogifhe Erſcheinung geworden ift, Die Geifter für bie richtige Frageftellung,
wenn fie nur erft gefdiebt, empfanglid) gemadt. Ja, war es ben Gee
Ihäftsführern Der Befucderorganijationen ernft Damit, im Aufbau ber
Landesbiihne nur eine ,, Borldfung* zu geben, man müßte ihre Tatigfeit,
aud) Dort wo fie verfagte, mit liebepollem Maß bemeffen.
678
Das Segenteil ift der Fall: Sie haben den offigidfen Apparat bee
nut, jeden Borftoß aus dem Geiftigen, der gewadfenen Grfenntnis theaters
geftaltender Aufgaben realpolitifd abguriegeln. Die Bolfsvertretungen,
ſchon an fic nicht eben fehr geeignete Inftrumente einer tiefer gewurzelten
Rulturauffaffung, find durch Berbindungsleute und die Organifationsleiter
unabläflig im Sinne der Preupifden Landesbühne jebiger ©eftalt be-
arbeitet worden, der Bühnenverein hat — bie Borgänge bei der Aufnahme
des Bühnenvolksbundes beweifen eg — aufs Wort eingufdwenten, Die
angeftellten Intendanten aber, Die die beunrubigenden Auswirkungen des
Spftems am unmittelbarften erfahren, find heute fchon fo in Abbangigfeit
gebradt, daß felbft die erften unter ihnen nur heimlich Darüber murren,
nidts mehr als die „DBotfchafter“ der DBejucherorganifationen zu fein.
®elingt es nocd, die aus fchiefer Sntereffenpolitif fampfende Bühnenge-
noffenfchaft gu gewinnen, was durch Konzeſſionen an ihre Sonderwünfche
jederzeit möglich fein dürfte —, wo foll fi im Ringen um bas Reichs-
‚bühnengefeb der ®eift aus der Gade zur Machtwirkung fammeln, zumal
dem den Dingen nicht nächſt Bertrauten nur zu leicht jede Kritit der bes
ftebenden Fehlordnung als unverftandlide Oegnerſchaft gegen die fic ihrer
DBerdienfte hod berühmenden DBefuchernerbände erfdeinen muß?
Dabei fann man fehr wohl der Meinung fein, daß ihnen aud in dem
echten Aufbau aus der Gade, gerade aus dem fulturfogialen Sinn
der neuen Bewegung, die ehrenpollite Stellung und der ftärlfte Ein-
fluß gufomme — und Doch den von ihnen gefdaffenen Zuftand aufs bef-
tigfte befampfen. Schon ihre bevorredtete Unterftiigung ift einer freien
Sntfaltung, nicht nur des deutſchen Theaterwefens, fondern aud) der deut⸗
fen Bejuderfdaft abtraglid. “Bolfsbiihbne und Biihnenvolfsbund find
nur zwei vorläufige Bildungen im Umkreis möglider Bejuderorgani-
fationen, deren weitere Gntftebung, in den Gabungen des Preupifden
Inftituts theoretifd zugelaffen, durch bie Gleidjebung der Landes-
bühne und der beiden Berbände praftifch bewußt bintangebalten wird.
Bor allem aber tft eine Ordnung unerträglich, Die das Subjelt einer jeden
Sheaterfultur, bie Bühne felbft zum bepormundeten Gegenftand einer be»
bördlichen und gewerkfchaftlihen Bürokratie madt, begiebungsweife es
nur nad) dem Maße feiner Gefiigigfeit zu den Entſcheidungen über feine
ureigenften Angelegenheiten beranziebt. Wo ware ein Induftrieunter-
nehmen denkbar, eine Hochjchule, eine Zeitung, die fih Rationalifierungen,
neue ſchoͤpferiſche Formen ihres Dafeins von Organifationen feiner Ab⸗
nehmer, ihrer Hörer, ihrer Abonnenten auforganifieren ließe? Das deutſche
Sheater aber foll, weil alles Organiſche fic) aus echter Geſetzmäßigkeit
lIangfam entwidelt, in feiner Gntwidlung bon denen beftimmt werden, Die
aus dem Spürfinn des Zeitgemäßen und mit einem Organifationsgedanfen,
Der jedem beliebigen Inhalt gleich bereit ift, guerft am Plate waren? Dabei
ift {don jede einzelne Bühne Beweis, wie gerade im Theaterweſen fünft-
lerifde und organifatorifhe Form ein einziges Ganges bilden. Es geht
leicht an, das Unfchöpferiiche der Landeshühne auf dupere Umftände, Dag
Seblen bon Mitteln (urfpriinglid hatte man zu fparen verſprochen) auf
Widerftande von Stadtverwaltungen, bon Rechtsträgern beftehender Biih-
nen uf. guriidgufiibren. Aber die gleichen Mittel, auf eine Anzahl unnd-
679
tiger oder boreiliger Gingelaufgaben verwendet, batten vielfach gereicht,
wenn fie ber Ginbeit eines fchöpferifchen Plans zugute gefommen wären.
Aber die Widerftände find nur zu beredtigt, wo nicht die Viſion leibbaf-
tiger ®eftaltung eines großen Zielbilds über alle perfönliden Bedenten
und Gigenfiidte Hinwegzureißen vermag. Das durch Organifation und
behördlich politifhe Maßnahmen zu bewirken — unfeliger Wahn, der die
deutſche Bühne vielleicht gu einem fatt und träge funktionierenden , Bee
Tpielungsinftitut* machen, nie aber fie befähigen wird, Die lebte Aufgabe
zu Iöfen, Die ihr geftellt ift: bie Mationalbiibne, die Sehnfudt und Gre
füllung unferer Klaſſik war, zu jener Gorm der Bollendung zu führen,
in Der nicht mehr nur, wie Ooethe es wollte, Bühne und Saal, fondern über
alle örtlide und Soziale Begrenzung binaus, Bühne und Bolt erft ein
@anges machen.
Berufen und gewillt zu diefem giele mitzumirten find alle, Denen
die Sade des deutſchen Theaters am Herzen liegt, und fo in erfter Linie
aud die Befuderorganifationen. Aber die Führung gebört in Die
Hände des Künftler-Organifators, der, dem Theater der Zeit aufs innigfte
pertraut, zugleich die Kraft der Anfdauung und die theaterpolitifde
Fahigkeit befißt, den großen @edanfen ber einen Deut{den Boll-Bühne im
freien Widerfpiel der Afthetifchen, organifatorifchen, weltanfdauliden Oe⸗
ftaltungen wirklich werden zu laffen. Nicht die Kunftftüde realpolitijder
Winfelgiige werden dabei Die ®rundlage feiner pulfenden Tatigfeit fein,
fondern die Ueberzeugung, Daf es als erftes gilt, Sheaterpolitif aus un»
mittelbarer Arbeit aller „Sewillten und Berufenen“ am iiberfehbaren Werk
lebendig zu machen, zu dezentralilieren anftatt gu zentralifieren, neue Bile
Dungen organif{dh zu weden, Widerftände zu überwinden nicht aus dem
Shader des Borteils, fondern aus der Macht höherer Sielfegung, die
Opfer verlangen darf, weil fie Opfer verlohnt.
Selbftverftändlihe Forderung für jeden, der Das Gefek echten Wads-
tums ebrfiirdtig erfennt! Aber fo wenig felbftverftändlih für unfere dem
Ueberwuchs des Organifationsgedanfens, der realpolitifen Klitterung un»
begrenzt geöffneten Beit, daß, wie fie bor einem Jahrfünft bie „Borlöfung“
der Preußifhen Landesbiibne nit bat bintanbalten fönnen, Heute erft
recht ein Wunder Dazu gehörte, die „Beranferung“ bes beftehenden Zu⸗
ftands in einem Reidsgefeh zu verhindern, Bas Die Idee eines
organifh bon innen erwadhfenden Sheaterftaats auf
Sabre hinaus unter bem Theater Des Staats und der
Organifatoren verfhüttet. Adam Kudhof f.
680
nvbnw wi aqryjursonvg, unjsnog UaHlynag wae any
Griefenes
Alte Deutfde Bolls-Liebeslieder.
1. Schein uns, du liebe
Sonne.
dein uns, du liebe Sonne
gib uns ein Hellen Schein.
Schein uns zwei Lieb gufammen,
Die gern beinander fein.
Dort fern auf jenem Berge,
Da liegt ein falter Schnee.
Der Schnee Tann nicht zerichmelgen,
Sotts Wille muß ergehn.
Sotts Wille ift ergangen,
zerichmolzen ift Der Schnee.
©ott gefegn eud) Batr und Autter,
ich feh euch nimmermehr.
(Aus dem re Liederbud.
2. Der Maie, der Mate.
er Maie, der Maie, —
»@/ der bringt uns DBlümlein viel,
id trag ein freis Gemiite,
®ott weiß wohl, wem fds will.
Ih wills eim freien ©efellen,
derfelbig wirbt um mid,
er trägt ein feiden Hemat an,
Darein fo preift er fi.“
Gr meint, es fung ein Nadtigall,
da wars ein Jungfrau fein,
und Tann fie ihm nit werden,
trauret Das Serge fein.
(Aufbewahrt von Hans Gads, 1557.)
3. Wie fhön blüht uns der
Maie.
ie ſchön blüht uns der Maie,
der Sommer fährt dahin.
Wir ift ein [hin Sungfraulein
gefallen in meinen Ginn.
Bei ihr, da wär mir wohl,
wenn id an fie gedenfe,
mein Herz ift freudendoll.
Wenn id) des Nachts will ſchlafen,
fommt mir mein Geinslteb für,
44 Dentides Volkstum
und wenn ich dann ertoade,
bei mir id niemand fpür.
Erſt hebt fid an ein Klag,
wenn ich bon ihr muß fcheiden,
das madt mid) alt und grau.
Gin Blimlein auf der Heiden
mit Namen Wobl gemut
laß uns der lieb Gott wachſen,
ift uns für Trauren gut,
GergifPmeinnidt dabei —
Orüß fie mir Gott im Herzen,
die mir die Liebfte fei.
(Nad einem fliegenden Blatt um 1530.)
4. Die DBrünnlein, Bie ba
fließen.
ie Griinnlein, die da fließen,
Die foll man trinfen,
und wer ein fteten Bublen bat,
der foll ibm winfen,
ja winten mit den Augen
und treten auf den Fuß.
Gs ift ein barter Orden,
der feinen Bublen meiden muß.
(Aus Ott „121 neue Lieder“, 1534.)
5. Bei meines Buhlen
Haupte.
PB meines Bublen SHaupte
ba ftebt ein goldner Schrein,
Darin da leit verfchloffen
bas junge Serge mein.
Wollt Gott, ich Hatt den Schlüffel,
ich würf ihn in den Rhein.
Wär id bei meinem Bublen,
Wie finnt mir bah gefein!
Bei meines Bublen Füßen
da fleußt ein Griinnlein falt,
und wer des Briinnleins trinfet,
ber jungt und wird nit alt.
Sd bab bes Brünnleing trunfen
fo manden ftolgen Srunf,
piel lieber wollt ich küſſen
meins Bublen roten Mund.
681
In meines Bublen Garten
da ftehn viel edler DBlüt.
Wollt Gott, ich follt ihr warten,
erfreut es mein ®emüt,
die edlen NRöglein brechen,
denn es ift an der Seit,
id trau fie zu erwerben,
die mir im Herzen leit.
(Nad den Bergfrethen, 1536.)
6. Mirifteinrot®old-
fingerlein.
ir ift ein rot ®oldfingerlein
auf meinen Fuß gefallen.
Ich mddt es heben und darf es nit,
die eut, die febens alle.
(Aus Ott re neue Liedlein“,
7. Dort nieden in jenem
Holze.
ae! nieden in jenem Solge
leit fic ein Mühlen ftolz,
fie mablt uns alle Morgen
das Silber und rote ®old.
Port nieden in jenem Orunde
ſchwemmt fid ein Hirfchlein fein,
was führt es in feinem Munde?
Bon Sold ein Ringelein.
Hatt ich des Ooldes ein Stüde
zu einem Ringelein,
9. Ab Slslein.
I? Gislein, liebes Glfelein,
Z wie gern wär id bet Dir,
fo fein zwei tiefe Wafer
wohl zwifchen mir und Dir.“
„Das bringt mir große Schmerzen,
bergallerliebfter Geſell,
red id) bon ganzem Herzen,
bab’s für groß ngefäll.“
„Hoff, Seit werb es wohl enden,
hoff, lid wird fommen drein,
fid in alls Guts verwenden,
beraliebes Elſelein.“
(Aus Ott „121 neue Lieder“, 1534.)
682
meinem Bublen. wollt ids fdiden
zu einem ®oldfingerlein.
Was [dict fie mir denn wieder?
Bon Perlen ein Krangelein:
„Sieh da, du feiner Ritter,
Dabei geben? bu mein!“
(Sranffurter Liederbud, 1582.)
8. MitLufttätihaugreiten.
MU Luſt tät ich ausreiten
dur einen grünen Wald.
Darin da Hirt ich fingen
drei Bdglein woblgeftalt.
ind find es nit drei DBöglein,
fo feing drei Gungfraulein,
fol! mir das ein nit werden,
es gilt das Leben mein.
Das eine heißet Urfulein,
das zweite Babelein,
das dritt bat feinen Namen,
das foll mein eigen fein.
Wer ifts, der uns dies Liedlein
frifd frei gefungen bat? [fang,
Das Hat getan ein Reiter
au Landsberg in der Stadt.
Dabei da bent gefeffen
drei zart Zungfräuelein.
Die habens nit vergelfen
bei Met und fühlem Wein.
(Aus Ott „121 neue Lieder“, 1534.)
10. Sh bört ein Gidelein
rauſchen.
R% hört ein Sichelein raufden,
wohl raufden durd) Das Korn,
id) hört eine feine Magd Hagen,
fie batt ihr Lieb verlorn.
„Kgaß raufden, Lieb, laf raufden,
id acht nit, wie es geb,
id) Hab einen Bublen erworben
in Beiel und grünem Klee.“
„Haft bu einen Bublen erworben
in Beiel und grünem Klee,
fo fteh ich bier alleine,
tut meinem Herzen weh.“
(Bon Ludwig AUhland aus zwei Quellen
des 16. Jahrh. zufammengefügt.)
—
— — ne — — —
11. &8 gingen zwei
Sefptelen gut.
8 gingen zwei Sefpielen gut
wohl durch die Heiden grüne,
die eine führt ein friſchen Mut
die andre meinte fehre.
„®efpiele, lieb ®efpiele mein,
was trauerft du fo fehre? [Out
Sag, trauerft du um deines Baters
oder trauerft um deine Ehre?“
„I traur nicht um meines Ba-
ters Out,
ich traur nicht um meine GHre, [Iieb,
wir zwei, wir haben einen Knaben
bilf Gott, wie foll das werden?“
(Nah dem re Riederbud,
13. Ib armes Käuzlein
fleine.
ch armes Käuzlein Tleine,
wo foll id fliegen aus,
bei der Naht fo gar alleine?
Bringt mir gar manden ®raus.
Der Aft ift mir entwiden,
Darauf id ruben follt,
die Läublein fein all verblichen,
mein Herz ift Sraurens poll.
Muß ich von dir mich fheiden,
Herglieb, ganz traurig bin,
es gefchah mir nie fo feide,
ade, id fabr dahin.
(Aus Gorfters „Srifhen Liedlein“ II,
1549.)
12. &8 ftebt eine Lind in
jenem Sal.
8 fteht eine Lind in jenem Sal,
ad) ©ott, was tut fie ba?
Sie will mir Helfen trauern,
daß id mein Lieb verloren bab.
Sd fam wohl in ein Sartelein,
Darinnen id entjchlief,
mir träumet alfo füße,
wie mir mein Lieb entgegenlief.
And da id) auferwachet,
ba war bas alles nichts,
und nur die lidten Röglein,
Die fielen all herab auf mid.
(Nah Berg und Neuber „68 Lieder“,
um 1550.)
¢
14. GS gebt eine dunkle
Wolk herein.
8 geht eine Dunfle Wolf Herein,
mid) Diinft, es wird ein Regen
ein Regen aus den Wolfen [fein,
wohl in das grüne Gras.
And kommſt bu, liebe Sonn, nit
fo wefet alls im grünen Wald, [bald,
und all die müden Blumen
die haben müden Sod.
Gs geht eine dunfle Wolf Herein,
es foll und muß gefdieden fein,
ade, feins Lieb, dein Scheiben
madt mir Das Herze fchwer.
(Aus Werlins Handfdrift, 1646.)
15. Ab Sott wie weh tut [heiden.
d @ott, wie weh tut fcheiden,
bat mir mein Herz verwund't,
fo trab ich über die Heiden
und traur zu aller Stund.
Der Stunden, der find alfo viel,
mein Herz trägt heimlich's Leiden,
wiewohl id oft fröhlich bin.
Sit mir ein Gartlein bauen
bon Geil und grünem Klee,
ift mir gu früh erfroren,
tut meinem Herzen web,
44°
ift mir erfrorn bei Sonnenfchein
ein Kraut Geldngerjelieber,
ein Blümlein Bergifnitmein.
Das Blümlein, bas ich meine,
Das ift bon edler Art,
ift aller Sugend reine,
ihr Mündlein, das ift zart,
ihr Aeuglein, die find Hibfd und
Wenn id an fie gedente, [fein.
fo wollt ich gern bei ihr fein.
683
Gollt mid meines Bublen ere
[wegen*,
als oft ein andrer tut,
follt fiibr’n ein frdblids Leben,
Dazu einen leiten Wut?
Das fann und mag Dod nit gefein.
Gefegn did Gott tm Herzen,
Ss muß gefdieden fein.
(Nah GForfters ,, Grifdhen Lieblein“ III,
1549.)
* Sid [osfagen.
16. Der Morgenftern ift aufgegangen.
er Morgenftern ift auf-
gegangen,
er Ieudt Baber zu Diefer Stunde,
bod über Berg und tiefe Tal,
©ott fig der Jungfrau Chr, dem
Held fein jungen Leib.
„Fahr bin, feins Lieb, daß Sott
bid) bebiite!
bor Freud fingt uns Die liebe Nach⸗ Wich madt das Scheiden alfo milde,
tigall.
Der Wächter fingt wohl an der
Zinnen,
wedt auf den Selb mit fadtem
Sinnen:
n road) auf! es ift wohl an der Zeit.“
es bat mein Herz von Freud in
Srauern gebradt,
da ich bon Dir muß fcheiden. Abe zur
guten Nacht!“
(Nah dem Niederdeutfhen Liederbud,
um 1699.)
17. Da droben auf jenem Berge.
a droben auf jenem Berge,
ba ftebt ein goldenes Haus,
da fchauen wohl alle Frühmorgen
Drei fine Jungfrauen heraus.
Die eine, Die heißet Clifabeth,
Die andre Bernbarda mein,
Die Dritte, Die tu ich nicht nennen,
fie foll ja mein eigen fein.
Da drunten in jenem Tale,
Da treibt das Wafer ein Rad,
das treibet nichts als Liebe bom
Morgen bis Abend fpat.
Das Miiblrad ift gerbroden,
die Liebe die bat fein End,
und wenn fi zwei SHerzlieb tun
ſcheiden,
fo reichens einander die Hand.
Ab Sceiden, ad) Scheiden, ach
Sceiden!
Wer hat bod bas Scheiden erdadt?
Das hat ja mein jungfrifd Herzelein
aus Freuden in Trauern gebradt.
Dies Liedlein hat Hier ein Ende,
Es Hats wohl ein Müller erdadt,
den batte des Ritters Töchterlein
pom Lieben zum Scheiden gebradt.
(Aus Weftfalen. In ahnliger Zaffung
guerft aufgezeichnet 1784.)
Aus Wilhelm von Polen’ „Büttnerbauer“*.
m Sonnabendabend war der alte Büttner zum Dorfbader gegangen und
batte fich feinen Bart abnehmen laffen. Sonntags beim Morgengrauen
nahm er feine Geiertagsfleiber aus der Lade, den langſchößigen Tuchrod,
Der zur Hochzeit neu gewefen war, die Wefte mit den Perlmutterfndpfen,
ben Sblinder, der ibm nun aud {don air dreißig Jahre Dienfte getan hatte,
und ber troß alles Streichens mit dem Rodärmel nur immer widerhaariger
wurde.
Traugott Büttner ging zum Tifd des Herrn.
Sn feinem Feiertagsftaat, bas Gefangbud in der Hand, fdritt er Die
Dorfftraße hinab. Gr blidte nicht rechts nod links, nur auf feinen Weg.
* Wir geben dag Schlußfapitel wieder. Das Werk ift in der Deutihen Bere
lagsanftalt in Stuttgart erfdienen.
684
— — + a
——
Andere Altarleute, die ihn überbolten, blidten ifm erftaunt ins
Geſicht.
Sa, war denn das wirklich der Büttnerbauer! Oder war es fein Geiſt?
Die bleihen Wangen, nicht mehr bom Bart verftedt, zeigten fest erft ihre
ganze boble Magerfeit.
Gr erwiderte feinen der vielen Morgengrüße, die ibm bon allen Seiten
geboten wurden. Sein ®ang war Iangfam aber feft, die Blide hielt er ftarr
geradeaus gerichtet.
Man ftedte die Köpfe gufammen. „Sabt ad, Büttnertraugott giebt
beiten!” — Er war eine ungewohnte Erſcheinung geworben in der Kirch⸗
fahrt.
Deim Hauptgottesdienfte, der Der Kommunion folgt, nahm Büttner
feinen altgewohnten Rirdenplay ein. Bieler Augen waren auf ihn ge-
richtet; e8 war, alg ob nad) langem Rranfenlager einer wiederum unter
Menſchen geht. Selbft der Geiftlide [Hien unter dem Eindrude zu ftehen,
Daß Heute ein befonderer Saft in ihrer Mitte weile; er [prad) einige Male
mit Betonung nad jener Ridtung bin, wo der alte Mann faß.
Der hörte der Predigt bom erften bis gum legten Worte mit Aufmerk-
famteit gu. Beim Schluffe des ©ottesdienftes opferte er feinen Orofden,
wie er es bon jeher getan, fo oft er das Abendmahl genoffen.
Wan wollte ihn anreden, als er aus der Kirche trat. Alte Freunde
drängten fid an ihn heran. „Nu Traugott!“ hieß es, „wu Haft du denn fu
lange geftadt?“
Gr ſchien für bie Frager feine Zeit zu haben. Mit eigenartig ernftem
Blide fab er die Leute an, fchüttelte den Kopf, wandte fid und ging. —
Mander, der jest faum darauf geachtet, follte fid) fpäter daran erinnern.
— ,@®rabe als ob ’r d'ch Burd) und durch bubren wollte; und duch als ob ’r
gang wu ander[d bin fate,“ jchilderte ein Zeuge nachmals diefen Blid.
Dann fei er auf einmal berfdwunden aus der Menge der Kirchgänger;
feiner wollte wiffen, wie Das gefdeben.
Sraugott Büttner fchritt auf feinen ehemaligen Hof zu. Heute war das
Haus men|denleer; des Feiertags wegen arbeiteten die Handwerker nicht.
Gr ging in die Kammer, legte die Feiertagskfleider ab und zog die
Werkeltagskleider wieder an. Dann legte er die guten Sachen forgfältig
aufammengefaltet auf einen Stuhl, das Sefangbuc zu oberft auf das
Bündel.
Nachdem er das beforgt, begab er fid in den Stall. Gr ftedte den
Kühen Futter auf, reichlich, für zwei Mahlzeiten. Den Schweinen fchüttete
er Srebern bor und gop einen Reft bon Milch darüber zu einer rechten
Seiertagsmahlzeit. Darauf fab er fid) nod einmal um, wie um fic) gu über-
zeugen, daß alles befdidt und in Ordnung fei. Dann madte er die Tür
Dinter fid) zu und fchritt zum Hofe hinaus auf dem Wege bin, der nad
dem Walde führt. |
Wad einer Weile madte er Halt, wandte fid um. Hatte er etwas ders
geffen? — Gr wollte nur das Dach nod) einmal feben, unter dem er Seit
feines Lebens gebauft hatte. Dort ragte ber freundliche Siebel über Die
Scheune hinweg.
685
Der alte Mann hielt die Hand über die Augen, um fie bor den blen-
Denden Strablen der Frühjahrsſonne zu [hüßen. Er ftand da eine Zeit-
lang, betrachtete alles noch einmal gang genau; Das würde er nicht wieder
feben!
Dort auf den Scheunenfirften war {don wieder mal das Stroh Iofe
geworden; es fträubte fid wie unordentlihes Haar nad allen Richtungen.
Daß er das bisher gar nicht bemerkt hatte! — Wun, der Neue würde das
{don in Ordnung bringen!
Ihn fröftelte auf einmal.
Warum Stand er denn bier eigentlihH? Was wollte er denn? — Ja,
ridtig! Nur fchnell! Je eher, je beifer! Wozu bier ftehen und gaffen? Das
nüste ja Dod nichts! Aber das Strohdad... Er hätte gar nicht gedacht,
daß der Wind neulich fo ftarf gewefen wäre! — Gr war felten bier heraus-
gelommen in der lebten Seit, weil ibn Die Ziegelei drgerte! Ach, Diefe
Ziegelei! Das ganze Gut war fchimpfiert. Dort blidte bie Eſſe por; er
modte gar nicht binbliden!
In weitem Bogen umging er Das Baumwerf; bis er hinter der Ziegelei
wieder auf den Hauptweg des utes fam.
Wieviel taujend und abertaufendmal in feinem Leben war er diefen
‘Weg Hinausgefdritten! Bu allen Gabresgeiten, ledig und mit Birbe,
allein oder in ©efellichaft der Frau, der Kinder, mit den Gefpannen. Vom
Büttnerſchen Hofe fam der Weg, führte dur Büttnerfche Felder und
Wiefen, lief in den Biittnerfden Wald aus. Gine halbe Stunde und mehr
fonnte Der Bauer geradeaus fchreiten, ohne bon feinem ®rund und Boden
Herunterzulommen.
Hier war er umgeben bon den Zeugen feines Lebens und Wirkens.
ener Elobige Steinblod erinnerte ihn an die tagelange ſchwere Arbeit,
mittels Der er ihn aus Bem Ader gehoben. An diefer Gee war er in früher
Sugend bewahrt worden bor Unfall wie durd ein Wunder; die Pferde
waren ſcheu geworden, batten den Knaben gejchleift; als der Bater des—
felben Weges fam, fid den Tieren entgegenwarf und fo des Kindes Leben
rettete. Dort jenen wilden Rofenftraud) batte er ftebenlaffen, während
rings alles Gebüſch gerodet wurde, der Hagebutten wegen, aus denen die
Bäuerin ein [hmadhaftes Mus zu bereiten verftand. — Hier hatte jeder
Supbreit Landes Bedeutung für ihn, jedes Hälmchen erzählte ihm feine
Oeſchichte.
Jetzt verließ er den Hauptweg, ſchlug einen ſchmalen Gang zwiſchen
zwei Feldern ein. Dabei ſtieß er auf einen friſch geſetzten Orenzſtein. Das
war die neue Einteilung! — Alles hatten ſie ihm durcheinander geworfen;
die Grenzen, die Schläge, die Fruchtfolge.
Da war ein Stück mit junger grüner Saat. Hafer konnte das nicht ſein.
Ja, zum Teufel, was war denn das? — Der Bauer blieb ſtehen, bückte
ſich, betrachtete ſich die Hälmchen genau. Das war ja Gerſte! — War der
Menſch verrückt, bier ®erfte zu bauen, auf dieſem naſſen Zipfell Der
würde fid) mal wundern im Serbft, was er bierbon ernten mochte! Er
mußte Dod feinen Ader fennen. Hier gerade war undurdläffiger Ton-
boden und immer Näffe. Da wollte fold ein Sfel ®erfte Bauen! — Der
Alte ladte grimmig in fic hinein.
686
Aber er hatte ja noch was bor Heute. Richtig! —
Gin Heiner Schauer lief ihm den Rüden hinab. Mur die Furcht nicht
Herr werden lafjen! Die Sache war fchnell vorüber, wenn man’s richtig
anfing. Sr überzeugte fid) Durch einen Oriff in bie Brufttafche, daß das,
was er braudte, auch da fet.
Was fie wohl fagen würden, wenn fie ihn erft gefunden haben würden!
— Was feine Peiniger da fagen würden! — Kafchelernft, der Hund! Dort
lag fein Geld. Sein Korn ſchien gut zu fteben heuer. Wie er ibm im
porigen Gabre die Saat umgeftiirgt hatte, Das war Dod) mal ein gelungener
Streich gewefen! — Der Schimmer eines Ladelns flog über die bers
biffenen Züge des alten Mannes.
Sebt mußte er Halt machen; er war zu fdnell gegangen. Nur Rube!
Gr fam noch zeitig genug! Er warf einen Blid auf das Dorf, das man don
bier aus in feiner ganzen Lange überfehen fonnte, bis zur Kirche hinab.
Eben begannen fie Dort zu läuten; es war wohl zum zweiten ©ottesdienfte.
Büttner nahm unwillfirlid) die Mübe bom Kopfe, faltete bie Hände,
betete ein Baterunfer. Dann feufgte er tief und wandte fid wieder gum
®eben.
Ob fie ihm wohl ein riftlides Begräbnis geftatten würden ?
Dah er als Chrift geftorben und nidt wie ein Heidenmenfd, das
mußten fie doch einfeben! Die ganze Semeinde und der Paftor Hatten ihn
ja in der Kirche und am Altar gefeben. Das mußte dod gelten!
Gs war ja am Ende nit recht in den Augen der Menſchen, twas er
tat, und eine Sünde bor Gott dem Herrn war es aud. Aber fonnte er
denn anders? Tauſendmal hatte er’s erwogen. Wie viele fchlaflofe Nächte
waren darüber bingegangen feit jener, wo ihm der Gedanfe zum erften
Male gefommen! Gs war damals gewefen, als feine Frau unbeerdigt im
Haufe lag. Sr felt Hatte Die Tote gewafden und angelleidet. Still hatte
fie Dagelegen und zufrieden, im Leidenbembe. Da war ibm beim Anblide
des friedliden Angefidts feiner Lebensgefährtin gum erften Male der ®e-
Dante gefommen, wieviel beffer es Dod die Toten Hatten als Die Lebenden.
Sar nicht [dredlid war der Sod; er hatte etwas fo Natürliches und Sutes.
Geitdem ließ ibn die geheime Gebhnfudt nad) der Rube nicht wieder los.
Anfangs hatte ihn oft gegrauft bei dem ®edanfen, wie Hod ein foldes
Ende wider Natur und Sitte fet. Allmählich aber hatte er fid) an die Bore
ftellung des Grauenbaften jo gewöhnt, daß feine Bulfe faum fdneller
gingen, fo oft er daran dadte.
Es gab ja feinen anderen Weg! Sie hatten ihm alles zerftört, tas den
Menſchen ans Leben feifelt. Richtig binausgedrängt war er worden aus
feinem DBefiß, aus allen feinen Rechten. Den Boden Hatten fie ibm unter
den Füßen weggeriffen. Wenn fie’s gefonnt hätten, fie hätten ibm gewiß
aud Licht und Luft genommen.
Gin Bettler war er. Aber ins Armenhaus follten fie ihn dod nicht be»
fommen. Die Freude wollte er ihnen nicht maden, den ehemaligen Bütt⸗
nerbauer im Armenhaus zu fehen. Nun würde er’s ihnen gerade mal
zeigen, Daß er feinen Kopf für fi hatte. Mit guten Lehren und Rat-
[lagen waren fie immer [nell bet der Hand gewefen, aber ihn zu retten,
hatte feiner den Ginger gerührt. Er veradtete fie alle, die ganze Sippe!
687
Daß er nun endlid feine Gefidter mehr zu feben brauchte, war ihm ein
Iangerfebntes Olück. Sie ließen einen ja dod nicht in Frieden, wie tief
man fich aud) verfrod), fie famen einem nad, überallhin, Die geſchwätzige,
neugierige Art. Man mußte fdon gang aus der Welt geben, um Rube
gu haben. Und nad feinem Tode würden fie wahrſcheinlich erft recht Flug
reden. Das hätte er nicht tun follen, würden fie fagen. Gin großes ®ezeter
würden fie anheben. Er fannte fie ja, wie fie waren, faltbergig und gleid-
gültig, folange einer gappelt, und dann, wenn ihm der Atem ausgegangen,
wenn er vberrddelt war, dann famen fie berbeigelaufen, umftanden Das
Opfer mit Tränen und Seufzern und Redensarten.
Aber das follte ihn nicht befümmern, das hörte er ja alles nicht mehr!
— Gr tat, was er für recht hielt. Hier durfte ihm feiner mehr was ‘reine
reden. Mit fic felber fonnte man anfangen, was man wollte. Wer einem
nichts gab, hatte einem auch nichts zu befeblen!
Segt war er feinem Ziele [don ganz nahe. Dort am Außerften Feld-
rande ftand der Baum; ein wilder Kirfchbaum, ſchlank gewachfen. Gin
Haufen Steine, aus dem Yelde gufammengelefen, lag darunter. Die Krone
ftand in voller Blütenpradt, leudtete weithin wie eine weiße Haube. Da-
binter lag das Büjchelgewende.
Der Alte madte Halt. Was war denn bier vorgegangen? Erdhaufden
an Grdbaufden in langen, fänurgerade ausgerichteten Reihen! Und Die
grünen Quirle, Die aus den Haufen berborlugten: junge Gidtenpflangen!
Hatten fie ibm das Bülchelgewende alfo Doch zugepflanzt! — Wie
viele Sage und Stunden miibevoller Arbeit mit Pflug und Sage ftedter
in Dem Boden! Und Diefe Arbeit war für nichts und wieder nichts ge»
wefen. Was er im Laufe eines Lebens der Wildnis entrijfen, hatte bie
graflide Sorftperwaltung In wenigen Tagen zupflanzen laffen.
Alfo aud) dieſes Zeugnis feines Schaffens war vernichtet; fo batten
fie ifm denn alle Mafchen feines Lebenswerfes aufgelöft.
Gr ftand und ftarrte die grünen Spiten ber Fidtenpflangden an.
Sine Dumpfe Wut ftieg in ihm auf.
Da fiel ihm noch zur rechten Zeit ein, wie finnlos fein Aerger fet; er
braudte fic ja nicht mehr gu ärgern. Nichts auf der Welt ging ihn mehr
was an, wie er feinen mehr was anging.
Nod einmal empfand er die ganze Wonne des wirklich Sinfamen, den
Stolg, Die Veradtung des Bediirfnislofen, der im Begriff ift, bas lebte ab»
getragene Gewand bon fic zu werfen.
Gr war mit haftigen Schritten an fein Ziel gelangt. Hier ftand ber
Kirſchbaum, mit dunklem, glänzendem, wie poliertem Schafte, bis ing
fleinfte Aeftchen bon zierliden Bliitenfelden bededt. Die erften Bienen
ſchwärmten bereits in ber Krone.
Sraugott Büttner adtete nicht auf bas Summen und ben Duft. Sr
maß den Baum mit prüfendem DBlide. Hier der unterfte Aft war ſtark
genug. Wenn er auf den Steinhaufen ftieg, fonnte er ihn erreichen. Eine
Schlinge — dann die Füße Iosgelafien, und dann...
Wieder lief ihm ein Frdfteln dur) alle Oliedber. Sin Drud am Halfe,
als würde er ihm zugefchnürt, ein würgendes ®efühl im Unterleibe; bie
Deine Drohten ihm den Dienft zu verfagen.
688
Gr mußte fid, bon Schwäde übermannt, an den Stamm lehnen. Bor
den Augen flimmerte es ihm. Gr ftand ba mit offenem Munde ftieren
DBlides. Gs war zu firdterlid, was er tun wollte: Hand an ſich felbft
legen! Giirdterlid! — Wenn ihm das einer in der Jugend gefagt hatte,
daß er fo enden werde!
Gr betete ein Baterunfer, das erleichterte ibn. Dann richtete er ſich auf;
der Surdtanfall war vorüber.
Gr wollte fterben; taufendmal hatte er ſichs überlegt. Gs war nicht das
erftemal, daß er mit dem Stride in Der Tafde Hier draußen ftand. Bis⸗
ber batte ibn immer nod) der Gedanfe an feine Kinder abgehalten, das
lebte gu tun. Sie follten ihn nicht fo Hängen feben.
Wun waren fie fort. Was die anderen fagen würden, die Fremden, war
ihm gleichgültig.
Heute wollte er’s mal zu Ende führen. Gr war ja gut zum Sterben
vorbereitet: war zur Beidte gewefen, hatte das heilige Abendmahl ge-
noffen; Gott mußte ihm feine Sünde vergeben. —
Jetzt ftand er auf dem Steinbaufen, der Strid faß feft am Afte, er
braudte nur den Kopf durch die Schlinge zu fteden. —
Nod) einmal hielt er inne. Gein Blid flog über die Felder und Wiefen
zu feinen Füßen. Das war fein Land, er ftarb auf feinem Grund und
Boden. Sein Auge fudte das Baterhaug; da unten lag es, winfte gu ihm
berüber aus blühenden Baumfronen.
Saft unbewußt ftreifte er Die Schlinge über den Kopf. Wenn er fid
nun mit den Füßen abftieß, war's gefcheben.
Nod ein Baterunfer!
Der Strid würgte ibn [Hon am Halfe. Gr fühlte die Steine unter fid
rollen. Untwillfiirlid fuchte er eine Stüße mit den Füßen. Umfonft! Er
batte den Grund verloren, fein Körper wurde lang.
Was war denn das an feinem Halfe? Ein Band mit eifernen Stacheln!
Sie riffen ihm den Körper in Stiide! Hing er denn? Gr fab ja noch alles,
ganz Deutlich: dort, Die beiden Leute, zehn Schritt bon Ihm.
So helft mir Dod! Schneidet mid ab! Seht ihr’s denn nit! —
Nichts! Sie rühren fih nicht.
Der Wind fpielte mit ihren Haaren, fie haben große, ftille Augen.
Der eine ift fein DBater, er erfennt ihn ganz genau, der Gater mit dem
langen, gelben Haar, bartlos. Und das Heine, gebüdte Männchen daneben
tft Der Großvater. Gin uralter Mann, mit ſchiefer Nafe und rotumränderten
Augen. So fteben fie da und feben ihm ernft und ſchweigend zu.
Gr will mit ihnen reden. Wenn nur das Band am Halfe nicht wäre. —
Hilfel Helft mir! —
Gebt fommt der Bater heran. Bater! — So, jest wird’s leichter. —
Was find das für große, ſchwarze Bögel...
Der Wind fdaufelt den Körper bin und ber. Die Bienen tm Kirfch
baum laffen fid deshalb in ihrem Geſchäfte nicht ftören. Der Kopf mit
dem grauen Haar hängt tief auf die Bruft herab. Die weit aus ihren
Höhlen Herdorquellenden Augen ftarren die Scholle an, die Scholle, Der
fein Qeben gegolten, der er Geib und Seele verfchrieben hatte.
689
Horoffop eines Bauerntalenders auf die zwölf Monate”.
1 |
Kinder im Waffermann geboren haben ein fcharfes Gedächtnis und
gute Sngenia gum Studieren, fofern aud andre gute Afpecten barbeh
feind. Im der Handlung find fie Iiftig und berfdlagen und halten ihre
Gaden heimlich, Haben aber unbeftändig Olid. Lieben die ©elehrten.
2
Kinder im Fiſch geboren werden gefdidte freundliche Leute, lieben
Die Armen und Seiftliden, feind gern bei der Sefellf[daft, Haben die
Freunde lieb, dienen jedermann, werden reid und mild.
3
Kinder im Widder geboren find von Natur beberzt, Fühn, fred und
zänkiſch, abfonderlich mit ihren Hausgenoffen, hingegen mildreich und gut-
berzig gegen jene, welche ihnen feinen Dank erzeigen. Belommen aud biel
®eld mit Heiraten und gelangen zu großen Aemteren, aber mit viel Haß,
Neid, Ungunft und Widerwillen. Haben die alten Leut lieb.
4
Kinder im Stier geboren haben Luft zu Aederen, Wiefen, Gärten,
aud) zur Srbblidfeit, Sefangen und Gaitenfpielen, zu der Aftronomia
und Aftrologia, zu Hoffabrt und fddnen Kleideren. Bei den Weibs-
bilberen haben fie wenig Olid. Sobald fie gu Jahren fommen, werden
fie farg, vezierig und reich, Haben wenig Freunde, aber viele Mißgönner
und Feinde.
5
Kinder im Swilling geboren haben Luft zur Weisheit, Runft und
Beihidlichkeit, ftudieren wohl, lernen leichtlich rednen und [chreiben, find
berabaft, furzweilig und fröhlich, mengen fic aber gerne in fremde Händel,
Sind gute Ginnehmer, aber böfe Begabler; erwerben viel Geld, fonnen
es aber nicht Iange behalten. Berbergen den Zorn und drehen den Mantel
mad dem Wind.
6
Kinder im Krebs geboren haben großen Berftand und ernften Mut,
find ehrbar, aufridtigen ®emüts, ftreben aber nad Ehren und Lob. Leidt-
fertigfeit, Freſſen und Saufen find fie bitterfeind. Haben giemlid Sliid,
Dod unbeftandig.
7
Kinder im Leuen geboren lieben die Wahrheit und Seredtigteit,
fönnen nit heucheln, find herzhaft, Hug, gornig, radgierig, arbeitfam und
beredt. Sradten nad Ehren und Heirat.
8
Kinder in der Jungfrau geboren find Hug, funftreid, gütig, fromm,
gefällig, bei Geſellſchaften fröhlich und vertrauli. In der Jugend haben
* Mus Carl Geelig „Die Jahreszehten im Spiegel ſchweizeriſcher Volks⸗
[priide”. Bgl. Hinten die Budbefpredung. Die naive Sharafterologie zeugt
pon trefflider Beobadtung und zeichnet mit wenigen Striden einen Typ. Sie
rl fih übrigens gut mit den Geftalten Seremias GOotthelfs in Begiehung
690
fie gemeinlid wenig Erfolg und laffen fid bon Weibern allgufehr ein-
nehmen. Nachgebends befommen fie aber biel gu tun und haben zur
Kaufmannſchaft viel Olid.
9
Kinder in der Waag geboren find befcheiden, treuberzig, freundlich,
eingezogen, fromm, gütig gegen Arme, haben viel Berdruß bon böfen
Zeuten, aber fie Lönnen ihnen wenig ſchaden. Gott hilft ihnen allegeit mit
Freuden Surd und bringt ihre Gade gu einem guten End.
10
Kinder im Sforpion geboren find fehr ſcharfſinnig, liftig, gornig, heim-
tückiſch, beredt, rachgierig, geigig und aufs Saufen berfeffen. Haben gut
Olid im Bergwerk.
11
Kinder im Schüßen geboren find ver[dlagen, verftändig, webrbaft und
beſcheiden; mit ihren Shegatten vertragen fie fic) wohl, haben aber viele
Krankheiten zu beforgen. Bringen es gu feinen großen ®ütern.
12
Kinder im Steinbod geboren find gornig, ftreng, unverföhnlidh, zur
Melandholie geneigt, Haben Luft zu verborgenen Künften und Aderbau,
aber zur Handelfchaft find fie untüchtig wegen ihrer Unfreundlidfett. Gr⸗
reichen nicht felten ein hohes Alter.
Kleine Beiträge
Sft die Oroßſtadt ein Lintergang?
G* muß an einem trüben $rühjahrs-
baut batten, hauften in dem einen Baus
ae 4500 WMenfden, darunter 1300
tage des Gabres 1912 gewefen fein
— nod bor dem Weltfriege —, da ging
th außerhalb meines Hamburger Oroß⸗
ſtadtquartiers Hammerbrook auf neu⸗
gepflaſterten Straßen zwiſchen kleinen
Schrebergärten. Heute ſtehen da ſchon
große Sechsſtockwerk⸗Häuſer.
Damals fah ih zurüd auf die letzten
düfteren Häufermände Hinter mir; wo
die ftanden, un ail Sabre früs
ber, als id) den Lehrlingsverein grün⸗
dete, nod — und Roggen. So
rüdte das Lingetiim Großftadt immer
weiter bor.
Hier war es meift fo gegangen:
Sedesmal wuds ein neuer Ötreifen
ufer auf, wenn die fpefulierenden
fiber des freien Bodens fanden, dah
der Quadratmeter teuer genug gewor⸗
den fei und die Menfden dahinter in
fertigen Quartieren aufs duferfte zuſam⸗
mengedrdngt waren — in meinem
Stadtteil 1200 bis 1700 Seelen auf die
Glade bon Hundert Metern im Qua»
drat. Wo wir unfer „Boltsheim“ ge-
Die id nun dort ftand und Hin-
{Haute auf die bon Raudwolfen über-
lagerten Sduferreihen, zogen dunfle
Wolfen durdh mein Semiit. Wenn id
zurüddente, ift e8 mir, als hätte id =
mals die Kataftrophe des Weltkri
u im boraus in großer Ginfam st
IH fampfte bamals mit einer Sorge.
Linfer Lehrlingsverein, an die 150 fdul-
entlaffene Jungen, unfer Sebilfendere
ein, ein Kreis pon 40 bis 50 der über
Achtzehnjährigen, und die parallel da»
neben ftehenden Mädchenbünde braud-
ten Beamte, viele freiwillig Dienende,
aus denen allmählih mit den Jahren
Führer erwudfen. Geit einiger Zeit
aber wurden der Sungen, die Wemter
übernehmen wollten und fie verwalten
fonnten, immer tweniger. Wer follte
Beiträge einfammeln und gewiffenbaft
einfammeln, wer die Bücher verwalten,
wer Spielgerät ordnen, wer Schlagballs
mannfdaften führen, wer Riegen vor»
691
turnen? Unfer feines Staats⸗
wefen mußte abfterben, wenn uns aus
dem eigenen Golf nidt mehr Beamte
famen. Sehr ſchnell mußte dag fommen.
Aber woher das Verfagen? Es war
mir nur gu flar, fo ungern id der
Wahrheit ins Sefidt fab. Ge enger
die Bevdlferung wohnte, um fo blut-
armer, nerpöfer, unfteter wurde die
Sugend. In ihnen erlahmten die beften
Kräfte: Wille und Phantaſie. Mit
Kummer dadte id an meine Sdlag-
ballmannfdaften, die nur dann
eine Stunde im Spiel ausharrten, wenn
auf jeder Seite ein etwas QAelterer bon
gefunderer Raffenfraft mitfpielte und
mit feinem ftärferen Willen die ande-
ren zufammenbielt. §eblte folder Füh⸗
ter, fiel die Sefellfdaft wie ein Sand⸗
haufen auseinander.
Wie ein Symbol ftand vor meiner
Grinnerung das Bild, wie einmal das
Pflafter aufgeriffen war und die Srde
utage trat; da famen aus allen Häu-
ern die Ginf- und Gedsjabrigen
laufen und wühlten in diefer Erde
War das nidt wie ein Greifen nad
dem Wutterboden Erde?
Die ftadtifhe Menſchheit erfdeint
gum Untergang verdDammt*®.
In dem Kinde, das ftets durd neue
Sindrüde gereizt wird, aber nie zum
rubigen Srleben fommt, fann die Kraft
des Borftellungsvermigens nidt aus
reifen. Der Geiſt bleibt unftet, baftig,
ſchwach, ja im Orunde träge, immer
nad Reizen gierig.
Nod fchlimmer, daß der Wille un-
ftet und ſchwach bleibt: diefe Menfden
werden nie redt fähig, mit gefpannter
Kraft auf ein Ziel Ioszuarbeiten.
Wird das aber wirklich mit allem fo?
Nein, Heute nod nidt. Wir Haben
heute in der Stadt nod viele Kinder
Iandgeborener Eltern. Die haben nod
Kraft, arbeiten fih empor. Wenn die
einen fideren Berdienft haben und Hei-
raten, fo ziehen fie aus dem Stadtteil
fort. So flagte mir einft Glemens
Schultz wiederholt: „Wenn ih Nitglie-
der meines @ebhilfendereins traue, fo
fahre ich mit der Straßenbahn in einen
anderen Stadtteil.“
So war die Hoffnung eitel, mit der
wir einft eine Gemeinde zu gründen
bofften. Das wurde mir an jenem Tage
* Siehe meine Schrift: Das ftadtge-
borene Geſchlecht un fetne Sufunft.
Berlag Eger, Leipzig
692
flar. Mein Werf mußte untergehen, fo
wie langfam ein Haus in einer Ueber-
fHwemmung verfintt.
Da werden neue Straßen gebaut.
Junge Familien ziehen binein. In
einigen Jahren laufen eine Menge Kin-
der auf den Straßen umber. In eint-
gen weiteren Sabren fann ein Sugend-
perein prddtige Mitglieder Hier wer-
ben. Dann wird {dwerlid nod ein
zweites, gefundes Sefdledt bier auf⸗
wadfen. Die neuen Häufer find mitt-
lertweile [don verwohnt, die Steinftufen
am Gingang baben fid gefentt, die
Sreppenftufen find fdief gelaufen; an
Sarbe und Gauberfeit fehlt es überall.
Seht werden bier die Kinder derer
wohnen, die nit herausgelommen aus
engen, fandigen Quartier —, die
Stumpfen, Wilden, Arbeitsichwaden,
Linfteten, die wir in englifden Oroß⸗
ftädten fhon zu Hunderttaufenden
en.
Lind die anderen, die Smporgeftiege-
nen, die mın in freundlichen Stadtteilen
wohnen? Sie erleben vielleicht eine
Ihöne Blütezeit. Bielleidht fteigen ihre
Kinder weiter empor. Dann aber, im
Dritten oder vierten Oeſchlecht erlahmt
die Kraft jeder ftädtilden Familie.
Bei den Amerifanern ſcheint es nod
ſchneller zu geben
Sft daz wirtlid das ane was über
die Sroßftadt zu fag
Gergehen u — — Oeſchlech⸗
ter ſo ſchnell?
a denke id an manche Gamilien,
die dod ſeit Jahrhunderten in ftadti-
ſchen Berufen und ſtädtiſcher Lebens⸗
weiſe kraftvoll dauern: Quäker, Huge⸗
notten, ja doch auch die Juden, ebenſo
deutſche Selehrtenfamilien, deren manche
auch durch lateiniſche Namen oder
durch den Stammbaum zeigen, daß ſie
Luthers Zeit ſtädtiſche Berufe aus⸗
ü
n.
All derartigen iſt gemeinfam, gu-
mal am Anfang ihres Familienge⸗
ſchlechts und ſolange wenigſtens ihre
Kraft blüht, das ſtarke religiöſe Leben.
Sie vollbringen ihre Tage im Bewußt⸗
ſein, nicht hier daheim zu ſein, ſondern
nur wie Gafte bier eine Pflicht erfüllen
zu müffen; zum mindeften, fie leben im
Bewuftfein, einer heiligen höheren
Madt verantwortlich zu fein.
Befinnen wir ung, daß das Chriften-
tum, aus ländlider Slur in Sali
Ida erwadfen, in den Oroßſtädten
Roms feine erfte Blüte erlebte. GS
bob dort, in einer untergebenden Welt,
ein ©efhleht zu einem neuen Leben
empor, fo daß es Träger einer Zukunft
wurde.
Sn der Tat ift eS aud in einer fo
tödlich gefährlichen Lage, wie es unfre
propnant ite ift, möglid, fid auf die
ebten Quellen des Lebens zurüdzu-
befinnen — nicht allen, aber denen, die
berufen find. Und werden ihnen dann
Kräfte verliehen, auszudauern und ume
ln!
ft aber nidt dies das Höchſte und
Letzte unfrer Kraft: „Wir wiffen, alles
Werdende hier vergeht aud wieder?“
Diefe Srofftadtherrlidfeit vergeht ein-
mal wieder. Ginft liegen unfere Wolfen»
frager und Bahnbhofsballen, unfre Kons
torhäufer und Lichtfpielhallen da wie
die Trümmer von Ninive und Babplon.
Diefe riefenhohen Häuferreihen werden
Steintrümmerhaufen fein, Wafferlider
werden in verfunfenen Straßen fteben,
Seftriipp wird über alles dDahinwadjfen.
Aber, was in uns mit Treue und
Opferwillen mirfte, glaubte, boffte,
opferte, — das allein ift dag Ewige.
Das wird reif und geht hinüber in eine
perborgene Welt. Se tiefgläubiger eine
Menfdenfeele ift, um fo ftarfer wird fie
aud wirfen auf diefer Grde, aud in
diefer furdtbaren, lebenverſchlingenden
Srofftadt. Walther Glaffen.
Hans Grimms deutfhe Erzählung:
Bolt ohne Raum.
Side deutſche Graählung ift, fo
»~ meine id, eine politiide Grzäh—
lung und läßt alfo unſer Ddeutfches
Schickſal fehen, wie e8 freilihd Schulen
und Parteien nicht lehren, weil fie ef
weder fönnen nod wollen.“
So fagt Hans Grimm in der voraus-
gedrudten Widmung, und im Anfang
ber Erzählung heißt es glei:
„Weil nun in dem Leben, das in die-
fem Bude gefdildert wird, unfer ge-
meinfames deutfches Sdidfal fein Ants
lid nadend zeigt, wie es ja zumeilen
gefhieht, daß die Geſchichte eines eine
fahden Mannes zugleih das Seidid
feines Volkes enthüllt, weil alfo in
unfere ungebeuerlidfte Angelegenheit
hier ein breiter Ginblic fein wird, des⸗
balb müfjen diefem Bude Sloden por»
aus läuten. Oder meinft du, daß ed
irgend ein Orößeres gebe auf Erden
und im Himmel als die lebte Schid-
falgfrage unferes Bolfes ?“
Alfo ift diefer zweibändige Roman
pon 1355 engbedrudten Seiten wohl
oder übel ein Tendenz-Roman. Das
Darf man wohl fagen.
Aber was heißt Tendenz, wo e8 um
Tod oder Leben eines Bolfes geht, um
fein Berderben und Sedeihen?
Ih ftehe politifd anders als Ber
Berfaffer. Aber verdammt: id babe
über diefem Bude die Hände gefaltet
por fo viel Andadt, vor fo viel In“
brunft, por fo viel Werfbeiligfeit und
por fo unendlid viel quillender, quel»
lender Herzensliebe, ja Mannesliebe
recht eigentlid, für das deutſche Boll.
Nein, nidt für eine Klaſſe, nicht
für eine Schicht, nicht für eine Partei,
fondern durchaus und ganz und lauter
für dag ©emeinfame Und wie foll
man Das anders heißen, denn immer
wieder: Bolt.
ind weldhe Sewalt der Anlage und
Ausgeftaltung der Didtung als fol-
&er bei aller Nüchternheit bes ehema-
ligen Kaufmanneg, bei aller Bienen-
emfigfeit (bier paßt mal der Pleomas«
mus des Worts) und Mühfeligfeit in
den Eleinen und allerfleinften Dingen:
„... UND wo einer ein Wunder fordert,
und wir fordern ein Wunder, der muß
zäber fein alg der liebe Oott; und die
Muſik ſchafft es niemals, fondern une
ermüdlide Widternhett zwingt Wott
aus feinem Simmel.”
Wahrhaftig, es wird einem fauer ge»
madt in diefem Bud; aber man muß
hindurch. &8 beginnt mit der Enge in
Deutihland durd zwei Senerationen.
Da ift Börge Griebott, der grübelnde
Gater, und Anne Griebott, Die red-
nende Wutter. Ja, und die fonderlide
@eftalt des langnäſigen deutſchen
Mannes und Diamantenfdirfers
Herrn Rofdh, des andern Don Quidpote,
um den der feltene Humor des Budes
zittert, muß bier aud) wohl gleid ge.
nannt werden. Und da wächſt Sorneliug
Stiebott heran, der Trager des Roe
mans. Und da ift die ſchlanke Mel«
fene und die fernige Slfabeth. Und
da ift der wildernde Weffel und der
ſchwarze Mud und all die andern. Und
da ift Die deutſche Landi daft mit Wald
und Hügel und Ader und Dorf. Und
da fließt die Wefer Hin, immer und
immer, wie fie dDurd die Kämpfe Der
Sranfen und freien Gadjen gefloffen
ift dur die deutihe Sefdidte.
„Es war da links hinab das Dorf
Oedelsheim im Rahmen von Flur und
693
Wald zu feben und nad redts ge-
— Die Fährſtelle von Lippolds⸗
Am fiebenten ®eburtstag des Kin⸗
des ftanden fie Hand in Hand auf dem
Qugaus. Das Kind hob ben redten
Arm und fagte: „DBater, id weiß, woe
ran du immer denkſt, du denfft, daß
wir bon DOedelsheim Her find, und dah
mein Urgroßpater dort Bürgermeifter
war.‘ ®örge Griebott erwiderte: „Du
baft recht, aber e8 ift nicht dein Ure
roßvater gewefen, e8 ift viel länger
Ber. Als por dem Tiederfehen der
Mann nad redts ſchaute, wagte ed
das Kind nod einmal: G8 fagte: „Dar
ter, ih weiß aud jest, was du Benfft;
du benfft, daß dort an der Fähre die
Gadfen und die Granfen oft mitein-
ander gelämpft haben, und die Sach⸗
fen lagen biesfeits und Bie Granfen
lagen jenfeits, und zwiſchen ihnen ging
die Gurt durd die Weler“. Oörge
Sriebott tounderte fid, das Kind hatte
wiederum richtig getroffen. Die Zeit
war pliglid ediblenen: wo DBater und
Sohn mit Bewußtfein beieinander find.
Und ein Wert gefbahb auf bem
Berge.
G8 lernte der Heranwadfende Ding-
ling fühlen, daß jeder Menſch und alle
Sreignung in einem großen Zufam-
menbang fteben, und [püren, daß man
die Dinge alfo andadtig zulammenfehn
müffe und nidt vorwitzig auseinander"
reißen dürfe, um für ftd und andere
einen Segen zu erringen; das beißt
aber, Gornelius Griebott empfing auf
Dem Berge der Bildung beiligften und
{Hwerften Seil .
So quillt es auf pon deutſcher Hei-
matlidfeit, weil fie Hans Orimms
aneE gene Heimatlidfeit ift, daß Dem
ſtädtiſchen Lejer faft bang ums Herze
wird und ihm ift, als müffe er nad
Hut und Stod greifen und hinauswan⸗
bern und babe er in all den Rew
bensjahren verfäumt, was dod das
Allernddfte gewefen wäre. Und die
Enge greift nad ihm und er fieht Die
Snduftrieftädte unheimlich fid türmen
und türmen. Lind die Angft der Gin-
gepferdten ftebt furdtbar auf und So⸗
zialismus und Sogialdemofratie er»
iD aden
Danad öffnet fid die Weite Des
Meeres und Die nod tiefere Weite der
Steppen Südafrilas. Und es ift nir«
gend in großen Worten geprahlt oder
in funftreiden Metaphern gefproden,
694
fondern e8 ift wiederum alles Müben
und Gmfigfeit und verborgene Her-
gensnot. Man muß fdon auf Sott-
fried Kellers Grünen Heinrid guriid-
greifen oder auf den LUlenf{pegel des
Charles de Softer. Was wäre ba
fonft? RNolbenheher und Raabe liegen
wo anders, pon den Manns gang gu
Ihweigen. Und nirgends fonft atmet Bie
Segenwartigfeit wie bei Grimm. And
perbliebe als Gegenwert höchſtens der
„Menfh im Gifen® bes Rheinifden
Keffelihmieds Heinrid Lerfid, aud,
was Inbrunft angeht und Lauter-
feit des Herzens. Dennod bleibt ed
wie felfeneingeengtes Ziſchen und
Praffeln des Oießbachs gegen ben
freien Donnergang des Meers: ,, Woe
u fdidt Oott einen nad Afrifa? Sr
—* näher an die Dinge heran, er ſoll
über die Umſtändlichkeit ber zu vielen
Menſchen hinweg, er foll Echtheit und
Wahrheit unbedingt ertragen lernen.‘
Sind dann [pringt did der Duren-
frieg an und die Gerlaffenheit des Ge
fangenenlagers auf Gt. Helena. nd
du fühlft die falte Hand der englifden
Weltpolitif. Und die Heinen und gro»
Ben Zorheiten der Deutihen daheim
und draußen fpielen um did herum
und du fiebft fie mit dem Auge des
Heimkehrers aus dem Weltkriege und
fiehft fie gang anders. „Kein Lehrer
und Prophet fam damals auf den See
danfen, Daß fid) insgeheim im reide
lid verdienenden Deutfdland (der
ahd a {Hon Mangel und
Maffe verbunden Hatten, daß die
Deutiden längſt an Raumlofigfeit
fiedten, während fie fagten und nad»
fagten, e8 fet die Regierung oder die
Regierungsform, es feien Die Junker
oder die Roten, die Partifulariften
ober Die Breußen .
„Das Ahnen, daß aus dem ſchreckhaft
engen deutfchen Rande mit den fdr
haft aufeinandergehäuften Mentden,
die alle feinen Krieg wollten, deren
Hälfte aber aud jenen friedlichen Ime
perialismus befämpfte, bon dem fie aß
und fid fleidete, das Ahnen, dah aus
den unerhörten Spannungen, aus Den
überquellenden Waffen irgendwann
ein Wille fih endlich entfeplid entla-
den mülfe, diefes Ahnen Hatte bis zur
Bwangsvorftellung nur das Ausland
ergriffen und am meiften wiederum
das ältefte, Das — te, das reidfte,
bas engliide Ausland.“
Lind weiter: „Welches Recht ift ef,
Daß allein in Guropa und ohne den
Weltenraum, den fie Dazu haben und
dabin fie faum je geben, fedsunddrei-
Big Millionen Grangofen ein größe»
res und Dazu Dar Land eig"
net als zweiundfiebzig Millionen Deut-
(hen? Weldes ete ift e8, Daß ein
beutides Kind, wenn ed geboren wird,
in folde Enge Hineingeboren wird, Daß
e8 bald nicht weiter fann, Daß es bald
ein Sanfer werden muß, Daß, wenn
e3 mit Sigenfhaften der Kühnheit ge-
boren wird, es vor lauter Mangel auf
den bifen Weg gedrängt wird? Wel-
es Redt ift das, Daß die andern —
wer bon ihnen es will — als Bauern
auf Bauernland leben fönnen und daß
bie Deut{den, wenn fie deutid bleiben
wollen, fid feit Sabren in Werfftätten
vermehren müffen? Weldes Recht ift
das, Daß der Engländer, fobald er Mut
bat und Fleiß und Tiidtigfeit, den
weiten englifhen Raum der Welt je»
Derzeit vor fid) Hat, um bas Olid für
fim und feine Kinder zu wenden, und
der Deutide nidts als die Gnge, ba-
tin Berbefferung des einen nur mehr
ge Dane ift um die Gerfdledterung
andern? Welches Recht ift das?
Sf bas Menfdenredt oder ift bas
peice ai oder nur ein faules, ge
meines, ererbtes Dummes LUnredt ?
Sn diefem Sufammenhange fet auf
bie Hildebrandt-Epifode des Romans
auf Shemniber Parteitag insbe-
fondere bingemiefen.
Das alles gibt nun burdaus und
gang und gar nidt ein ‘Bild de3 Row
mans als folden. Da Hilft dem Rie-
fenftoffe gegenüber nidts anderes, als
daß man Diefe deutide Srzählung Tefe.
Durd vier Jahre Hat Hans Grimm
Daran gefdafft, Jahre der Unfider-
eit, Sabre der Inflationsnot, Jahre
des Berg cmpiee Defto verwunder⸗
lider ift die Klarheit und Sefdloffen-
beit des Aufbaus bes Romans und
bie Ginbeitlidfeit und Herzhaftigkeit
des Stiles bis zum Schluß. Oewiß:
bier und dort und zumeift gegen =
Ende drängt fid das Volitifde und
Bollswirtfhaftlihe aus dem didteri-
{den Rahmen etwas Herbor; aber ed
a. (Hließlih aud irgendwo gefagt
Gewiß wird nit jeder Lefer immer
und überall in fleineren Dingen zu
— — ngen fteben.
Aber der große Dlid, mit dem das
Oanze zufammenfaffend erihaut ift,
und die Andadt und Inbrunft, mit
der eS geftaltet ward, und die Treue
gegen fid und fein Bolt und der u
ige Wille, mit dem er e8 darbrin
Das alles ift erdgewadhfen und u
ftritten und wird für fich felber zeugen.
ae fo mag Grimm bas lebte Wort
baben:
„&8 gibt eine Sflabennot der GSnge,
daraus unperziwungene Leiber und
Seelen nie mehr wadfen können. Id
aber, mein Greund, id meiß, Daß
meine Kinder und mein ©eihleht und
bas beutide Bolt ein und dasfelbe
find und ein Schidfal tragen mülfen.“
Hermann Slaudiuß,
Primitive SemeinfHaftstultur.
Seit der GEntwicklungsgedanke im acht⸗
zehnten Jahrhundert Macht ge⸗
wann, hat man ſich bemüht, eine Stu-
fenfolge von Sntwidlungsauftänden der
Menfhheit zu fonftruteren. In der
Rulturgefhidte, der Wirtſchaftsge⸗
[Hidte, der politifden Oeſchichte uſw.
fudte man allgemeine „Stufen“ aufzu-
zeigen, die alle Völker, befdreiten
miffen, weilder „Bang der Entwidlung“
fo und nidt anders geht. Das ift der
Weg vom „primitiven“ gum „hochkulti⸗
vierten“ und endlid ,,givilifatorifden”
Dafein der Menfden.
Seltfame Sunde laſſen geheimnis-
polle, verfhollene, jabrtaufendalte
Hodfulturen ahnen, derweil die Träger
der twefteuropdifden, ja, der antifen
Kultur nod in Primitivitat dabindadme
merten. Lind heute nod leben die PBri-
mitiben neben den Sivilifierten. Der⸗
weil der Karibe mit ftetngeitlider Azt
mibfelig den Baum fällt und den Sine
baum böplt, — der su aus
New Port im Aeroplan oben über
feinem Haupte dahin. Die Vorfahren
dieſes Iournaliften ſchwangen einft das
Steinbeif am Rande ffandinavitfder
Oletſcher, wird der Nadfomme des Ka-
riben Seitungsfeuilletons verfaffen?
Die Hülle der gefdhidtliden Wirklich"
feit ift verwirrend, die t Mig-
lidfeiten nod berwirrender. Dennsh
fudt der Geift Ordnung bineinzubrin«
en: die logifde Ordnung der Dinge
owie die Wadhstumsordnung des Ent-
ſtehens und Bergebens. G8 miffen
prima initia fein, alfo war am Anfang
das Zeitalter der Primitivitat.
Nod ift diefes Seitalter in fultur-
fernen Land{daften erhalten.
695
Wie aber waren die Menfchen dHiefes
Seitalter8? Waren fie die polllom-
menen, fanften und edlen Wefen, und
ift alle „Entwidlung“ ein Abfinfen? So
meint man in peffimiftifden, verzagen⸗
ben Seiten. Oder war im Anfang die
wüfte Barbarei und ift die Entwidlung
eine allmablide DBerpollflommnung?
Go meint man in optimiftifden, felbft-
bewußten Seiten. Wir wiffen ſchon
aus der Schule, daß im Anfang die
DBarbarei war und daß wir uns aus
dDiefer emporgerungen haben. And
was follte wahr fein, wenn nidt da8,
was wir in der Schule gelernt haben?
Man fann ben Suftand der primi-
tiven Menfchheit nur aus den Reften
ber — — fonftruieren. Für dieſe
Konſtruktion kommt es (ebenſo wie für
bie Aufftellung menſchlicher Typen) auf
den Blid an. Gine großartige Schau,
die in groben Zügen dag Allgemein-
bewußtfein der @ebildeten beherrſcht,
gab Wundt in feiner Ze gie
Nun tritt feit einigen Jahren der
®ermanift Hans Naumann dafür ein,
por das Zeitalter des Animismus eine
präanimiftifde Entwidlungs-
ftufe als „primitive Gemeinfdaftsful-
tur“ zu feßen. Gr Hat den Gedanfen eins
dringlid durchgeführt und vorgetragen.
(Das Bud mit diefem Titel ift bei
Diederich in Sena erfdienen. Geb. 3,50,
geb. 4,75 Mf.) Das animiftifhe Den-
fen fcheidet bereits Seele und Körper,
das präanimiftiihe aber tft zu folder
„Abftraftion“ nod nicht fähig, es fdaut
und denft nod völlig fdrperlid, „un
feelifd und ungeiftig“.
Naumann darafterifiert die primi-
tive Dafeinsftufe einmal bdurd die
eigentiimlide Gleidmafigfeit der Indi-
piduen, gum andern durd das „prä⸗
animiſtiſche“ Denfen.
Die Primitiven leben nidt als Sndi-
piduen, fondern als ,,individualismus-
Iofe Oemeinſchaft“. So wenig wie die
Ameifen und Dienen unterfdetden fid
die primitiven Menfchen poneinander.
Sie haben alle die gleihen Kleider,
Waffen, Wagen, Bedürfniffe, Anfhau-
ungen. Keiner fondert fih aus den ane
dern heraus. (Sehr hübſch malt Nau-
mann das an dem Bilde der litauifchen
Bauern ©. 150/151.) Darum: „Schte
Goltsfunft ift Gemeinfaftstunft, aber
nidt anders als Schwalbennefter, Die-
nenzellen, Gdnedenhaufer Grgeugniffe
edter Semeinfdaftstunft find.“ Aſo:
Kunftformen der Natur. (Die Logiler
696
ärgern fi) über diefe contradictio, aber
e8 ift num einmal der gottgewollte Zweck
der Wirklichkeit, die Logifer zu ärgern.)
Die Natur arbeitet auf Typen, bis der
Seift den Sündenfall begeht und
beroifh wird. Alsdann folgt auf bas
Zeitalter der friedliden primitiven
Semeinfhaftsfultur bas Idenzeit-
alter, bid diefes fid in das bürgerliche
Zeitalter des reinen Sndividualismus
binüber entwidelt, worauf eine neue
»Oemeinfdaftsbilbung* mit Spypifie-
rungsſtreben einfest.
Das Intereffantefte an ber fo fon-
ftruierten primitiven ®emeinfchaftstul-
tur ift der „primitive Totenglaube".
Der Tote wird nidt als „Seele“, ſon⸗
dern als Körper, als „lebender Leid-
nam“ porgeftellt. So in der Edda (Gi-
gurd) und in der nordifden Saga
(Slam uft.). Aud in zahllofen deut-
Ihen Sagen. Das find Anfdauungen,
Die fid aus der animiftifden Auffaffung
nidjt erfldren laffen, fondern die aus
einem andern Denfen fommen. Aber
— ift da8 nur „primitiv“, liegt ed
nidt überhaupt in der Art des Ber-
manifhen? War dod im Mittelbod-
deutiden „Leib“ die Begeidnung der
Einheit von Körper und Geele! Und
fommt in der Myſtik nicht immer wie-
der diefe Auffaffung durdh? Jacob
Böhme ift in gewiffer Weife , Praani-
mift“. Wir fönnen nidt umbin, einen
eigentimliden Schauer zu empfinden,
wenn wir Körper und Geele in un
trennter lebendiger Einheit denken. Der
„pſychiſch⸗aſſoziative Mechanismus der
Seele“ liegt in ung ewig im Kampf mit
dem „logilhen“. Das ift der Urgrund
der deutihen Lprif. Die Intuitionen
des erfteren paden uns oft gewaltiger
als die Wrditefturen des letzteren.
Der Begriff der „primitiven Gee
meinſchaftskultur“ ift, wie die Auffäße
Naumanns (deffen Spürfinn fir diefe
Dinge fehr fein ift) erweifen, zweifel«-
los ein frudtbares Gorfdungs- und
Ordnungspringip. Aber id Habe ein
MiPtrauen, ein foldes Prinzip als
allgemeinmen{dlid zu feben. Das
Leben der Völker ift fo verfaieden, dah
piel dagugebdrt, die Stufen eines
Bolfes nadgzugeidnen, und geht man
ar über eine verwandte Völfergruppe
pinaus, fo werden die Analogien une
fider und die Wörtchen „ebenio“ und
„vasfelbe“ bleiben im Logifchen sa
Sim das Reidsehrenmal.
Mist mit einmütiger Greude vermag
der Deutſche die Gntwidlung zu
fehen, dte der Gedanfe eines Reids-
ehrenmales genommen bat. Lind es ift
Dune daß aus all den Bee
fen, Ueberlegungen, Ratfdlagen,
Konferenzen, Befidtigungen ein Wert
der Halbbhett und Laubeit berausfommt,
ein Beihluß ftatt einer Sat, ein Werk
ohne Wirkung, fein Mal, feine Ghre
für das Reid und das Boll.
Der Gedanke diefes Males ift allgu-
febr eine Angelegenheit der DBerwal«
tung und des Staates geworden. An
den Gerwaltungsftellen fihen die trei-
benden Kräfte, ,, Reids“ebhrenmal heißt
e3 darum, und nidt ,,Bolfs“ehrenmal.
Mind bod müffen es die Kräfte der
Bolfsgemeinfdhaft fein, die ein fidtba-
res Seiden des großen Krieges fore
dern, wenn diefes Zeichen wirflid ein
Mal werden foll. Aus einer einmiiti-
gen Erhebung muß es DHingeftellt
werden, wenn e8 eine Quelle der Srbe-
bung fein foll. Sind wir diefer Srbhe-
bung fabig?
Saft fcheint es, alS ob wir zu tief
daniederliegen. Die fiegreihen Na⸗
tionen hatten e8 leiht. Im Schwung
des Sieges fanden fie wie felbitver-
ftandlid Ort und Gorm des Males,
wie es ihrem Wefen entfprad. Wir
tinnen fein Giegesaciden errichten. Nur
ein Sinnbild des großen Opfers ift ung
miglid, das zugleih unfere Hingabe
an die Semeintdatt des deutiden Bol-
les gelobt.
Was in Franfreih und Italien eine
einfache Sefte war, wird uns zum Pro-
blem. Die äußere Not tft fo groß, daß
e8 vielen unter ung frevelhaft und ber-
ſchwenderiſch erfdeint, Mittel für ein
Denkmal bereit zu ftellen, die fonft zur
Linderung der tagliden Not hätten an
gewendet werden fdnnen. Andere wieder
firdten fic mit Redt vor einem „Dent-
mal“ und denfen mit Entfeben an die
©reuel, die Stadt und Land verunzie⸗
ren. Andere fürdten die parteipoli-
tifhe Auswertung einer folden heiligen
Stätte. Wer mit der Bergebung öffent-
lider Aufträge Beſcheid weiß, bezwei⸗
felt, daß ein außergewöhnlider Künft-
ler mit der Aufgabe betraut wird, die
nur bon einem aufßergewöhnliden
Künftler gelöft werden fann.
Das Sinnbild des ungeheuren Opfers
und das Seldbnis der Hingabe ift ein
45 Deutſches Dolistum
Seiden, das aus tiefftem Bolfserleben
zur Gerwirflidung drängt. Wenn diefe
Kräfte geftaltend wirfen können, fo
werden fie troß aller Hemmungen und
troß aller beredtigten verftandesgemä-
fen Sinwände das Symbol fchaffen.
Wie der Menfsh nicht leben fann, ohne
immer wieder feine geiftigen Zufam«
menhänge zu verfünden, fo bedarf aud
die Bolfsfeele der Seftalten und der
Berfiindigungen ihres Inneren. Diefe
Kraft, die wir por allem als mythen⸗
bildend fennen, und die oft die großen
Lebenden fdon mit Legenden umgibt,
ift e8, die unfere eigentliden Dentmäler
ſchafft.
Denn nun von außen ber ein Mal
gefdaffen werden foll, fo können wir
aufrieden fein, wenn die grdbften Miß-
griffe vermieden werden. Gin folder
Mißgriff würde es fein, wenn mir
plump die Idee des „unbelannten Sol-
daten“ nahahmen würden. Der Begriff
des ilnbelannten ift etwas, das uns
in diefem Zufammenhang ganz fern
liegt. &8 fann für uns in diefem Krieg
feinen unbefannten Soldaten geben.
Seder deutfher Kämpfer ift uns um
Diefes Kampfes und der Bolfsgemein-
ſchaft willen im tiefften Innern befannt.
G3 liegt unferem Wefen ganz fern, dar-
aus, daB wir den biirgerliden Namen
eines Wenfden nicht kennen, eine große
Begebenheit zu machen. Jedes Grab
eines jeden deutfden Soldaten fann uns
Stätte der Weihe fein und Symbol des
Blutopfers für die Heimat.
Befondere Sdwierigfeit fdeint die
Plagfrage zu bereiten. Sie ift deshalb
fo fhwierig geworden, weil man fid
nidt flar ift, ob ein Waturdenfmal oder
ein Kunftdenfmal gewählt werden foll.
Die ganze Heimat ift ein natürliches
Symbol des Heimatgefühles, und es
gibt feinen Bezirk der Heimat, weit
über die Grengen des heutigen Reides
hinaus, der nicht beteiligt geweſen wäre
an dem großen Opfer. Irgendeinem
®ebiet der Heimat aus Oriinden natür-
lider Befdaffenheit den PBorzug zu
— wäre Unrecht. &8 gibt aud keine
andſchaft in Deutſchland, die vor einer
anderen als beſonders dem deutſchen
Weſen entſprechend bezeichnet werden
kann. Die deutſchen Stämme ſind ſo
verſchieden wie die Natur des Landes
und bilden dod eine Ginheit. Wun gar
aus Oründen der „Naturfchönheit“ eine
Landfdaft auswählen zu wollen, tft Ser
Sedante eines journaliftifhen Zeit⸗
697
alters, deffen höcftes Ziel Wohlge⸗
fallen ‘und Wohlbehagen ift. Das Mal
muß eine Stätte fein, an der wie tn
einem foftbaren Oefäß alle unpergäng-
liden feeltfden Kräfte des Bolfes ger
fammelt find, und in dem fie leben
ſtrömen. Solde Stätten zu fchaffen, i
gerade Aufgabe der Kunft.
Das deutfhe Bolf hat fdon Diele
folde Weiheftätten gefchaffen, Stätten,
an denen die BolfSgemeinde fid zur
Andadt perfammeln fonnte. Daber tft
der Sedanfe gut, das Reidsehrenmal
mit einer folden Stätte zu verbinden.
Das Ihönfte Kleinod unter den deut-
hen Weibeftätten, bas Straßburger
Möünfter, liegt jenfetts der Reids-
grenzen. Man bat daber an den Köl⸗
ner Dom gedadt. Schon Heute Hat wohl
jedes fleine und große Gotteshaus ein
Sedentzeihen an die Kriegstoten der
Gemeinde. Die Statte des Kölner
Doms würde dann das Symbol für die
ganze Bolfheit fein. Biele aber wird e8
geben, die das Gotteshaus nur dem
@ottesdtenft geweiht fehen möchten.
Aud ift es angebradt, das Reids-
ebrenmal nidt mit einer fonfeffionell
beftimmten Stätte gu verbinden, da aud
dies eine Beporzugung einzelner Volks⸗
tetle wäre.
Nun liegt jebt ein Vorſchlag des
Reihstagsabgeordneten Lambad) vor,
ein Porfhlag, der unter unferen
Weiheftatten wohl die einzig mögliche,
allen Zeilen geredtwerdende Wahl
trifft: Das Völkerſchlachtdenkmal bei
Reipzig. In der Krppta diefes aufer-
ordentliden dombaften Bauwerfes foll
bas Grab eines deutiden Soldaten fein.
Diefer Vorſchlag übertrifft alle an»
deren offiziellen und nicdtoffiziellen
Vorſchläge an Heberzeugungsfraft.
Bor ihm müffen alle äußeren Einwände
ſchweigen. Diefe Wahl erfüllt alle due
Beren Grforderniffe, die an Die Weihe»
ftätte geftellt werden. Und vor allem
entfpreden thre inneren Segebenheiten
dem Oefühl, aus dem das Symbol des
großen Krieges für uns erwachſen fann.
Das Völkerſchlachtdenkmal, errichtet zur
Grinnerung an die Erhebung des Bol-
fed, ift das Oefäß. bas Opfer des deut-
hen Soldaten zu umbiillen. Diefe
Krypta ift Raum der Andadt. Das
Werk ift augleih ©rablegung und Auf
erftebung und Dom der Bolfsfeele.
Wer einmal diefen Gedanfen durd-
denft und durdfiblt, weiß, daß dtefe
Wahl fein Mißgriff if. Und er wird
fih das Bölkerſchlachtdenkmal finftig
faum anders vorftellen fdnnen, als
einen Dom, der gebaut worden ift, da-
in der Deutide Krieger in ihm ruhe
merwährenden Oedächtnis der
Singabe an das Doll.
Lothar Schreher.
Seimatbũcher.
ysdednung und Art ber lofalpa-
triotifhen Literatur Deutſchlands
und Oefterreids fangen nadgerade an
firdterlid gu werden. Was einem ba
aaa unter dem Borwande „Heimat-
“, alfo dod} Kunft, oder „Heimat⸗
on ef , alfo Wiffenfhaft zu fein von
Berfaffern, Berlegern und lokalpatrio⸗
tiſch empfindliden Organifationen
weitläufig und mit großer Subringlid-
feit aufgeredbet wird, bas erg
fon lange das erträgliche Maß.
Wirtidaft und der Oeſchmack Ürmen
e8 nidt mehr lange ertragen.
Ws Greund eines langmütigen
Budhandlers, alS Rezenfent an der
oder jener Zeitung überſehe id einiger
maßen die Broduftion und erfdrede
ernftlid. Wo follen denn biefe Stapel
pon Belanglofigfeiten und Sefdmad-
ie gh aus allen deutfhen Sauen
Hin? Und wenn der ganze Wuft wirk⸗
lid) von dem fdhafsgeduldigen und von
nidts Befferem milfenden Publikum
aufgefogen wird, too foll dann — bet
unferer fo ſchreclich verminderten
Kaufkraft — das immerhin wirklich
vorhandene Beſſere, Weitere, Notwen⸗
digere hin? Wer ſoll dann etwa die
wundervollen, eben jetzt überall entſte⸗
henden Neuausgaben längſt bewährter
oder neuentdeckter Weltliteratur, wer
das wirklich verheißungsvoll anſchwel⸗
lende epiſche Schaffen bedeutender
deutſcher Dichter der Oegenwart auf⸗
nehmen?
Da Tauert eine Gefabr der Berfim-
pelung des Sefdmades, bie entweder
aus abmungslofem Widtwiffen oder
aus Bequemlidfeit bon den Scharen
der an Deutiden und öſterreichiſchen
Propinggeitungen tätigen Buchbeſpre⸗
der gerne überfehen wird. G8 ift aber
notwendig, mit den gefdmadliden und
wirtidaftliden Mifbilbungen der Low
falliteratur aufzuräumen. And viel»
Teicht ift e8 richtig, wenn einmal ein in
den lauwarmen und fanftgrünen Srife
ten ber Proving beheimateter ee 9
ler, wie id, auf ein Unredt
das in falfh geridteter Heimatliebe
bem guten und notwendigen Bude
—— des läppiſchen und belang⸗
ſen zugefügt wird. Wenn ein Promi⸗
nenter der Hauptſtädte von dieſem
Mebel redet, mißhören ihn die Pro-
vinzler ſchon deswegen, weil er ein
Hauptftädter ift.
Sedes Neft, bas auf ein paar Jahr⸗
zehnte belanglofeften Beftehens zurüd-
blidt, Hat heute feine mit großem Auf»
wand an ®eld und Fleiß und gerin-
— an Oeſchmack und Geift geſchrie⸗
e und gedrudte —— ſei⸗
nen Heimatlyriker, der in einer qual⸗
poll berrenften Mundart feit Hundert
Jahren abgeftorbene Sentimentalitä-
ten und Simpeleien auf Rrumm und
Grade berunterleiert, feinen Heimat
romangier und feinen, die platteften
Ortsfagen zu einem Schauerdrama oder
einem Heimatfpiel auswalzenden Hei-
matdramatiler.
Als Seitungsmenfd, als Budbefpre-
der fann man da Orotedsfen erleben,
Die einen gu braufendem Seladter
bringen fönnten, wäre man nidt nur
zu oft ihr gepeinigtes Opfer. Denn
wehe über den Armen, dem Tofalpa-
triotifhe DVerfaffer und Verleger und
ihre Kegelflubs und Stammtifhe Bee
tehungen zu Seitungen nadwmeifen
dnnen. Golde Beziehungen wirken be-
fonders gu Weihnadten und anderen
hohen SGeften wie ein Berruf.
Da fommt zuerft der Brief bes Bere
faffers. @oethe oder Mörile, Momm-
fen oder Ranke find natürlih dumme
Buben und ihre Arbeit eine Nichtigkeit
gegen die ungeheure Tat einer Lange
weiligfeiten mühſam und gefpreigt auf»
ftapelnden Ortsgeihichte, eines Bandes
Lyrik in feiner gefhändeten Mundart.
Mit FTöniglider Herablaffung wird
einem die Bollendung und baldige Sue
fendung des welterfhütternden Were
fe8 angefündigt. Wenn die Gerfaffer
folder Sretbriefe wüßten, wie peinlich
fie fid oft mit ihrer Anmaßung bla-
mieren! Wüßten, wie oft ihr einmal
offenfiver, einmal Iarmopanter, immer
aber unglaublid) Hodmiltiger Ton
ihnen bon der ohnehin geringen Sym⸗
patbie nod etwas, ja, alles wegnimmt.
Den zweiten Brief empfängt man ge»
wöhnli bom Berleger. Sr betreibt zu⸗
meift die Buchhandlung des Marktes
und eine fleine Druderei, die [don zu
OGutenbergs Zeiten als ganz veraltet
gegolten hätte. Der Ruhm der Diede-
45°
richs, Langen, Fiſcher und anderer
mädtiger Berleger Tieß thn, der
isher die Ortszeitung und die Sinla-
dung gum Feuerwehrballe, fonft aber
nidts gedrudt hat, nit ruben. Gr
bat fein fpießbürgerlid, aber folid er»
worbenes Kleingeld an einem Hetmate
bud ristiert, das lyriſch, epilh, dra⸗
matif® oder wilfenfhaftli ausfällt, je
nad den Salenten des druckverſeſſe⸗
nen, ortsanläfligen Lehrers, Paftors
oder Voftbeamten. Mit Wudt und
Gindringlidfeit weift er darauf Bin,
daß feine Publifation eine Flaffende
Vide in der deutfhen Literatur aus
füllt, daß er mit Haut und Haar ver-
Ioren ift, wenn das Bud nicht abgeht
wie warme Semmeln. Gr betont Die
reihe und gediegene Ausftattung. Gr
tut fid auf Buchſchmuck und Sinband
febr viel zugute. Gr ahnt ja widt, daß
er im f[dledten Oeſchmacke ber fieb-
iger und adtgiger Sabre gräulich gee
—8* hat; er weiß ja nicht, daß wir
ſeit einiger Zeit wieder eine neue,
durchaus in ſich vollendete und ihrer
Form gewiſſe Buchkultur von hohem
Range beſitzen.
Hat man ſich trotzdem an guten Bü⸗
dern fo feftgelefen, daß man aud auf
Diefen zweiten Angriff bes Kitfches
nidt mit dem gewünfdten großen
Geuilleton reagiert, dann fdiden einem
Die Gerfaffer und Berleger eine Depu⸗
tation, Die aus den Spredhern der orts⸗
ibliden Bereine (für Sefang, Regeln,
SGdheibenfdiefen und Tarod- oder
Sfatfpielen) beftebt, auf den Hals. Sin
befonders fiderer Mann, meiftens voll⸗
bärtig, feine gewaltige Leiblidfeit in
einem grün ausgefdlagenen Rodenan»
zug gebillt (wenn es fid um einen
Defterreicher handelt), mahnt einen an
feine journaliftifden Pflichten gegen
bie gedrudten Belange der Heimat.
a beifeite: e8 geht wirflid, wenn
nit budftablid, fo dod dem Sinne
nad) fo zu. Und dieſen wiederholten
pompöfen Angriffen der literarifmen
Sinerheblichleit gegenüber ift Der Ree
zenfent (an Propinzzeitungen) meiftens
pon einer geradezu laderliden Wade
tebigfeit. Natürlich, es ift nicht Teicht,
od allgemein aufgebotener Dürger-
lichkeit gegenüber fadlid gu bleiben
Lofalpatri immer SHonoratioren
ihrer @emeinde, find oft nidt ge»
fHmadpoll, aber meiftens redt unver⸗
agt. Gite en mit Wbonnenten-
wund, mit gebarnifdten GEntſchlie⸗
699
Bungen der p. t. Bereine, wenn man
nidt brav das Pfötchen gibt. Das wie»
der madt den Befiper der Zeitung, an
Der man zu wirfen bat, nervös. Und
fo befommt eine umftandlide und lange
weilige Ortsgefhichte, Parade jabhre
bundertelanger Lnerheblidfeiten, ein
DE auieN Dilettantifhes Machwerk fein
efonderes Feuilleton von feds bis
neun Spalten, toomdglid in einer
Nummer, die nad diefem Feuilleton
die berrlide Lagerloef- oder Thoma-
oder Dauthendehausgabe des Verlages
Albert Langen (um etwas pon dem pie»
len Schönen der lebten Jahre gu nen⸗
nen) in ein paar fhlampigen Zeilen
Kleindrud abtut.
Sewif, es läßt ſich pernitnftigerwweife
gegen wirklich gegründete, größere Bee
irfe aufammenfaffende, auf das Wee
fontlide fih befdrdnfende, den Blid
aufs Wange nicht verlierende Arbeiten
für die verfhiedenen deutfhen Lande
haften, ihre Kultur, Sefdhidte, Wirt-
haft nichts fagen. Und es fehlt troß
wahrhaftig fchöner Leiftungen nod
immer an großzügigen, finnvoll geord-
neten Dilderbiidern mit fnappen, nüch⸗
ternen Ginleitungen. Aber was foll
eine breitere Deffentlichfeit mit den be»
tuliden Berichten über die fümmerlidy
ften Nidtigfeiten im Leben eines Flein-
winzigen Marktes? Was mit den zahl«-
Iofen Sammlungen der immer glei
dden Raubritterfagen? Das gebdrt,
wenn es denn fdon gefammelt werden
muß, in das zugeordnete Mufeum oder
Archiv; dabon mag in der Beit der
fauren @urfen immer einmal ein Stüd«-
hen in das Feuilleton des nadftgele-
genen Blattdhens fommen, aber Bücher,
teure und fdledte Bücher, madt man
Dod aus fo etwas nicht.
Lind erft die Didter! Wenn die Ly⸗
rifer wenigftens die wirflide Mund⸗
fprade ihres Tales getreu wiedergäben,
dann fünnte ihnen aus philologifhen
Oründen verziehen werden, dab Fe feit
langem abgeftorbene und nur mehr bei
alten Sungfern und gleidgeftimmten
Ceeldhen gangbare Sentimentalitaten,
en entfernt bon unferer Wirt«
idfeit, in platten, hoffnungslos kitſchi⸗
pak Sormen zum nicht mehr gu zäh—
enden Male en Da dieſe
®abe, in einer wirflid edten Mund-
fprade zu fpreden, zu denfen, zu füh-
len, mit Ausnahme etwa des Öteirers
Hans Klöpfer, von all den hunderten
deutſchen Mundartdidtern beinahe kei⸗
700
ner befigt®, ift die Publifation ihres
Schaffens aus geihmadlihen und wirt-
{haftliden Sriinden Unfug. Und eine
pflidtbeiwußte, auf Gegenwart, Sue
funft, Gefdmad und Arbeit gerich-
tete Preffe ift e8 ihrem Wefen und
Anfehen fhuldig, ihre Lefer por allzu-
piel Sentimentalitäten Iofalliterarifcher
Herfunft zu bewahren.
Uebrigens bin id) e8 meinem pro⸗
pinziellen Herfommen und Leben ſchul⸗
dig, aud) dag ganz unbergagt zu fagen:
aud die deutiden Oroßſtädte mit ihren
beftigen weltftädtifh gerichteten, aber
nit immer zielfiheren Ehrgeiz find
bon ganz fimplen Tofalpatriotifchen
Anwandlungen, die einer Weltftadt to-
mifd zu Sefidte ftehen, nidt immer
frei. Dah e8 nur „a Kaiferftadt gibt,
glauben 3. DB. die Wiener wohl nidt
mehr, aber der Nadfag, „es gibt nur
a Wien“ reizt fie immer nod gu Ane
fprüden, die wabhrideinlid verloren
find. Und ein bißchen viel wird we-
nigftens publigiftijd pon der Bergan«-
genbeit geredet. Wievtel Mono»
graphien über Heurigenihänfen, Burg-
und DBarodtbeater, über mufifalifde,
literarifhe und baulide Sigentiimlid-
feiten! Sie find ja meiftens hübſcher
gedrudt und beffer aufgemadt als ihre
propinzlerifhen Schweſtern, aber ine
baltlih fann man fie in ber überwie-
— Mehrzahl aud nur liebenswür—
ige, gutgemeinte aber überflüſſige Be⸗
langlofigfeiten nennen. Es wird bei
Den anderen deutiden Oroßſtädten
nicht viel anders fein.
Die Zeiten, da man fid erfdroden
und zerzauft pon den weltpolitifden
und fogialen Stürmen des Zufammen-
brudes, die freilich bei weitem
nicht abgeebbt find, in das Fallaub ber
beimatliden Märchenwälder verfrod,
wie weiland Odyſſeus auf der Inſel
der Pbhaeafen, find vorbei. Die ſcharfe
Not unferer feltfamen politifHen und
wirtidaftliden Lage zwingt uns, mit
nidternen Augen gu feben, unfere
Tage mit Arbeit, nidt mit Feften zu
beiligen. Lind Arbeitsmen{den, die wir
fein miiffen, wenn wir beftehen wollen,
dürfen fid die Kräfte nicht mit guder-
Füßen Sentimentalitäten und Belange
Ioligleiten am Feierabend verzetteln.
&8 gibt, diefe Kräfte zu üben und zu
* Der Berfaffer ift Oefterreider, in
Niederdeutidland Tiegt es etwas
anders,
reinigen, für bücerliebende Menfhen
in der gegenwärtigen deutſchen Lite-
ratur gute und große Selegenheiten
mehr als genug.
Senen guinritigen Menfden aber,
die zwar feine Heimatbider {dreiben,
aber meinen fleinen Streifzug gegen
ihre mit allzu großen Scheuflappen bere
febenen Berfaffer ein Herglofes und
ſchnödes Beginnen nennen, fet gefagt
en. die ®efahr, gefrantt gu haben, nicht
ftebt.
3 glaubt ja dod jeder, daß nicht
er, fondern ber — gemeint ſei.
Joſeph Papeſch.
Sus primae noctis ....
a der ridtigen Annahme, dah nidts
fo tief wirkt wie Selbfterlebtes —
fet e8 aud) nur auf der Kinoleinwand
Nacherlebtes —, hat fic’s die eftnifche
Silmgefellicpaft zur Aufgabe gemadt,
ihrem Golf die ganze WAbideulidfeit
des, wohl nod nidt genug gebaften,
deutfchen Stammes fo redht anfhaulid
por Augen zu führen.
Wo hatte diefe Abſcheulichkeit fid in
tieferer Schwärze offenbaren können als
in der DBergangenheit, die bekanntlich
Dunfel ift, um fo duntler, je mehr man
die einzelnen Sabrhunderte mit ihren
Sitten und Trachten miteinander per»
mifdt, was dem eftnifchen Sefd@idts-
profeffor, der Hier als Aufflärer wirft,
feine Schwierigfeiten bereitet.
Meber zwei Epifoden der baltifden
Sefdidte wird man unterridtet: über
Die Groberung Eſtlands durd die deut-
fchen Ordensritter und über die fpätere
Zeit des Wittelalter3, da das Jus
primae nocti8 geherrfdt, das den Rit-
tern Das Recht, Ehre und Oliid ihrer
eee oo mißbrauden, nidt nur
— ſondern noch mit kirchlichem
egen geſchmudt bat. Man denke,
welche Reihe wutaufſtachelnder, von
Nationalhaß und Perverſität erfonnes
ner Bilder ſich aus dieſem Motiv her-
aufzaubern laſſen!
Das Bus primae noctis hat tatfad-
lid) tm Baltenlande nicht beftanden,
ja, eS ift zu der Zeit (etwa im finf-
zehnten Sabrhundert) und in der Form,
wie e8 bier vorgeführt wird — bom
Priefter geraten und unter feiner kirch⸗
liden Afftftenz fanftioniert — eine Line
denfbarfeit — aber, darüber einen der
begierigen Befuder diefes Schauer⸗
ftids aufflären zu wollen, hieße ihn
um einen großen ®enuß bringen.
Die Aftien-Gefellfdaft Taara bat
wirklich einen effeftoollen Streich getan,
indem fie ihr Qublifum mit diefem
Oroffilm unterhielt, wenn aud die
Minderwertigfeit der Aufführung oft
weit über die Grenze der Laderlidfeit
— was ſicher weder dem Publi-
fum nod der Filmgefellfhaft bewußt
geworden ift.
Die biftorifche Dergangendeit des
Landes nimmt fid in der Regie bes
Films ungefähr folgendermaßen aus:
Der Gingug der Ordensritter hat faft
etwas NRührendes an fid, wenn man
ibre förperlide Sebredfidfeit und
armfelige Ausrüftung in DPetradt
teht; um fo anerfennenswerter ift die
Sane Ordnung, mit der fi alles voll⸗
ieht: Im Oänſemarſch fommen fie da-
er, die Sahne — anfcheinend einem
©efangperein entlehnt — meift die
Dege Wohl aus Pferdemangel wane
delt jeder zweite Mann gu Fuß, dod
fommen fie aud auf diefe Weife gleich“
mäßig vorwärts, da die Roffe ſowohl
alg die Reiter ermüdeter fdeinen als
die Schreitenden. Lange weiße Mäntel,
die fie vorfidtshalber and in der
Schlacht nidt ablegen, ummwallen fie;
die ng SHolgidwerter werden
fpielend mit der Linfen geſchwungen;
am Waldrande f{dlagen fie ihre Zelte
auf: ſchlohweiße Lafen über einigen
Stangen, unten einen fußhohen 3wi-
fHenraum laffend, der die beim Schlaf
erquidlide Bentilation befördert.
Die fnittelfdmingenden Sften zögern
denn aud nicht lange, diefe Zelte gu
überfallen und ein erftaunlides ®e-
fudtel beginnt, um fo erftaunlider, als
die Zahl der Ritter faum die dreißig
überfchreitet und die oben erwähnte
wallende Oewandung ihnen dod redt
behinderlid) gewefen fein muß. Trotz
allem find fie lebenspoll genug, gleich
nad dem blutigen Kampf einen Ueber⸗
fall auf die zu ihrem Bott Taara
betenden Gftenjungfrauen zu madden,
deren fie eine ganze Legion rauben und
fic) gu eigen machen.
Der zweite Teil der Gefdidtsftunde
perfeßt in die Zeit um Fünfzehnhun«-
dert, da das Land nod fatholifd war,
was an den im Outshof ihre Selage
feiernden Mönchen demonftriert wird.
Der erfte unter ihnen, Pater Albert,
ift e8 aud, der dem Helden des Stüdes,
Ritter Uno von Sternhell, den fhlauen
701
Gedanken eingibt, durd fein Jus pri-
mae noctis fid in den Befis des von
ibm begehrten Bauernmaddens zu
fegen. DBeluftigenderweife müffen aud
die Bauern erft mühfam über dies
Recht des Sutsherrn aufgeflärt wer-
den. Der Page des Ritters — neben-
bei bemerft ein Gftenfnabe, Mango —,
erhält die Erlaubnis, die aud bon thm
peer DBauerstochter zu heiraten, die
der Brautnadt von des Ritters Dies
nern geraubt und ihm zugebradt wird.
Der Page, ein beldenhafter Iüngling,
ürmt, pon den andern Bauern unter»
üst, por die Burg, aus der der Rit-
ter, was man ihm eigentlid bod ane
rednen follte, freiwillig und nur mit
einer Reitpeitfhe in ber Hand, tritt.
Zwiſchen feinen Dienern und der viel»
faden Bauerniibermadt Hat fid ein
wildes Handgemenge entfponnen, dem
er felbft unbebelligt, einfhücdhternde
Blide um fid werfend, beimohnt. Zum
Schluß läßt er fid — pielleiht an die
@ottesurteile früherer oder die Zwei⸗
fampfe fpäterer Zeit denfend — ein
bringen, feinem Pagen iber-
reicht er eigenhändig ein gleiches, und
das nun erfolgende Duell endet mit
Dem Gall des Ritters.
Die Rittersfrau, die dem Kampf be-
bend beimohnt (um wen bebend, bleibt
unaufgellärt, da fie gubor vergeblide
ungen, des Pagen Liebe zu gee
winnen, unternommen), läßt ihn, feine
Sreunde und feine Braut in einer
Reihe bluttriefender Greuelfzenen für
feine Untat büßen: er wird gu Tode
gepeitidt, während die junge Sftin dem
Dahnfinn verfällt.
Als Hintergrund wmedfeln wirklich
Khöne Landfchaften, mit der Dorpater
Domruine, der um 1780 erbauten Stein⸗
bride und modernen Landhäufern.
Aud die Gewänder der fpielenden
Perfonen find, abwed{lungshalber, den
perf@iedenften Sabrhunderten entnom-
men. Während fid die Ritter in eng-
anliegenden Hofen und weißen Kragen,
in ſpaniſcher Tracht des fechzehnten
Jahrhunderts, herumrafeln, tragen die
Sunfer die Suftaucorps des adtzehn-
ten Yabrhunderts, und die Diener find
tm Stil der Wallenfteingett getletdet.
Aud die Sftinnen finden es amüfanter,
nit beim buntgeftreiften Rod ihres
Nationalfoftiims zu verharren, und
fragen zum Seil Blufe und Rod von
heute, was ſich gu ihren DBubilöpfen
recht nett ausnimmt.
702
Die Sdelfrauen, nad der Node ber
Maria-Stuart-Zeit oder der der neun-
iger Jahre angetan, fißen auf den
aulenseinunbenen Stühlen der Spät«
renaiffance, find aber in ihrem übrigen
©ebaren fhwer pon ihren Mägden und
Köhinnen zu unterf[deiden, nur daß
dieſe felbftverftändlih mehr Herz be»
weifen und bei den vor aller Augen
pollzogenen Orauſamkeiten in Tränen
zerfließen.
Sn diefer Fülle Iehrreiher Bilder,
die das Praſſen der Ritter wirfungs-
poll neben die peitfchenüberfhiwungene
Stonarbeit de8 Bauerndolfes ftellten
und den eingeferferten Bagen, umgeben
bon Totenfhädeln und einer Curaçao⸗
flafche zeigen, ift faft das intereffantefte
die Szene, in der gum Schluß des Trink-
gelages bie hHalbnadte vrientalifche
Tänzerin auftritt, auf die fid ſchließlich
fämtlihe Ritter, und allen voran Pater
ürzen.
Go hat ſich denn in dieſem erflügelten
Schauerdrama wieder einmal eine Gee
legenbeit gefunden, in der fid) die Heb-
tendeng gegen alles, was deutſch ift,
redt bon Herzen ausleben fann. Daf
aud) das Chriftentum, perfoniftgtert
durch trottelhafte abftoßende Mönche.,
die allen @reueltaten bas Kreuzeszeis
den fpenden, mit verhöhnt wird, nimmt
nit weiter wunder, gehört es bod zu
den Kulturwerten, die durd die Deut-
fen ins Land gebradt worden find.
Während ein Zeil der eftnifchen Bee
pölferung diefen Werten gewiß nidt
blind gegenüberfteht — was die
turautonomie, die Gftland der Minder-
heit gewährt, das Studieren eftnifder
Studenten in Deutfdland, die Bee
tufung bon PBrofefforen aus dem Reid
an die Dorpater LUniverfitat beweift,
— ift e8 dod bedauerliderweife zu
fpüren, daß durd die Wühlarbeit der
großen ®ruppe von Shaupiniften die
Möglichfeit gemeinfamen Schaffens und
Sichverftehens immer aufs neue unter«
graben wird.
Lind fo lodert, bon Gefdhidtsligen ge-
näbrt, der Deutihenhaß immer mie-
der höher empor. Ihm ift fein Mittel
zu erbämlid, um das baltifche
DeutfHtum zu verunglimpfen und ber»
abgureifien, fo madtlos e8 aud fdon
Beute in feiner Heimat geworden ift, —
ein Seiden, wie bod man noch immer
die Refte der deutfhen Kulturgeltung
einfdagt.
@ertrud von den Brinden.
Der Beobachter
Beriht aus dem Jahre 1900.
Um was für nichtige Phantome Hat
man einſt in vergangenen Jahr⸗
hunderten blutige Kriege geführt! Um
religiöfer Befenntniffe willen wurden
die Länder weithin zerftört und die
Golfer degimiert, ftatt daß man diefe
Dinge einfadh dem SGefdmad des Cine
zelnen überließ. Und nod) vor Sabre
nten vertilgte man fid um der blo-
Nationalität willen gegenfeitig bom
GSrdboden — was fann der Wenſch für
feine Nationalität? Iſt es nicht ebenfo
tdridt, als wenn die Diden gegen die
Sdlanfen Krieg führen wollten? Raum
fir alle bat die Grde! Oder man
fampfte um Sapitalismus, Sozialis-
mus, Kommunismus, als ob nidt jeder
nad Privatgeſchmack das eine oder an«
dere fein finnte!
Der einzige Kampf, der einer Leiden⸗
{aft wert ift, ift der Wettftreit der
Menfden um die hddfte Leiftung für
den Gortidritt bes menfdliden Oe⸗
chlechts. Wer am ſchnellſten und aus-
fte fliegen,
durch den Ozean ſchwimmen, den Hi-
für die Menfhheit getan. Wie ift in
unfern Seiten diefer edle Wettftreit
entbrannt!] Ströme bon Blut — nidt
nußlos um bloße Phantome vergeudet
wie einft — fließen um die Hobe Ehre
des Refords.
Sweihundertfünfzigtaufend Wenfden
batten fid in voriger W auf der
nftödigen Sribitne, die fid bet Ca⸗
ais am Meere bHingiebt, eingefunden,
um mit Hilfe ihrer Tafdenteleffope das
Wettidmimmen der Welt-Sdwimm-
pereine auf der Welt immbabn
Dover—Galais innerlid) mitzuerleben.
Als der Shwimmperein Tientfin unter
Sidrung bon Auguft Lehmann im letz⸗
ten Augenblid den SHwimmverein Hel-
fingfors unter Gihrung pon Tſin ling
an um den Sieg bradte, entftand eine
ftige Smpörung unter denen, die auf
Tfin ling ban gewettet Hatten, fie fielen
mit @iftgasentwidlungspulvern über
bie Seinde ber, am Ende blieben zwan⸗
asien Menfden tot auf dem Felde
Sportsehre. — Bei der Uboot-
Welt-Wettfahrt Round the world wäre
e8 beinahe zu ähnlichen Kämpfen ge»
fommen, wenn nidt die Antilug-®. m.
b. 9. den Augenblid zur Reflame be»
nugt und mit ihrem Antiluz plöblid
eine fitnftlide Naht hervorgerufen
hätte. Die finftlide Zinfternis trat in
der Sat fo fdnell und undurddringlid
ein, daß alle Anwefenden verblüfft wa-
ren. Durd dieſe Srfindung wird ef
möglich fein, aud) mittags italientfde
Nächte zu veranftalten. Der Menfden-
geift bat damit ein Mittel zur willfür-
iden Regulierung von Tag und Naht
befommen.
Aber das gewaltigfte Sportidladt-
ereignis des lebten Sabres fpielte fid
geftern in Amundfentown am Südpol
ab. Die Stadt ift fehr rafd emborge-
blüht, feit dort die großen Sentral-Ab-
fiblungsiverfe für den Sropengiirtel
angelegt wurden, Burd die das ga
Sropengebiet fiedlungsfabig gemacht
worden ift. Die Sporteinridtungen
bon Amundfentown find die moe
bernften der Welt und bieten
eine Million Sufauer Raum. ne
befondere Angiehungstraft übte aud
Diesmal der Srauenringfampf auf po»
liertem Südpolareis aus. G8 ift nicht
u bod gegriffen, wenn wir fagen, daß
undertundfünfzigtaufend vollbeſetzte
en Dan ern u aus allen
Grdteilen am Südpol eingetroffen wa⸗
ren. Als die entzüdende Wirs. Lilian
Morena h Wandanga aus Irkutſk die
reigende Miß Urufufumanomatafowota
aus Noanda befiegte, fühlten fich Die
Ihwarzen Landsmänner und Lands-
männinnen der Befiegten fo tief in
ihrer Sportsehre gefränft, daß fie über
die Weißen berfielen. Diefe fonnten fi
nur mit Mühe behaupten, und gwar
Dadurd, dah fie aus einer nahe gelege»
nen Gabrif Gereifungseffeftoren herbet-
Ihafften. Nadhdem nun etwa Hundert»
fiebzigtaufend Schwarze fünftlich vereife
worden waren, begann die Gludt des
Reftes zu den Ylugzeuggaragen. Hier
fette der Kampf mit erneuter Heftigteit
ein, und nur wenigen gelang es, die
rettende Sirruswolfenhdbe zu erreichen.
Diefer Tag war ein Marfftein in der
Sporige[Hidte. Mrs. Lilian wird mor-
gen als Welttönigin des Ringkampfes
203
den Huldigungsflug in alle Hauptftädte
der Welt antreten.
Die Künfte und Wiffenfdaften blü-
ben. Es ift eine Luft zu leben!
DBubilopf.
Ser Bubilopf begann nidt erft mit
der Berfürzung der Haare, fon-
dern er begann als Tendenz ſchon mit
der Berfirgung des Node.
Mit der zunehmenden Bergroßftädte-
rung der Wenſchheit differenziert fid
der Naturthpus Weib in zwei Sonder-
thpen: Hausmutter und rbeiterin.
(Alle menfdliden Dinge find im Tier-
reich präformiert. Wir haben die Diffee
renzierung, die mit der menſchlichen Zi⸗
pilifationeintritt, bereits bei den Bienen
und Ameifen: Königin und Arbeiterin.
Dezeichnend ift, daß beim Wann eine
folde Differenzierung nicht eintritt,
weder im Tiers nod im Menfdenreid.
Gr legt fid als minder emfiges Wefen
lieber auf die Bärenhaut.)
Die Zeiten hoher Kultur find be»
fanntlih dadurch daratterifiert, da
Mann und Weib ihr Gigentiimlides in
deutlider Alnterfheidung entwideln.
Mannlidfeit und Weiblidfeitt —
Mannheit und Wipheit fagt Wolfram
pon Sidenbad — find zwei Ddeale.
Aud forperlid und in der Kleidung be»
tont man das Gegenfaglide. Im Beit-
alter der Sivilifation aber mit dem teils
gelangweilten, teild ungenübten Grau-
enüberfhuß bildet fid ein Steriltypus
heraus, der gewiffe foziale Funktionen
des Mannes übernimmt und dem ent-
fpredend im ®ebaren und in der due
fern GSrfdeinung dem Manne ahnlid
wird. &8 ift nicht eine willtirlide Ten-
deng, die zu den vermännlidten Gore
men treibt, fondern diefe Gormen ent-
ftehen ganz „natürlich“ aus der Praxis
des Lebens: furze Rode und gefdorene
Köpfe find für diefe Frauen praftifd,
denn fie erleidtern die rafhe Bewe-
gung, erfparen Ylmftände uf.
Serner: das volle Haar birgt und
vertieft zugleich dag menfdlide Antlig.
Gin nidtsfagendes Sefidt fann durd
{Hones, langes Haar reizvoll werden —
wird das Haar abgefdnitten, fo tommt
die Banalitat fraß heraus. Aud bei
den Männern bringt der furze Haar-
fdnitt das Sharalteriftifhe auf Koften
des Schönen heraus. Wehe dem Bubi-
fopf, der feine „charakteriſtiſche“ See
fidts- und Kopfform bat.
704
Zum Bubifopf gehört alfo ein Bee
ftimmter $rauentpp, ein Typ, der
nidt das Runde, Weide, CGeelifde,
Bollweiblide, Zurüdhaltende, Uner⸗
gründliche des miitterliden Thpes Hat.
Der Bubikopftyp ift ſchlank, rifd, ener-
gif, nerpenhaft, intelleftuell, breitidult-
tig, mit langem, fhmalem Hals, mit
ausgeprägten Zügen in einem verbalt-
nismäßig mageren Gefidt, ſchmalgeſich⸗
tig, langſchädlig. Der „Herrenfchnitt‘
betont geradezu die Langſchädligkeit
des Kopfumriffes. Sinem folden Gee
fit ftebt der Bubifopf gut, fdledt
eht er den rundlöpfigen und breitge-
ihtigen Frauen, und fdauerlid wirkt
er auf furzem, didem Halfe. (Die Ent«-
büllung der Knddel, Zelfeln, Waden,
®angart fowie die Gntbhillung der
Schädelform durd den neuen Typ
trifft übrigens entzüdend gufammen
mit der Ausbreitung der Raffen-
funde. Wenn fo mande Dame
abnte, was fie dem fundigen antbropo-
logiſchen Blick mit Hilfe des Frifeurs
offenbart!) Darum: der Bubifopf ift
nidt an fid fhön oder häßlich, fon-
dern eS fommt darauf an, wer ihn
trägt. Gine Schwimmerin, Läuferin,
Zurnerin fann amazonenhaft fon fein
mit dem Bubifopf; aber wenn eine
Grau mit Bubilopf ein Kind trägt, jo
fällt uns die widerfpredende Berbin-
dung bon Männlichleit und Weiblidfeit
auf.
Wir fagen nidt, daß heute [don die
Iangbaarigen und herrenfchnittigen Da-
men fid) mit den beiden begeidneten
Typen deden, wir fagen nur, daß Hier
— gunadft nod chaotiſch — mehr als
eine Mode, daf Hier eine Differengte-
tungstendeng waltet. Die einzelne
Grau ift fid darüber nicht flar, fo daß
e8 oft nicht eine innere Konfequenz, fone
bern nur ein Zufall ift, ob fie fid die
Haare fchneiden läßt. Zumeilen nur
raffinierte Grotif. Viele treibt nur die
Mode, die Nahahmung, ja die gedan-
fenlofe Putenhaftigfeit. Woraus denn
oft Orotestes entftebt.
Darum, o rätfelvolle8 Weib, wenn
du bor der Pforte des Frifeurladeng
ftebft und dich enticheideft, ob du un-
gefdoren daran vorbei zum Ehegemahl
und zu den Kindern, wo die langhaari-
e, fife Traulidfett mint, enteilen
ollft, oder ob du, durd die Pforte
fdreitend, in den Orden des neuen
Srauenthps, wo Reford und Männer-
arbeit winfen, eintreten moddteft —
a —— in den en el und denke
ein Qeben nad at die Schere
ber Gehbnappt und A war ein Srrtum
pon dir, fo wirft du den heimlichen
Stachel der Reue nicht mehr los, und es
bleibt dir nidts andres übrig als recht
laut zu bebubihaupten, das Bubihaupt
fei überhaupt viel finer, und modglidft
viele Genoffinnen deines Sefdledtes
zur felben Sat gu verführen: focios ba-
buiffe malorum (das ift verdeut{dt:
um @enoffen im Unglüd zu haben).
Die päterli gefonnen Männer aber
fagen mit Gottfried Keller:
„ie Laff’ I did dein langes Haar
beichneiden,
Damit ven Denfen um fo tirger
So rad’ Ri — dem Weibe Sim-
Lind bleibe ungef&oten, ftarf und
ei!“
Worauf freilid Delila antworten
wird: ®erade darum erft recht!
Kunftfonfumgenoffenfaft.
Ya auf dem Gebiete des Budver-
triebs geglüdt ift, wird nun aud
auf dem Sebrete des Bertriebs bilden-
der Kunft angebahnt. Neben die Deut.
fhe Budgemeinfhaft tritt die Deutide
Runfigemeinfdaft. Die „Semeinfchaft“
befteht in der Maglidfeit, KRunftiwerte
auf monatlide Abzahlung zu faufen.
Serner gibt’s künſtleriſche Jahresgaben
und _,,wefentlide Srmäßigungen bei
allen fünftlerifhen und gefellfdaftliden
Beranftaltungen fowie Beröffentlihun«
gen der Deutiden Kunftgemeinihaft“.
Als ,, Mitglieder und Gorderer “treten
eine Anzahl Borfigender großer Bere
bande hervor, und es ift auffdlupreid,
dDurdgufehen, mel de Verbände auf-
marfdieren. Sum Beifpiel: der Bore
figende des Afa⸗Bundes, ein Borftands-
mitglied des Allgemeinen Deutfden
Sewerfidaftsbundes, der Vorſitzende
des Allgemeinen Beutihen Beamten»
bundes. MWacht drei Sozialiften. Pa-
ritat? Bitte: bret Demofraten: der
Borfitende des Sewerffdaftsbundes
ber AUngeftellten, der Borfißende des
©ewerlichaftsringes nebft — ubique
emergit — Herrn Anton Erkelenz. Und
ein Chriftlihd-Nationaler muß des Re-
nommeeg wegen aud) dabei fein, man
Ihludt alfo Adam Stegerwald. Andere
Sorbderer: Arthur Erifpien, der verftor-
bene Altreichskanzler Sehrenbad
Marie Juchacz, Sertrud Baumer. Und
fiehe da, Hinderer al8 Direftor des
Svangelifhen Bolfsbildungsausfhufles
bat aud) Gnade gefunden. Weiter hat
man fid aber auf die andere Geite
nidt hinübergetraut. Ginen befonderen
Reiz für Kundige hat es, aud) den See
neraldireftor des DBühnenvolfsbundes
Wilhelm Gerft (fiehe vorn den Auffab
über „Reihsbühnengefeb und Befuder-
organifationen“) nebft dem G@eneral-
fefretär der PBoltsbühnenvereine, Dr.
Siegfried Neftriepfe, ericheinen zu feben.
Das Hübſcheſte an diefer Paritat aber
ift, daß Gerft nur „Mitglied und Fire
derer”, Neftriepfe aber Mitglied des
„Arbeitsausfchuffes“ ift.
Der „Arbeitsausfhuß“ ift
das Wefentlide, Ehrenausſchuß und
Gorderer find nur Werbeangelegenhei-
ten. Wer aber ift der Vorſitzende des
Arbeitsausfhuffes? Staatsfefretar
Heinrid Schulz, der „Bildungsfchulg“
der Sozialdemofratie. Wolfgang Heine
fist aud im Arbeitsausfhuß. Und...
nun, e8 paßt alles wunderfhön zuſam⸗
men
Sm Shrenausfhuß ift man libe-
raler. Da erfdeinen neben Maz Lie-
bermann und Paul Löbe aud Jarres
und Duisberg pom Reidsverband der
Induftrie. Sie dürften ebenfo abnungs-
Ios fein wie Wilhelm pon Bode, Ri»
ard Strauß und abnlide unbefdrie-
bene Dlätter. Sie fehen nur die „not-
leidenden SKünftler“, mit denen das
Werbefdreiben anhebt.
Wir feben in diefer „Oemeinſchaft“
nidts anderes als einen der don Berlin
ausgehenden foftematifden DBerfude,
das deutſche Bildungs- und Kulture
leben unter den Aufpigien einer bee
ftimmten ®elinnung zu zentralifieren.
Darum follen fie’s nidt tun? Warum
foll die „Koalition“ nidt verfuden,
fih durd) Organifationen aud geifti
durchzuſetzen? Was uns verftimmt, t
nur, daB wir die Abfidt merfen
miffen, ftatt daß man fie uns offen
fagt. HieBe das Ding „Schwarzrot⸗
goldene Sunftgemeinfdaft“, fo —
braudten wir fein Wort darüber zu
verlieren.
* Seftftellung.
Se iHmablide Behandlung des Gals
les Schillings im preußifchen Lande
tag follen wir ruhig dabingeftellt fein
laffen? Ich babe in der Sloffe „Bar-
205
lamentum Iocutum — caufa finita?
(Aprilheft) die Ehre des Landtags an-
gear iffen, id babe aud Herm Dr.
chwering perfinlidh angegriffen und
ihm das Heft zugefandt. Meine Gloffe
ift im Landtag behandelt worden
bene pom 11. Mai), aber nidt von
Herrn Dr. Schwering, fondern — von
dem demofratifhen Magdeburger Ober-
ftudiendireltor Dr. Dohner.
Aber niemand Hat mid verflagt.
Trotz des Geſetzes gum Sdube der Ree
publii. Man bat die Beletdt-
gung gefhludt, weil man
nihtden Mut hatte, für den
Salt al bor Oericht
gerade au ftebe
Statt deffen —8* ſich Herr Dr.
Bohner mit einem weinerliden Appell
an die Redte, „mit einer folden Spra⸗
@e in den Ihnen naheftehenden Orga-
nen endlid einmal aufzuhören“. Dazu
mödte ich bemerfen, daß id in der gee
famten Redten des preußifchen Land⸗
tags niemanden fenne, der mir irgend⸗
wie „nabeftebt“. (Seit Dr. Karl Berne
Hard Ritter diefes Parlament mit
einem Geufger der Grieid@terung ver⸗
Iaffen bat.) Ich ftebe nicht an zu fagen,
bah fih aud die Redte im Fall Schil⸗
lings miferabel ge ug benommen bat
und daß fie gut daran tate, fid einen
Abgeordneten zuzulegen, der von den
Dingen der Kunft und Kultur einiges
verfteht. Herr Dr. Bohner hat offen«
bar die Borftellung, daß id durch feine
Kollegen von der Redten „beeinflußt“
werden fdnnte. Ih bin nidt in der
Lage der Iournaliften bom Berliner
Sageblatt oder pom Vorwärts, denen
der Mund durd den Parteifliingel ver
bunden werden fann. Ich fehe nicht ein,
warum id für die Landtagsgewaltigen
pon redts und links rüdlichtspollere
®efiihle Hegen follte als Oötz von Bere
lidingen für den Hauptmann bon Ihro
Ravferlider Majeftat.
And nod eins: Herr Oberftudien-
Direltor Dr. Bohner hat im Landtag
nur die Worte vorgelefen, die id gee
{rieben hatte, um eine Handhabe zum
ea adh Borgeben gegen mid zu
ieten. Die Begriindung meines Bore
turfs bat er nidt mit vorgelefen, ob-
wohl er dazu faum zwei Minuten ge-
braudt hätte. G8 fanden fid ein paar
Arme im Geift, die Pfuil riefen. Das
galt felbftverftandlid mir, nidt etwa
Herrn Dr. Bohner. Parlamente haben
befanntlid ihre eigene Moral.
706
3 für meine Perfon würde mid
weiter nidt aufregen, wenn Der Bee
rühmte Leutnant mit feinen ſympathi⸗
fen zehn Mann (die immerhin ehrliche
und couragierte Serle find), die an-
mafliden PBrovingler, die da tm Lande
tagsgebäude über Maz von Sdillings
Arbeit und über mandes andere, woe
pon fie nichts verfteben, zu Seridr
fipen, in ihre Heimatsörter jagte, da-
mit fie nidt unnüberweife derjenigen
Zätigleit entzogen werden, bon der fie
— hoffentlich — etwas verftehen. Gt.
„geitgemäß gelürzt...“
or eini Seit wurden verſchiede⸗
nen höheren Schulen von der Girma
Schlüter u. Go. in Leipzig Bücdherpatete
gugefandt, denen Liften für Sammel»
beftellungen beigelegt waren und Re-
flamezettel mit der Ueberſchrift: ,, Swet
Sroftaten, die bor uns nod feiner
pollbradt bat! Srftmalig und vielleicht
nie wieder fo billig’ ufo. Außer
„Brehms Sierleben“ wurden verſchie⸗
dene deutide Klaffifer angeboten, und
zwar tatfadlid fo billig, dab id fdon
perfudt war, mir die Werfe Frehtags
zu beftellen. Dod) [as id nod redt-
zeitig auf dem Titelblatt: ,iinter Sue
grundelegung der Origtnalausgabe
durchgeſehen und heitgemäß gelürzt bon
orig Stowronnef“.
Die Worte „zeitgemäß gekürzt“ mad»
ten mid ftubig. Noch kurz vorher hatte
id in der Bongſchen Soethe-Ausgabe
gu meiner leberrafhung das Sedidt
„Shrifti Tod und Hallenfahrt* und das
Sragment „Der ewige Jude“ nich t ge»
funden. Das Fehlen gerade diefer bei»
den Dichtungen wurde mir —
als ich erfuhr, daß man bei Bon
— Dichtungen nicht unintere tert
er dies Srlebnis mißtrauiſch ge-
worden, nahm id den erften Band von
Kreptags „Soll und Haben“ mit nad
Haufe, um ihn mit meiner Original»
ausgabe (Hirzel 1891) Br vergleiden;
der Befund war überraſchend.
Blei im zweiten Kapitel des erften
Budes fehlte der ganze Schluß, wo
Srehtag mit Meifterfhaft den deut»
[den Siingling Anton Wohlfahrt neben
feinen jüdifhen Altersgenoffen Peitel
Sig ftellt. Beide find auf dem Wege
zur Stadt, um dort ihren Lebenslauf gu
beginnen. Anton, nod — — durch
das romantiſche Erlebnis
Sräulein pon Rothfattel, ſchaut bewun⸗
dernd nad dem Schloffe zurüd; in fei-
nem Herzen ertoadt der Entſchluß, es
im Leben durch ebrlide Arbeit den
Gdelften gleihautun. Das bezeugen
feine Worte: „So feft, fo edel!* Schon
diefe Worte hat Sfowronne~ — offen-
bar als „nicht zeitgemäß" — Wegge-
laffen und dann die ganze folgende
Spifode (faft vier Drudfeiten), in der
Beitel eit feinen Blan entwidelt, wie
man das Grbgut des ehrenfeften Bae
rons Rothfattel an ſich bringen fönne,
Dane pon den Seridten gefaßt zu wer-
Im dritten Kapitel, wo Ghrenthal
den Baron zu verhängnisvollen ®eld-
er verleitet, fehlen alle die Stel-
die den triecheri {Hen Heudlergeift
Ehrenthals zeigen und feine ztelbe-
wußte Abficht, den Baron durd folde
Selhäfte um feinen Befig zu bringen.
©®anz arg gufammengebauen ift das
vierte Kapitel. Hier fdildert Freytag
den Gintritt der beiden jungen Männer
in die Stadt und in thr Gefhäft und
geist dabei wieder Mar den Segenfag
8 deutfchen und des undeutiden Oei⸗
ftes. Aber fiehe da, alle diefe [ebens-
pollen Szenen bat Herr Skowronnek
pollftandig verfhwinden Iaffen, foweit
fie Beitel Ibig betreffen, im ganzen
atodlf Drudfeiten der Originalausgabe.
Das fünfte Kapitel, wo Schmeie Tine
feles zwar in recht beluftigender Weife
feiliht, ohne fih jedoch als Detrüger
Darzuftellen, Hat Onade por Herrn
Sfowronnels Augen gefunden. Dagegen
ift die Spifode im dritten Kapitel des
dritten Buches, wo Tinfeles pon Anton
Wohlfahrt als SGdurfe entlardt wird,
„zeitgemäß“ vollftändig ausgemerzt,
wieder etwa feds Drudfeiten.
Nod fdlimmer fteht e3 mit dem
adten Kapitel. Nadhdem Frehtag in
den porigen Kapiteln das Kontor
Schröters und die Perfönlichleiten des
Chefs und feiner Angeftellten gezeichnet
bat, zeigt er den Oegenſatz zu deutfcher
Art in dem Entwidlungsgang Beitel
Itzigs. Das ganze adte Kapitel, wo
Geitel fid bewußt gum Schurken aus-
bilden läßt, — zwanzig Drudfeiten der
Originalausgabe — ift geftriden. Go
geht es dDurd das ganze Bud.
nd das find feine „unmwefentlidden
Spifoden“, wie es Herr Sfowronnef
uns im Dorwort glauben laffen midte.
Nein, [bon im zweiten Kapitel zeigt
Freytag durd die Segeniiberftellung
dot beiden Berfonen den ganzen Bere
lauf der Handlung, den Aufbau des
ganzen Romans. In ihnen verkörpert
er einerfeits die aufbauenden Kräfte
des ehrliden Deut{Htums, andererfe
Die zerfeßenden des jüdifhden Mame
monggeiftes. Wer es oe. — alle
jene Stellen, wo der ausg en
difde Oeiſt ſich zeigt, fon ——
vernichtet das ganze Werk.
Es würde zu weit führen, wollte ich
den ganzen Roman ſo durchgehen, wie
id es oben getan. Nod einmal fei ge
ſagt, daß es ſich nicht um Kürzungen
unweſentlicher Epiſoden handelt, die in
„pietätvoller Weiſe“ vorgenommen
ſind, ſondern um weiter nichts als eine
Verderbung unſerer Nationalliteratur,
die in einem Intereſſe, das nicht das
deutſche Intereſſe iſt, in pietätlofer
Weiſe ausgeführt wird.
Solde „Broßtaten“ gegen den Seif
wehrlofer Dichter [deinen in der Tat
„zeitgemäß“ zu fein. de Vries.
Neue Bücher
Julius Havemann, Pilger
burd bie Nat. Roman. 728 ©,
Gr. Wilh. Grunow, Leipzig.
Der Lübeder Dichter, der am 1. Sep»
tember ſechzig Sabre alt wird, bat in
biefem Jahr einen großen biftorifhen
Roman ae Bande in einen Band
bunden) berausgebradt. Die Dee
[site fpielt in der Seit der Kämpfe
Karls V., der deutichen Firften, Städte,
Bildafe. Moris bon Gadfen, Heinrid
pon Draunfdweig, Bilhof Weldior
Sobel bon Würzburg, Markgraf Al-
breht Alcibiades von Brandenburg-
Sulmbad, Srumbad, die Henneberger,
die Glafdenbergs und Tuders in
Nürnberg, der RKaifer, der franzöfifche
König Heinrid, gabllofe Seftalten aus
allen Volksſchichten — es ift ein unge-
beuer mannigfaltiges, bunt bewegtes
Geſchehen. Aber in der Fülle der Sze⸗
nen — man bat wohl zuweilen das See
I, an Gerfaffer bätte feinen $r-
inderreihtum befdneiden follen —
707
madt fid immer wieder die fefte, fichere
Hand des Meifters bemerkbar, der dem
Geſchehen einen finnvollen Aufbau gibt.
Zunädft: es ift ein echter gefdidt-
lider Roman, der ein Zeitbild gibt und
die politifhen und religionspolitifchen
Wirrniffe der auf den ſchmalkaldiſchen
Krieg folgenden Zeit erzählt. Beban-
delt ift das Jahrzehnt bom Februar
1547 bis gum Sanuar 1557. Aber der
oe will in diefer Oeſchichte mehr
geben.
Der Roman Hat zwei Helden: den
(erfundenen) Ritter Michael von Rau»
ned und den (biftorifhen) Marfgrafen
Albrecht Alcibiades. Sie ftehen gus
und gegeneinander etwa wie Pargival
und ®awan. And das alte Gulenneft
der Raueneder Ritterburg ift fo etwas
wie eine heimlide ®ralsburg, wo der
alte Kafimir, Michael DBater, durd
das „Leben im Geift die Wültheit der
irdifhen Zeitläufte in Freiheit, Frie-
den und Humor überwindet. Albredt,
ein fraftftrogender, aber baltlofer june
ger Zürft, deffen Wünſche bis zur
Raiferfrone greifen, verftürmt fein Lee
ben, bis er frant ins frühe Grab fintt.
Michael, der fih eine neue Wutter
Bolt, der gegen alle, aud gegen den
Marfgrafen, Treue bewährt, findet aus
dem verfinfenden firftlid-ritterliden
Zeitalter des entarteten Kampfes und
der Dumpfbeit hinüber in ein bürger-
lies Zeitalter und in die Klarheit des
®eiftes. Sr führt feine Kondwiramur,
die junge Notburga Tuderin, beim.
Den philofophifdhen Ertrag des Buches
findet man in dem Kapitel, wo der Tod
des alten Kafimir erzählt wird, Seite
684 ff. Das alles ift in fieben großen
Kapiteln aufgebaut.
Dir dürfen diefes Wert, bas uns der
Dichter zu feinem fechzigften Seburts-
tag fdenfte, als ein Bermädtnig an
das deutihe Bolf anfehen: eine War-
nung und eine Mahnung. So möge es
weithin wirfen. Ot.
Bifltor Seramb, Deut{des
Braudtumin Defterreid. Cin
Bud zur Kenntnis und zur Pflege
guter Sitten und DBräude. 2. Aufl.
160 6. Alpenland-Budhandlung Süd-
marf, @raz
Seramb, der Leiter des Orazer volks⸗
kundlichen Muſeums, bietet hier ein
Handbuch für die Pflege der Bolfsfit-
ten, Bräuche, Gefte, die „entweder nod
nit oder dod) nicht feit allzu langer
Zeit erlofden find und deren Wieder-
708
belebung bei richtiger Pflege Ausfidt
auf Erfolg verfpridt*. Wer, pon Gee
rambs Auffab im Hauptteil unfres
Heftes angeregt, nad praftifder Weg-
weifung fudt, dem Hilft diefes Bud.
Der Stoff ift nad Monaten geordnet,
flar und für die Brazig hinreichend ause
führlih, mit Texten und Noten. Dem
Jahreskreis folgt ein längeres Kapitel
über Hodzeitsbraude. Regifter forgen
für bequeme Benugung. Gs ift eines
jener willfommenen DBüder, in denen
die Wiffenfdaft dem Bolfsleben dient.
Gin paar Stidworte aus dem Inhalt:
Sonnwendfeier, Fahnenſchwingen,
Oſterfeuer, Schwerttanz, Pfingftlufen,
Perchtenlaufen, Nifolausfpiele, Korn⸗
aufwecken, Fronleichnamsbräuche uſw.
Viktor ®eramb, Volks—
funde der Steiermark. Gin
Orundriß mit 4 Karten und 46 Abe
2 ao (Heimatlunde der Steier-
arf. Her. von Dr. Walter Semet-
fowsti. Heft 10.) 72 6. Schulwiſſen⸗
[haftlider Verlag Haafe, Wien.
Abfdnitte: Begriff und Ziele der
Boltstunde. Siedelung, Haus und Hof.
Bom volfsfundliden Serdt. Nahrung
und Lebensweife. BolfStradt. Bolfs-
glaube. Gitte und Braud. Bolfs-
didtung. Nidt eine ausgeführte Gad-
darftellung, fondern eine erfte Ginfüh⸗
rung in das Gebiet, um das Ginarbeiten
und Gelbftbeobadten zu ermöglichen.
Daher die tnappe Gorm der Ueberfidt,
die nur bier und da zu ausgeführten
Beifpielen fic) erweitert. Aber Die
Wärme, mit der der Verfaffer darftellt,
läßt nirgend Ihematifche cn
auffommen.
Sarl Geelig, Die ae
genten im Spiegel fchweigzerifcher
Volksſprüche. (Erfter Frofdauerdrud.)
Pappbd. 4,80 ME. Orell Füßli Verlag,
Zürid.
Garl Geelig Hat mit feinem guten
Spürfinn für diefe Dinge ein entzüden«-
des Büchlein aufammengeftellt. Bore
weg werden Die vier Dabresgeiten je
burd ein betrachtſames Wort pon Jee
remias-@otthelffher Art und einem
Ihönen, andädtigen Oeſang (woher
find biefe pradtigen Stüde eigentlid ?)
Haratterifiert. Dann fommen die zwölf
Monate dran. Sedesmal vorweg ein
Biergeiler, der die bäuerlide Monats-
arbeit angibt, dann die Wetterregeln,
dann die Monatsarbeiten in Profa,
dann das Horoffop, gum Schluß einige
Spridwörter. So geht es zwölfmal in
gleidem Rhythmus. Dazwilhen Holz»
fdnitte bon Rudolf Urad nad alter
Art, bis auf etlide gut gelungen. Gee
radezu verblüffend ift das Horoffop,
bas wir porn unter ,,Grlefenes“ als
Probe aus diefem nidt nur volkskund⸗
lid, fondern aud menſchlich wertvollen
Bidlein, wiedergeben — welde Mens
Ihenfenntnis ftedt darin! Wie feine
Beobadtungen feelifher SKomplezel
Sedesmal fteht ein ganzer, in fid ge-
ſchloſſener Menſch vollebendig vor uns,
ohne Konftruftion, ohne Woralfema,
einfad aus einer erftaunliden Intui-
tion beraus. Ot.
Lebensborn 1927. Ein Jahr-
weifer für innere Grneuerung. Her. pon
Wilibald Ulbricht. 160 SG. Geb. 1, geb.
1,50 Mf. Wilhelm Limpert, Dresden.
Der Herausgeber des Diirerbund-
Sefundbrunnens hat fid, weil er fid
einer innern, den Geift des Kalenders
betreffenden Alenderung widerſetzte,
bom Diirerbund gelöft und bat einen
„neuen“ Kalender unter dem neuen
Titel „Qebensborn“ herausgegeben, ber
aber dod eine geradlinige Gortfebung
feiner ®efundbrunnen- Arbeit tft. Das
Sormat ift ein wenig böber, der Inhalt
aber quantitativ derfelbe mie im alten
SGefundbrunnen. Aud qualitativ, zumal
ein Zeil der alten Mitarbeiter mit gum
Lebensborn hinübergegangen ift. Der
Kalender fteht unter dem Beiden der
»dret großen Jubilare“, Kleift, Beet-
boven, Peftalogzi. Der Inhalt ift in
bezug auf Politif und Religion völlig
neutral, um das ganze Bolf angus
fpreden. Und darin offenbart fid nun
das deutide Leiden, daß um der Pare
teilichleiten willen das, was einem
Kleift am meiften am Herzen lag, nidt
laut werden darf, es würde als „Mili«
tarismus“ und Inhumanität ausgedeu-
tet. Was bleibt, ift das rein Kultu⸗
relle, das Aefthetifhe, das Reforme-
rifde, das durdh alle Parteien Hine
dur Aufnahme findet und das Haber
dem Kalender fein Gefidt gibt. Möge
das DBüdjlein freundliche an
finden.
Zwieſprache
ar das vorige Heft der Oroßſtadt
gewidmet, fo dieſes Heft dem pri-
mitiveren BolfStum, insbelondere dem
Bauerntum (und zwar dem, wie Riehl
fagt, „guten“ Bauern). Das Sentral-
problem, auf dag man bei der Befdaf-
tigung mit dem Bolfstum immer wie⸗
der fommt, ift das der Sitte als der
überperfönliden Norm des Lebens.
Seder „weiß“, was Sitte ift, aber man
fann immer wieder beobadten, daß
auch die, welde es „wilfen“, in ihrem
Tun und Handeln auf alles andere eher
Rüdfiht nehmen als auf die Sitte. Ba,
fie fommen fid befonders gefdeit por,
wenn fie die Gitte fpöttifch verlegen.
Alsdann glauben fie fid als Künftler,
®elehrte, Sournaliften uf. turmhoch
über die bon der Sitte Sebundenen zu
erheben, und find dod nur arme Halb»
gebildete. Das ganze Problem der
Gdund- und Sdhmubliteraturbefamp-
fung ift nur deshalb fo verzweifelt,
weil man, troß allem „Wilfen“, fein
wirflides Berftandnis für Sitte bat.
Sin GSifenbahnminifterium, das üble
erotifhe Literatur in den Babhnbhofs-
budbandlungen zum Verlauf zuläßt,
madt fi ga ganz einfad der Verletzung
der Bolfsfitte fhuldig. Sin anftändiger
Menſch hängt fo etwas nicht andern
Leuten vor die Nafe, ein anftändiges
Minifterium darf es aud nidt tun.
Durd Adtung por der Sitte wird fein
Künftler in feinem Schaffen befdrantt,
fein @elehrter in feinem Gorfden, fein
Sournalift in feinem Kampfe (e8 fet
denn ein Theodor Leffing, um den ed
dann freilid nidt fdade ift), Wie
bat ein Ooethe, wie ein Leibl (der unter
Bauern lebte) die Sitte geadtet! Mit
einigem Gefühl für Gitte Löfen fich die
Sragen des Schmubes und Schundes
pon felbft.
Im „Broteftantenblatt“ lafen wir ein
Bedauern, daß man den Deutfden nun
ar fon die Neger als Borbild hin⸗
elle. Das ging wohl auf Gordes’ Auf.
fa über Outmanns Arbeiten, im
»deutiden Boltstum“. Se nun, man
fann von den Hunden, von den Bienen,
nah Sdiller fogar von den Pflanzen
lernen, warum nidt von den Negern?
Was Sitte ihrem Wefen nad ift, kann
man bei den primitiveren Pöllern
beffer ftudieren als im modernen
Deutihland. Das beißt nicht, daß wir
die Neger nahahmen follen, aber
709
e3 zeigt uns den Weg gum Wefent-
liden. Und fo ift zweifellos niemand
berufener, ung auf Wefen und Wert
der Sitte hinguweifen als Meinhof, der
ger Kenner der Negerfpraden und
Negerlebens. Dadurdh braudt fid
das wefteuropaifde Selbſtbewußtſein
nicht gefrantt zu fühlen
Reider mußten wir ciel Aufſätze, die
für diefes Heft beftimmt waren, zur
rüdftellen, einmal, weil einige Arbei-
ten zu lang geraten waren, zum an
dern; wir wollten den Auffaß von Rud-
boff, obwohl er nidt in den Zuſam⸗
menban — Heftes paßt, noch im
September in die Oeffentlichkeit brin-
gen Was Kudhoff, im Hinblid auf
a8 fommende Theatergefet, über die
beiden Organifationen der Boltsbühne
und des DBihnenvolfsbundes fagt, ift
bon größter Widtigfett. Id bin der
Meinung, dah der Berfaffer in feiner
Kritik das gefehen und Herausgeftellt
bat, worauf es anfommt. Ich bitte alle
unfere Lefer, die mit diefen Dingen zu
tun haben, Kuckhoffs Sedanfen forge
Bei gu erwägen. Der ganze Gall
Schillings (zumal feine Behandlung im
preufifden Landtag) wäre ja fo nidt
möglich gemefen, wenn der Drud der
pom Winifterium fubventionierten Or-
ganifationen auf die politifmden Pare
teien nidt modglid gewefen wäre. Hier
liegen Dinge vor, die für die Gaus
berfeit und Grethett des
Runftlebens ſchließlich wichtiger
find als die Muditatenfreiheit. Gegen
die „neue lez Heinze“ Dürfen Die
Sournaliften des Berliner Tageblattes,
der Doffifhen Zeitung, des Vorwärts
(und was dazu gehört) zu Felde ziehn,
je lauter je beffer — Schilling aber
mußten fie fallen laffen. Das poli-
tifhe Parteiintereffe fommandierte, und
die GFreiheitshelden von der Geder
Austen und ließen dem Unredt feinen
g. —
Dr. Tholens Auffah ftammt aus
einer größeren unveröffentlidten Are
beit über Poleng als den Kulturhiftori«-
fer des ausgehenden neungebnten Jahr⸗
hunderts.
Im Zuſiheft ſind die Bilder aus
einem Mißverſtändnis falſch eingehef⸗
tet. Die Wiedergaben nad den Gemäl⸗
ben gehören in die Mitte, die Wieder-
gabe des Holgreliefs „Mittag“ gebört
ans Ende des Heftes. Gonft rundet fid
das Heft nicht aus.
Aud if in meinem Aufſatz über die
710
Qichtbefleideten ein finnentftellender
Drudfehler ftehengeblieben. Geite 498
Zeile 10 bon unten muß es nidt hei⸗
fen: „Nadtfultur“ will alfo rechtver⸗
ftandene Nadtfultur fein, fondern:
„Radtkultur“ will alfo rediverftandene
Nadtnatur fein. —
Der Lidtbefleideten-Auffag bat viele
Refer vergniigt und mande geärgert.
babe id nit alle Briefe durd-
lefen fénnen, die darauf Bezug nehmen.
Das nadfte Mal ein paar Worte dazu.
Bon den Worten Arndts am Schluß
ftammt das erfte aus den „PBhantafien
zur Berichtigung der Urteile über fünf-
tige deutide Berfaffungen“, das andre
aus dem Auffaß „Ueber Preußens
Rbheinifhe Markt und über Bundes-
feftungen“, beide bon 1815. Die polls»
ftandigen Stüde findet man in dem bon
Werftenberg in unferm Berlag heraus»
— Bande „Ernft Woritz Arndt.
in Bermadtnis an ung“.
Die Notenbeilage ftebt im Zuſam⸗
menhang mit Franz Hehdens Aufſatz
über die Liebeslyrik deutſchen
Volkslied. Sie iſt von ſeinem Sohne
Reinhold Heyden bearbeitet ee
Sur Notenbeilage.
Dem Ginleben in bie Liedmwei-
fen wird etwa dieſe Reihenfolge fire
derlid fein: 1. Sh hört ein Sidelein,
2. Die Briinnlein, 3. Fh armes Käuz-
lein, 4. Mir ift ein rot ©olöringelein.
5. Ad Slfelein und 6. Wie ſchön blüht
uns der Naie. — G3 handelt fid aus«
{HlieBlid um „alte“ Lieder. Diefe Aus⸗
wahl zeigt die Bollfommenheit der nod
pom Bolfe als Sefamtheit gefungenen
Lieder. Die rhythmifhe Fille diefer
Liedgeftaltungen zu erfalfen, ift die
wefentlidfte Borbedingung fürs Sine
gen. Dazu Hilft einem por allem ein
ganz urfpriinglides Eingehen auf die
natürlide Rhythmik des Tertes. Was
Das heißt, bat der erfpürt, der 3. DB.
den melodifden Sug „Ih hört ein
Gidelein raufhen“ oder „Die DBrünn«
lein, die da fließen“ als das mufifalt-
Ihe Ergebnis eines gehobenen, bee
Ihwingten Spredens diejer Textzeilen
faßt. (Wie uns der Zugang zu diefer
LMrfpriinglidfeit der Anfhauung und
bes Hörens allmablid) verbaut wurde,
gibt ein Gergleidh der Heute allgemein
verbreiteten Heidelberger Melodie tm
%/-Zalt zum alten ,,Sidelein’-Dert
mit der — ebrachten originalen
Weiſe 3 — Das ,Kauglein
fleine“ führt dann [don zu ftärlerer
Komplizierung des melodiſchen Sefde-
, gu weiterer Ausihmüdung und
Belebung der vom Wort geborenen
Weife durh „rein“ mufifalifhe Gle⸗
mente (3. DB. die Schlußbildungen
„Flie»gen aus“ und ,man-den
raus“). Ginige Handhaben zur une
mittelbaren Annäherung an die De»
wegungsporgänge in der reihen Melo»
Dif des fedgehnten Jahrhunderts aus
dem Notenbild felbft perfudt die in der
zn angewandte Notationsmeife zu
— Die beiden Tang lieder „Mir
ſt ein rot Soldringelein“ und „Ad
Glifelein® Iaffen ihre Beftimmung aus
der in den Zluß des gefprodenen Wore
te8 eingreifenden Regelung des melodi-
hen Wlaufs zugunften des ruhigen
Diegend im Tange erfennen (Drei-
talt). Das „Elslein“-Lied verrät gu-
dem [don im ftrophifden Aufbau
— — erſte Strophe von
chen, zweite von Mädchen geſun⸗
gen —, Bufammenfaffung in der letz⸗
ten) beftimmte Formen des Tanzes. —
„Wie ſchön blüht uns der Maie“
ſchließlich knüpft in feiner durdaus pom
Liedtert Herfommenden Melodit an den
Charalter der be erwähnten Lie-
der an, unterfcheidet fich bon diefen aber
burd die reihe Melismatif (längere
Melodiezüge auf einzelnen berborge-
bobenen Sextfilben wie „Mai e“ oder
„Ba-hin“). Man fann hierin wohl
eine ilmgeftaltung oder gar Selbft-
Ihöpfung Othmayrs für feinen Gab,
alfo weniger eine allgemein ins Bolf
eingedrungene Weife vermuten.
Ginige unferer Liedweifen erfdeinen
nit in ihrer einftimmigen Gorm, fon-
al8 Gantus firmi eingebaut in
mebrftiimmige Liedfäße, —
ihnen geſellen ſich eine, zwei oder dr
weitere Stimmen. Die —
und eigene Schönheit dieſer „N
immen“ gebt einem [don auf, wenn
man fid in jede einzelne bon ihnen ge»
fondert vertieft. Ihren legten Sinn
aber offenbaren fie natirlid erft im
Sufammenbang mit dem lebendigen
©efüge aller Stimmen. — Gorfter läßt
ben bleibenden und treibenden Kern
des Stimmenorganismus, den Cantus
firmus, zu uns Diefes fagen: „Wein
art und weiß in mittel maß / Gen an-
bern ftimmen ift mein ftraß / Die ba-
bent adt auf meine ftimm / Den
Mennern id für andern zim.“ Die häu⸗
figfte und ftarffte Urform, in der fid
die Nebenftimmen in ihrer Snte
faltung pon der Hauptweife herleiten,
ift die des Kanons und der aus ihm
entiprungenen Smitation (fiebe den
zweiftimmigen „Elslein“ Satz, den Ane
fang des ,, Briinnlein*-Gages und die
immer abfdnittweife wiederlehrende
tongetreue Ankündigung der Liedweife
dburd den Disfant und Alt im Othe
mayrſchen Mailied, ehe diefe tm Tenor
als Santus firmus felbft endgültig auf-
taudt). Andeutungsweife fei nod auf
die engen Begiehungen in der Entfal-
tung der Stimmen des meifterhaften
„Brünnlein“-GSabes verwiefen. Man
beadte 3. B., wie bei den Worten „Ia
twinfen mit den Augen“ Disfant und
Senor in ungemeiner Leidtigfeit in
den Drei-Schlag übergehen und die
dann folgende Zeile „Und treten auf
den Zub“ über die ſchon plaftifde
Wendung des Cantus firmus hinaus
durd den impulfiven Lauf tm Tenor
und den Segenrhythmus im Distant
perdeutlidt und gefteigert u
Daß es fi bei alledem nidt um ire
gendeine tonmalerifde Wiedergabe
fonfreter Bilder, fondern ftets um
ftrengfte mufifalifhe Objeftivierung
tezxtimmanenter Bewegungsporgänge
bandelt, muß bier gur Bermeidung bon
Mißperftändniffen betont werden.
@reifbar wird dies Verhältnis von
Text und Melodie, En man fid bor
Augen Halt, daß 3. B. eine Unter
[egung des Textes ,, Bet meines Bub»
len Saupte“ ( u. „Erleſenes“) unter
die „Brünnlein“-Weife und die Stim-
men des Gages durdaus möglich ift,
— daß die Sinheit dadurch zerſtört
tde.
Sim fchließlih nod den allgemeinen
melodifchen Slementen infoweit nachzu⸗
fpüren, al8 e8 für das rhythmiſche Gre
faffen und Singen der Lieder und
Sage unerläßlich ift, werfen wir un
lid auf Motationswetfe und
—
aS bier gebotene Notenbild ver⸗
ud Ihon aus fi heraus dem Lefer
Sänger möglidhft eindeutig das zu
fagen, worauf e8 anfommt, wenn die
überfommenen Seiden tönende Seftalt
annehmen follen. Das Haratteriftifdfte
und dem heutigen Menfden vielfad
nidt ohne weiteres aufgehende Phäno⸗
men in der Melodiebildung jener
711
Boltsliedblütezeit tft das häufige Um⸗
fhlagen des Bier- (Zwei⸗) Schlages in
den Drei-Shlag, dem lebendigen
RKhythmus gehordend. Lim darauf
aufmerffam zu maden, führte ih an
folden Stellen die Zufammenfaffung
duch edige Klammern mit der 3 ein
Nie aber werde id) behaupten wollen,
damit das rhythmifde Leben der Stim-
men erſchöpfend ausgedeutet gu haben.
Das ift in der Notation unmöglid.
Dah es andererfeits aber eine Linge-
beuerlichleit darftellen würde, in dere
artige Melodien oder gar in die Sage,
wo die Rhythmen der verfdiedenen
Stimmen miteinander ftreiten, bon pier
Bierteln zu vier Bierteln den völlig
wefensfremden Zaltftrih einzufeßen,
leuchtet nad allem vorher @efagten,
am deutlidften beim Singen felbft, wohl
ohne weiteres ein. Hiftorifch gefehen
war jener Zeit der Saftftrid natürlidy
unbefannt, weil er mufifalif® erft viel
[pater Bedeutung gewann. Allerdings
notierte man damals fonfequenterweife
nidt in Partiturform, fondern nur in
Gingelftimmen. Sur Förderung der
Meberfidtlidfeit unferes Partiturbil-
des führte id an folden Stellen, wo
ſich modglidft alle Stimmen einmal in
einem gemeinfamen rbptbmilchen
Sdlage treffen, die punftierten Orien⸗
tierungslinien in der GSenfredten ein.
— Aud in anderer Hinfidt fügt fid
die Melodif dem Zaltftrih nicht: mit
dieſem ift ohne weiteres eine beftimmte
Betonung, Algentuierung des „guten“
Taktteils gegeben, die bier nidt in
Stage fommt. Wian würde damit ge-
tadezu die den melodifden Linienzügen
eigene Schwebelage, ihre unendlide
Weite zerftören, an diefe thre wefent-
lidfte Gigenart gar nidt Heranfommen.
Reinhold Heyden.
Stimmen der Meifter.
G* gibt einen géttliden Strom des Lebens und der Liebe, der als der innigfte
und Heiligfte durd ein ganzes Bolf fließet und alles, was das Doll emp-
findet, denfet, bildet und fchaffet, begeifternd und befeelend durddringt und von
innen ber als Geuerfeele de8 angen zuweilen berausihlägt. Diefes in allen
Deutf[hen Lebende und alles Deutide pon innen ber Befeelende und Berbindende
fann man wohl die Deutfchheit nennen. Sd geftebe bier, daß ich mid des Bee
fenntniffes diefer Deutfchheit nicht fame, die von fo vielen einedeutfhe Wut
genannt wird. — —
Daß meine Worte Donnerftrahlen und meine Sedanfen Blige würden, die
in jede deutfhe Bruft einfhlügen und fie entzündeten! Dah id unfern Sdimpf
und unfere Schmad, unfere Wot und unfere Gefabhr allen in das Herz brennen
fönntel Daß id alle mit edlem Haß entflammen könnte gegen unfre äußeren
und inneren Geinde!l Daß id alle mit der Liebe des Baterlandes entflammen
fonnte, welder e8 endlich unertraglider würde als der Tod länger die Sammere
lidfeit zu dulden, daß mir, melee die Starfften und Sewmaltigften in Guropa
fein fönnten, als das ohnmädtigfte, dimmfte und unmündigite Bolf daftehen
müffen! — O du Gott, der uns fo wunderbarli von der jüngften Thrannet ere
rettet bat, o ihr Seelen der Helden, die ihr droben von den lichten Sternen auf
die irdifhe Not herabfchauet, Iaffet uns nicht wieder verfinfen in Faulheit und
Dleichgültigfeit, laffet uns nicht wieder werden wie die Steine und Klöße, Die
fein Baterland und feine Seele haben. DO, erhaltet uns den Geift der Frömmig⸗
feit und der Tugend, den Geift des Stolzes und der Freiheit, womit ihr uns
angetoehet habt, und die Liften unfrer Feinde und die Torbeiten unfrer Freunde
werden nidt mädtiger fein ald Germaniens PVerhängniffe, wir werden endlid
erhalten, tonad wir ung fehnen, ein von fremden Bolfern gereinigtes Deutid-
land, ein ftarfes, freie8 und glorreihes Baterland! Amen.
Ernft Morig Arndt.
2 Gedrudt in der HSanfeatifhen Berlagsanftalt Mitiengelellfhaft, Hamburg.
71
Quahag rianvog 3aq u agryjusonvg, unsnog ualyjnag wag sng
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* EN PS:
Aus dem Deutfhen Volfstum Totenmasfe Sriedrihs des Großen
Deutihes GBolfstum
10. Heft Cine Wonatsſchrift 1926
Sriedrid) der Große.
1,
enn man fid in den Anblid der Sotenmaste Friedrids des Oroßen
4 perfentt, fo empfindet man mit feltfam lebendiger Eindringlichkeit
Die ®röße des Menſchen, der der ©eftalter einer beroifhen Spode
gewefen ift. Auf ben nod) im Tode geftrafften Zügen rubt reine Hobeit,
Die aus unfagbarem Leiden berborgegangen ift. Aber jede bittere
Schärfe ift aus diefem Sefidte verfhwunden. Aus bem Innern [cheint
ein ewiges Licht Herborgudringen: wir fpüren erfdauernd die Wirklich“
feit, Die wir meinen, wenn wir bon Der Berflärung bes Boll-
endeten fprecden.
Unjre Kenntnis bom Wefen Friedrids des Sroßen gewinnen mir
gewöhnli aus der gefdidtliden Betradtung, die uns gunddft ben
König in feinem Werden und in feinen Leiftungen bor Augen ftellt.
Go Ternen wir fein Gharafterdild gemiffermafen nebenbei fennen; wir
bören bon feinen Sigenichaften, Fähigkeiten und Neigungen. Das mag
bei andern Monarchen am Plage fein, bon deren Charalter wir nur
gum Berftandnis ihrer Regierungsbandlungen etwas zu wiffen wiinfden.
Friedrich der Große aber gehört gu den wenigen Seftalten der Ges
ſchichte, bei denen nicht ihr Nuben oder Schaden für den Staat und
ihre Berfnüpfung mit den biftorifchen DBorfällen ihrer Zeit im Borders
grunde unfres OSntereffes fteht. Wir fühlen vielmehr unmittelbar, daß
es fic) bier um ein ſymboliſches Wefen und Sdidfal handelt, abnlid
wie bei den ganz großen Runftwerfen, dem Fauft ettoa, der bie feelifche
Wirklichkeit unfres Bolfes tn ben magifhen Formeln der Dichterifchen
Sprade bernehmbar madt. Wie in der Dichtung feben wir bei dem Schick⸗
fal folder gefdhidtliden Seftalten die Notwendigleit felbft am Werfe.
Darum erfennen wir, Daß uns bier Lob und Tadel nicht gezieme; wir
berfteben, Daß es gu [hauen, nidt zu beurteilen gilt.
Sole Betradtung führt uns zur Begegnung mit den großen Per-
fönlichleiten der ®efdidte und in das Kraftfeld der Ideen, die in
ihnen Berlörperung fudten. Damit erlangen wir feelifd Zeil am Sinn
der Sefdidte und erfahren fie nicht als Kenntnis bon Urfaden und
Zufammenhängen, die unfer Wiffen bereichert, fondern als bas Leben
ewiger Werte in der Zeit, beffen Kräfte unfer Wefen formen.
2.
Am gu folder Anfdauung einer großen ge[didtliden Perfönlichkeit
gu gelangen, bedarf es ,unbefdoltener Augen“. Nichts Halt uns fiderer
46 Dentides Bolistum 713
fern vom Dannfreife Friedrids bes Grofen, als wenn wir unfre Kennt-
nis auf bie patbetifchen Augenblide feines Lebens befchränten und uns
einen Oclbrud-Gridericus guredtmaden, der fic) zur Srwedung einer
bigigen und fentimentalen Begeifterung gebrauden läßt. Man darf
fid nidt vorftellen, daß man fic Diefem Manne mit feelifhder Bee
quemlichleit nähern fann; auf die ®ipfel ber Gefdicdte gibt es feine
Zugſpitzenbahn. Das verhält fic wie mit den Werten Wilhelm Raabes;
wie der Schüdderump bleibt aud) Friedrich der Oroße jedem ungugäng-
Hd, der nit Erſchütterung, fondern Befriedigung fudt. Cs ift eine
Unverſchämtheit, an Dem flachen franzöfilfchen Rationalismus des Königs
mit verzeibender Nadfidt boriibergugeben, um fid das Bild nicht gu
trüben, das man fid bon ibm madt. Solder Gefinnung verſchließt fid
felbftverftändlih der Ginblid in das Weſen Friedrids, und man erfährt
nidts bon Der leidengichweren Herfunft, bon der berabewegenden Bee
Deutung, Die gerade dieſer Zug im Sharalterbilde Griebrids bat. In
den Privatbriefen, in Den Wiederfdriften, die uns troß ihrer geiftreichen
Gorm oft fo dürftig im feelijhen Gebalte anmuten, lebt das leidenichaft-
lide Slidsverlangen des jungen Prinzen als Grinnerung fort, naddem
es der Wirklichkeit des ftdnigliden Dienftes geopfert wurde. Freibeit
der Perfdnlidfeit, eine lichte, geiftige Welt ſchwebte dem genialen
Düngling bor. Gie fand er — wie in diefem Alter jeder von uns — in
den Oedanken der frangdjifmen Aufklärung, bie Damals gerade Den
Zauber ihrer Entftehungszeit ausftrablte. Aber bas preußifche König-
tum, Das ihm in der ®eftalt feines Baters entgegentrat, verlangte etwag
anderes bon ibm: Pienft, Aufopferung eigener Neigungen, Pflicht.
Diefen Weg bat er nicht gefunden, ohne im Kampfe feiner felbftwilligen
Natur gegen fein Schidjal unverganglide Narben dapongetragen zu
haben. In feiner Seele bleiben Srümmerfelder zurüd, bie nie wieder
frudtbar geworden find. Seiner fpäteren Borliebe für Die ®edanten
und @eftalten der Auffllärung eignet jene wehmütige Poefie, die auf
ſolchen Stätten liegt, die für immer verödet find. Das fann man beutlid
an einem Altersbriefe erkennen, den er an DBoltaire fchreibt, nit an
den „Eoftfpieligen Hausnarren* und fdmubigen Intriganten, fondern
an Das reine und bebre Idol feiner Jugend, bas ibm die Zeit ver-
förpert, als er nod) dem Oliide febnfiidiig verhaftet war.
Aud bon dem Wefen Des fiebenjabrigen Krieges gibt uns
patriotiide Sejdidtstlitterung leicht ein falihes Bild. Wir lafjen uns
bon den glänzenden Siegen Friedrihs faszinieren und bemerfen nidt,
Daf feine Niederlagen die Entjcheidung gebradht haben. Niemals Hat er
feine ®egner in jo verzweifelte Lagen gebradt wie fie ibn. Aber er
bielt Niederlagen aus, Die fie nicht ausgebalten batten. Daran erjchöpfte
ſich ihr Kampfwille; er gewann, weil er im Stande war, bas Leste ein-
gujegen, was feiner der vorteiljüch.igen Geinde, nicht einmal der leiden»
ſchaftliche Frauenhaß Maria Dherejias vermochte.
Gr fonnte an feine große Gegnerin fchreiben, Daß er verloren fei,
wenn Die Bundesgenoffen der Raiferin auc nur ihre Pflicht täten, um
fie fühlen zu lafjen, daß nicht das Kriegsglüd, fondern feine Gurdtlofig-
feit Die Macht war, mit der fie um den Sieg ringen mußte. Diefe Unab⸗
714
hängigkeit vom ®lüd, die aus völliger Hingabe an das Notwendige ent-
fpringt, empfand Europa als feine ®röße; ihretwegen wurde er „Der
&inzige“ genannt.
Ser Sindrud pon der Härte und Spannung diefes Lebens verftärft
fid um fo mehr, je tiefer wir in dte gefdidtliden Seugniffe eindringen.
Wir fühlen, daß bier etwas bis zum lebten ausgeformt ift, Das dem
Deutfchen Wefen und vor allem dem preufifden Staatsgedanfen jus
grunde liegt. Friedrich ift Darum der größte König Preußens, weil er
Die Idee diefes Staates derfdrpert, weil fic) in ihm Die beiden Reiche,
das der ewigen Werte und das Der zeitlichen Erſcheinungen, völlig
durchdringen. Davon, nicht bon feinen Taten und Meinungen, geht aud
bie ridjtende Kraft aus, die feine Perfdnlidfeit in unfrer Zeit ausübt.
3.
Manchmal gefdeben Wunder, um die bedrängte Seele zu tröften.
Dazu möchten wir es rechnen, wenn wir erfahren, Daß eine große
Sammlung vertraulicher Briefe Friedrids des Broßen in unfern Sagen
entdedt worden ift.
Griedrids Briefe find im allgemeinen nidt fehr auffdlupreid für
fein Empfinden; faft nie läßt er die fühle Diftangierung außer acht, die
wohl fein feder Wik, felten fein Gefühl überfpringt. In den Briefen an
feinen ®ebeimfammerer Gredersdorf* verhält es fid) anders. Gs handelt
fid) meift um flühtig bingeworfene Zeilen, teils geſchäftlicher, teils per-
fönlicher Natur, die fid) nur gum geringen Zeile auf große Segenftande
beziehen. Dennoch verdanten wir ihnen völlig neue Ginblide in das
Wefen Friedbrids. Denn dtefe Briefe find von einer riidfidtslofen
Offenbeit, die bie unbedingte Treue des Empfängers dorausfest. Auf
fie gründete fi offenbar Griedrids Freundſchaft zu GFredersdorf, eine
ganz ftarfe Herzensbeziehung zu einem [dlidten Menſchen, der außer
feiner raftlofen Satigteit und feiner warmen Grgebenbeit bem großen
Sreunde nichts gu bieten vermochte. |
Eine Fülle bon Grfenntniffen erjchließt fic ung, vermittelt Durch.
bie forgfältige und feinfühlige Arbeit des Herausgebers, deffen Er⸗
fäuterungen weit über die in den Briefen berührten Themen Hinaus-
führen und einen bedeutfamen Ausfchnitt eines Charalterbildes Gried-
rids ergeben, das wir Hoffentlich einmal bon derfelben Hand verpoll-
ftändigt feben werden. Bielleiht gebt der Herausgeber in Der Aus⸗
deutung der Briefe manchmal etwas zu weit und bringt ung um Die
Freude, felbft etwas zu entdeden; tndeffen mag dadurch der Kreis Der
Lefer erweitert fein, die aus diefem Bude Gewinn ziehen werden.
Zwei bedeutfame Ginfidten vermittelt uns biefer DBriefwechlel bor
allem. Sunddft: wir gewinnen die völlige Sewifbeit, daß wir nicht
durch den Slang der Krone Preußens oder durch einen frommen Betrug
der gefdidtliden Meberlieferung verblendet find, wenn wir in Friedrich
einen großen Menfden verehren. In diefer Hinficht find die Briefe das
* Die Briefe Friedrids des Grofen an feinen pormaligen Rammerdiener
Sredersdorf. Herausgegeben bon Dohannes Ridter. Gerlagsanftalt Hermann
Klemm A.⸗G., Berlin-Grunetald, Preis etwa 11,— We.
46° 715
genaue Seitenftüd zur Totenmaste. Legt fie in Der erhabenen Monumen-
talität des Todes Zeugnis ab von ber Lauterfeit Friedrids, fo geben Die
Briefe in den unbedadten Sleinigleiten des Alltags mit dofumenta-
riſcher Treue das durch und durch echte Wefen des Königs wieder. Um nur
ein Beifpiel herausgugreifen: Wir erfahren, wie der aufgeflarte Monard
Dur) Sredersdorf zu der Hoffnung verführt wird, aldhemiftifhe Bers
fude, Gold zu machen, für Die fid) der Kämmerer leidenjdaftlid inter-
effierte, jeien endlich gelungen. Die Entftehung diefer Illufion in ihrer
pſychologiſchen Gntwidlung ift wunderbar zu beobadten; erfchütternd
aber ift es, im fritifhen Augenblid aus einem in beftiger Grregung
bingeworfenen Briefe genau das Charalterbild des Preufenfdnigs her⸗
bortreten zu feben, das wir im Herzen tragen. Griedrid, Der fich in
ewigen ®eldnöten befindet, fieht fid) plöglih im Befige unerfddpflider
Reidtiimer. GEndlid ein Luftfhloß, das den Fühlen Realismus des
Königs überwältigt! Einmal der PBhantafie die Zügel hießen Iaffen,
Die unterdriidten Wiinfdhe aus dem Bollen befriedigen! Hier fdnnen
wir erfahren, was Friedrih am meiften am Herzen lag. Ss ift die
Armee feines Landes. Giebzehntaufend Mann, nad Waffen-
gattungen geordnet, will er neu aufftellen, wenn er den „Zentener
©oldes“ Hat. „Hundert Hugaren vor mihr“, für feine Leibgarde, hat er
fid aud nod gewünſcht. Aber in ber Addition hat er fie wieder weg-
gelaffen ...
Aber außer biefer Beftätigung erfahren wir aud etwas Neues, Das
wir bisher nur ahnen, faum vermuten durften: Die warme, felbftlofe
SHergensfraft Diefes verſchloſſenen Menichen. Gine tiefe perfönlide Yu-
neigung verbindet Griebdrid) mit Fredersdorf, eine freundfchaftliche Liebe,
Die nur in der gemeinfamen Arbeit, nicht in gleichen geiftigen Interelfen
einen Rüdhalt findet. Gs ift eine rein menfdlide Beziehung, Die
Grebersdorf, der ein etwas trodener, ungemein facdlider Menſch ge-
wejen zu fein ſcheint, nur durch feine tätige Treue erwidern fonnte. Gried-
richs Weſen, das uns fonft oft fo fcharf, ja verlebend, anfprudspoll
und riidfidtslos im Umgange mit Wenfden erfcheint, ift bier völlig be—
ftimmt durch) zarten Saft und ſchlichte Hergensgiite; eine DBerwandtichaft
mit Kaiſer Wilhelm dem Grften, wie ibn Bismard fchildert, Teuchtet
pldglid auf. Das ift um fo erftaunlider, als große Menjchen in ders
traulicen Briefen fih baufig geben Iaffen, fid im Banne eines freund-
ſchaftlichen Herzens entfpannen bon der Streng® und Härte ihres Bebens-
fampfes und mit finbdlidem Egoismus Teilnahme fuchen, ohne fie zu
gewähren. Aber der ®rundton der Briefe an Gredersdorf ift: „im mibr
forge Dibr nuhr nidt!* Niemals fpricht er don feinen Nöten und Leiden,
außer wenn er Durd die Nachricht bon ihrer Ueberwindung Freders—
Dorf aufguridten hofft. Denn Diefer ift [mer leibend — Diefem Ume
ftande verdanken wir die Reidbaltigfeit des Briefmedfels — und die
Sorge um feine ®efundbeit ift der immer wiederfehrende Segenftand der
Briefe Griedrids. Man bat befanntlid auf Grund der wenigen bisher
befannten Briefe an Gredersdorf wegen ihres innigen Tones die Bee
bauptung aufgeftellt, Das DBerbältnis Ber beiden Männer babe einen
finnliden Hintergrund gehabt. Der jest vorliegende Briefwechfel wider»
716
legt diefe Annahme bündig. Gs Handelt fid um eine jener großen
Sreundfchaften, die wir aus GFurdt bor Mißdeutung Heute nicht mehr
Liebe zu nennen wagen, wie es noch Goethe getan bat. Sie haben
ftets einen fadliden Boden, aber fie wurzeln im tiefften menſchlichen
@runde. Ihre Sprade vernehmen wir aus Dem ungelenfen Deutſch
Friedrichs, das er, in toller Ortbographie nad dem Gehör gejdrieben,
zum bezwingend unmittelbaren Ausdrud feines Gmpfindens madt. Gs
ift nicht der fühle und fpdttifhe Philofoph von Sansſouci, nicht der
geniale Staatsmann, Der unbeugjame Geldberr, den wir Hier vernehmen,
es ift ein Mann aus dem Deutiden Bolfe, deffen beforgtes, gütiges
Herz zu einem leidenden Freunde redet.
Das ift bas wundervolle Gefdenf, das wir in diefen Briefen emp-
fangen, daß wir Friedrich nidt nur berebren, fondern rein menjchlid
lieben lernen —, fo wie ibn fein Bol? geliebt bat, das durch die fchroffe
Strenge hindurd) das Herz des „Alten Fritzen“ fpürte.
Aus weldem Lebensfampf, aus welder Härte, Entfagung und
Mühfal eines heroiſchen Schidjals fteigt Diefe reine ®üte auf! In
biefem menfdliden Sefamtbilbe, dag nun mit allen Schwächen und
Sugenden bor uns liegt, offenbart fid in gefcidtlider ©eftaltung,
gewaltig und rührend gugleid, Das große Wunder der deutſchen
Seele. ©.
Menzel me Friedrich.
RN“ baben mir fie, Die „neue — und Damit Den neuen Bee
weis der alten Satfade, daß alle Entwidlung — man fagte wobl
beffer: alles einander folgende Werden — in Pendelldwingungen gebt,
daß die Gegenjage fid ablöfen. Hätten wir nicht die Außenfeiter und
jene Maler, die ältere Ridtungsmege rubig weitergeben: bie Fremdheit
gu allen weienhaften Lebensdingen in unferer Zeitrichtungskunſt wäre in
den letten Jahren noch erfchredender berporgetreten. Der Expreſſio⸗
nigmus, Der das Segenteil fein follte, war in feinen lebten Auspräw
gungen eine reine Tart pour Tlart-Angelegenheit geworden. un ift
alfo das neue Marfhrichtungswort da, und wenn die neue Sadlichkeit
aud) gunddft nur eine neue Segenftandlidfeit wird, fo fetmt dod Die
Hoffnung, daß wieder etwas mehr Wefenbaftigfeit, etwas mehr erlebtes
Leben den Ausdrudstringel, bie Ausdrudszade und ben deforativen Aus}
Drudsfled verdrängen werden.
Solde Seiten bringen Wandlungen aud im Urteil über Kunft den
Bergangenbheit. Und id halte es für möglich, daß die „objeltine Auf-
gabe“ der Malerei, an die man fid Hberanmaden wird, aud eine Bers
änderung unjerer heute faft nod rein ablehnenden Stellung zur Hi⸗
ftorienmalerei mit fic) bringen werde — mindeftens gegenüber Menzel.
Gs bat eine Zeit gegeben — es war mitten in der SHerrfdaft Des
Part pour l'art — da war es nötig, daß Menzel „gerettet“ tourde.
®egen den gültigen Meifter wurde „der junge Menzel“ ausgefpielt, der
fogufagen beimlihe Pionier fommender Entwidlungen. Und es ift
717
zweifellos richtig: einige Bilder, die ftill und bon der Seit nicht beachtet
an den Wänden feines Ateliers hingen, bedeuten ein Borwegnehmen ber
Syellmalerei und des Impreifionismus. Das ftille Bild eines Zimmers,
in Dem Menzel einmal gewohnt bat, ift mit feinem Gntftebungsdatum
1845 faum zufammenzubringen. Da find [don bie Probleme der Licht-
Darftellung angefaßt und in einem Galle geldft, die gegen Ende bes
Sahrhunderts die beften Malerlöpfe befdaftigten. Das Weiß und
Dlaugrün diefer Wände, das feine leife Wehen Ddiefer licdthellen ®ar-
Dine, mit der Grifhe und belle SHeiterfeit ins Zimmer dringt, ift im
vertrauten Raum mit unverbildetem, ganz felbftändigem Auge gefeben.
Gin Blid aus dem Genfter don 1846 auf ein vielftödiges Sinshaus und
auf Die am Boden ſchlafenden Arbeiter, Dabor ein paar Parfbdume, ift
Pleinair-Malerei, als Manet ein Kind war. Wiederum bas Theatre
Ohmnaſe bon 1855 ift ein gang imprelfioniftifches Werl, ehe die Wege
in Granfreid umlentten, aus vollfommen felbftandDigem Grobererdrang
gegenüber der Wirklichkeit gefchaffen. Denn Menzel war ein Groberer,
ein preußifcher Groberer. Er war es wohl nod) ftarfer, alg er auf der
Höhe feines Lebens als Sechzigjähriger das „Eiſenwalzwerk“ ſchuf.
Dem Leben in allen feinen Sricheinungen gewadfen fein, Das war viel⸗
leicht Die einzige Leibenfdaft, Die der Meine Meifter fannte.
2.
Adolf Menzel war ein Groberer der Wirklichkeit. Aber über fein
kühnes, echt preufifhes Pioniertum Hinaus, das ihn als Grften Zu-
funftswege der Runft geben ließ, war Die größte Leiftung für fein
Volkstum, die größte Löfung einer objeftiben Aufgabe, Die er fic) ftellte,
‘bod ein anderes. Gs gelang ihm die Riideroberung Der friderizianifchen
Wirklichkeit. Er — por allem er — bat gerade in den liberalften
Jahrzehnten die Welt und Hie Seftalt Friedrichs des Sroßen fo im
Geelenleben Der Deutfden neu lebendig gemadt, daß Griedrid, Der
einft der Heros feiner Zeit gemefen war, nun erft recht zum in feiner
Größe erfannten und in feiner beiten Menfchlichleit gefühlten Heros
feines Bolfes wurde Das ift eine große pojitive Sat, die für ung
beute wieder vertieften, neuaufbauenden Sinn gewinnt.
G3 ift aud „der junge Menzel“, der fie vollbringt! Nach Der
Lithograpbhienfolge „Künftlers Erdenwallen“, feinem glänzenden Grft-
ling, Deffen bitterer Weltbetradtung fein eigenes Künftlergefhid fo
griindlid LUnredt geben follte, macht fid der Adtzehnjabrige an Die
Lithograpbienreibe „Dentwürdigleiten aus der preußiſchen Geſchichte“,
in Der Griedrid) nur mit einem Dlatte vertreten ift. Das Exemplar
der vergriffenen Mappe, bas Menzel dem Berliner Kupferftichlabinett
gab, Bat er 1879 auf Dedel, Borjabpapier und Bitelblatt in feiner
Gnergiebandidrift mit einer Heinen Abhandlung bedadt, Die bon Der
GEntjtehungsweife der Dugendarbeit handelt. Alles muß ibm helfen,
um fid) in Den ®eift Der Seiten zu verfegen. Nicht nur „die Laden
der DBüchertrödler in den zugigen Hausfluren“, in denen er die alten
Sröfter: Buchholtz' Preußifhe Sefdidte, die Srachtenbücher, und in
denen er Shodowiedi — mit Ausrufungszeichen verfeben — findet. Aud
718
bie militärifchen Kenntniffe bes Sdladtenmalers Elshols, die Antiqui-
tätenfammlung des Sagdmalers Karl Schul und die Rüftlammer des
Domlüfters Schilling werden — lebtere wieder mit Ausrufungszeihen —
treulich genannt. „Das alles und mandes, bas aus dem Wunde alter
Beute in der Luft umberflog, ward der DBronnen, mit deffen Waffern
id gelocht babe.“ „Und die Kritif? Die war .... nod tief im Ges
wölte bes Idealismus — ihr Ablaßzettel lautete auf Schönheit — nod
nicht entfhieden zu genehmigen, daß der Menfd nidt Bloß bandelt
oder ausftebt, fondern aud ausfieht, und daß dies fo wenig
gleichgüftig als zufällig ift!“ Dtefer ſchlichte Gab führt uns in Das
Sentralproblem ber gemalten und gezeichneten Geſchichte und auch Hier
beginnt Menzel als ein fonferbativer Redolutionar.
Gs geht bier nicht ohne ein großes Stüd Gelehrtentum. Menzel
wurde „ein febr gelebrter Herr“, wie ibn Bödlin viel [päter einmal ge-
nannt bat. Aber er bat Doch wenigftens für feinen großen Gingelfall
der Welt bewiefen, DaB es gebt, wenn man wie er neben dem unge»
beuren Fleiß und neben vollfommener Gadlidfeit ein großes Künftler-
tum und einen der Welt feines Helden verwandten und Hod nicht ab-
bängigen ®eift einzujegen bat.
Geſchick und Olück verfetten fid in jenen Jahren für Wenzel. Die
Bundertjährige Wiederfehr des Regierungsantritts Friedrids des Oro-
Ben zeitigte Bücher. Und eben die ,Denfwiirdigfeiten” ließen ihn Franz
Kugler als den geeigneten Illuftrator feiner geplanten Gefdhidte Fried-
rids des Oroßen erfdeinen. 1839 unterzeichnet noch der Bormund den
Kontrakt für den nod nicht polljährigen, d. b. nod nicht fiinfundgwangig-
jährigen Künftler. In Diefen vier Jahren Der Arbeit an Kugler, bon
denen er fpäter felbft gejagt bat: „Meine erfte Jugend und mein
ganzes Herz ftedt darin“, macht er fic) in jeiner eigentlichen biftorifchen
Stoffwelt heimiſch.
Der Holafcnitt der Safelrunde von Sangfouci hat Die volle Vebens-
nähe. Gr erläutert Kuglers Worte „Die Abendmahlzeit pflegte den Kreis
der Gertrauten gu beiterftem @enufje gu vereinen. Hier war alles
Wis und Geift, und Boltaire und GFriedrid) ftanden fic als Herricher
im Reiche des Geiftes gegenüber.“ Wir feben den wibigen Wortlampf
der beiden, aber wir feben mehr. Den Mond draußen im Segenfas
gum Sronleudterlidt und Dem @lang auf den Wänden. Dies ift nicht
nur fo eine Slluftration. Hier probt ein ſchon Großer feine Kraft in der
Darftellung des Lidts. Hauptmann Möllendorff bei Leuthen. Pulber-
Dampf und Gewebhrgelnatter. 1839! Mitten in der längiten Friedens-
zeit Preußens! Menzel hatte den Krieg nie gefehen, ſchöpfte alles Befte
aus Der inneren Dorftellung! Und 1839 zugleih ein wirkungsficherer
zeichnerijher Imprefjionismus, der dod aud) Gingelbeiten charalteri«
fierend bedachte. Wenzel ſchuf den malerifhen Holafchnitt. Seine Art _
gu zeichnen bildete eine ganz neue SHolzjchneidergeneration heran. Es
macht ung heute Bergniigen, zu bören, Daß er gunddft auf Parifer Holg-
ſchneider rechnete, die ihm durch Bernets Napoleon-Bud) Gindrud ge-
madt hatten. Dann aber fdreibt er an Weber in Leipzig, den Ver⸗
leger „denen Meſſieurs, welde die Sachen gefchnitten oder vielmehr
219
perfdnitten haben, bitte id) bon meinetwwegen twiffen gu laffen, daß id
mir eine folde fdlingelbafte Mifbandlung meiner Zeichnungen bers
bitte.“ Gr richtete fid dann mit den Deutfden Holafdneidern Unzel⸗
mann, Gubitz, Bogel ein, Die er fi zwar erft erziehen muß, deren
größere Hingabe und Bründlichkeit es ihm aber fchließlich Doch beijer zu
Danf madt, als die traditionsfideren Franzmänner. Friedrich wird nun
fein Held, Ben er Burd) alle feine Lebenstage begleitet, bis er alt und
franf auf der Treppe am Neuen Palais fist oder einfam auf der Tere
taffe bon Sansfouci fdreitet. Die Wärme Menzels, das fogufagen
beimlide Mitgefühl für Das einfame Alter des großen Königs kommt
auf diefen Blättern ſtark heraus.
Ruglers Buch hielt als gemeinverftändlihe Darftellung felbft auf
Anfdaulidfeit bes Wortes und war alfo verhältnismäßig leicht zu
illuftrieren. Weit fdwieriger war Die folgende große Aufgabe, bie
Menzel bon 1843 bis 49 befdaftigte. Sr hatte im Auftrage des Preu-
Bilden Hofes die Werle Friedrids des Oroßen felbft mit Zeichnungen
für den Holzftod zu erläutern. Die Aufgabe war der früheren äbnlid), -
foweit es Friedrihs eigene hiſtoriſche Denkwiirdigfeiten zu erläutern
galt. Unter diefen Werfen waren nun aber aud Ouellenf{driften, trodene
Inftruftionsichriften und Reglements. Hier leuchtet Menzels Geiſtreich⸗
tum glänzend auf, Der in feinem eigentiimlid fühlen ®lanz ja etwas
ausgeiprochen Wahlverwandtes mit Der Yriderizianifhen Epoche ber
Aufflärung bat. So nüchtern der Stoff aud fein mag, feiner ratio»
naliftifmen Phantafie, die dem Wik nabeftebt, fällt immer etwas Bee
geidnendes ein, Das ein flares Schlagliht auf die Dinge wirft und dag
darſtellbar ift. Eine feine Probe. Im erften Kapitel feiner Gefdidte
Des fiebenjabrigen Krieges ſpricht Friedrid) der Grofe bon den Sdwies
rigfeiten der Weiterführung des Krieges im Winter 1759 auf 1760.
Laßt fic) das darftellen? Menzel findet das fdlagend Ginfadfte: Eine
verbundene Hand, Die in den Kriegshandſchuh fahren muß, um ein ders
braudtes Schwert zu ergreifen.
Nidt nur die gefdhidtlide Bedeutung Friedrichs, auch feine lites
rarifhen Neigungen waren etwas, bas ibm Menzel befonders nahe»
bradte. Darum gelang aud) das Blatt, das uns Friedrich zeigt, wie
er im Lager zur Nadt die Ode an feinen Bruder Heinrich dichtet, fo
Hefonders ftarf. Aber aud SKritif an Aftbetifhen DIrrtümern feines
Helden wagt Menzel in illuftrativer Form. Gemeinfam mit feiner Seit
überfchäßte Griedrid) der @rofe den franzöfifchen Klaffigismus. Sr
ftellte DBoltaires SHenriade über Homers Odhyſſee. Der Kavalier von
Menzels Illuftration dazu betrachtet den Torſo des Phidias recht ab-
ginftig. Wir urteilen umgefehrt. Das Schmerztbeater der RKlenpatra,
Das Die Plaftif aus der Zeit darftellt, ift uns Mimenpofe.
Aus der tiefeindringenden DBeihäftigung mit der GFriderigianifden
Seit erwädft nun aud der Hiftorienmaler Menzel. Weiter zurüd
weigerte er fid) zu greifen. Gr hatte für den Runftverein in Gaffel
einen großen Karton für ein Buftan-Adolf- Bild entworfen. Aber als
Die Gade nicht zuftande fam, war er froh und fchrieb 1848 in bewegten
Sagen bie für feine Stellung zur großen Hiftorie bezeichnenden Worte:
720
u.
nest, Wo unfere ®egenwart endlich felbft einen Inhalt Hat und nod
mebr befommt, würde mir ein Stoff, Ber borausfidtlid eine große
Runftanftrengung erforderte, ohne ein Diefer entiprechendes, aud) für uns
nod gültiges inneres ®egengewidt zu befißen, eine Laft fein.“ Das
aud für uns nod) gültige Gegengewicht fand er in Griedrids
bes Oroßen Zeit, die ibm faft ®egenwart war. So folgen Denn etiwa
pon 1850 bis etwas über 1860 hinaus die Griedridsbilder. — Die Tafel»
runde bon Sangjouci am bellen Sage. Das Mahl ift beendet, man
wird bald Durch bie geöffneten Türen auf die Terraſſe binaustreten, aber
der Wein und eine Heiter fprühende Wadtifdunterbaltung halten nod
feft. Die Farbe diefes Bildes bat für uns heute nichts UWeberrajdendes
mebr. Sieht man fie aber biftorifh, vergleicht man fie mit den Werten
der Zeit, fo ift fie erftaunlich felbftändig. Nichts bon dem braunfaucigen
Kolorismus der Beit. Die Harmonie tft weit eher auf einem flaren
@rau aufgebaut, das den Lofalfarben ihr gutes Redt läßt. Nicht alle
Bilder haben die gleiche Fünftleriihe Höhe. Aber auf einem faft ein«
famen ®ipfel ftand Menzel bei feinem „Friedrich der Grofe bei Hoch⸗
fir“. Nur der unpollendete ,Griebrid bei Leuthen“ Hätte fein Rival
werden können. Die Defterreicher haben das Lager der Preußen bei
Wadi überfallen. Die Preußen wehren fic an einem nod) offengeblie-
benen Weg. Licht gibt nur Häuferbrand und grell aufleudtender Kugel»
bliß. Der König reitet die Reihe der Rampfenden entlang. Gr weiß, es
ift nichts mehr zu machen, aber er Halt fid) rubig in der wilden Bers
wirrung. Gabrelang ift Menzel gu jedem naddtliden Brande in Berlin
gegangen, um die Lichtwirkung für Dies Bild gu ftudieren. Gr hatte
einen Rontraft mit den Nadtwadtern, Die ihn Herausflingeln mußten. —
Lichtwirtung anderer Art ift aud) das malerifhe Thema feines
Slötenlonzerts. Als Menzel als alter gramlider Herr einem Helfer
gegenüber jeine Griedridstppen nicht voll erfddpfend nannte, bat er
beizu gejagt: „Ueberbaupt babe id es bloß gemalt Des Rronleudters
wegen.“ Bon dem jugendlichen Griedrid) fagte er, er ftünde fo Da,
wie ein Rommis, der Sonntags Muttern etwas vorflötet. Damals fet er
Dod nod) jung und Stolz gewefen. Das zeugt nun zwar von einer immer-
wachen, aud) bom Bollflang des Rubhmes nicht eingelullten, imponies
renden Kraft der Gelbfttritif, ift aber doch ſchwer ungerecht gegen fid
felbft. Was wir heute daran beiwundern, ift ja gerade der Ginflang
zwiſchen dem Was und dem Wie. Daß das vollbefriedigte ftoffliche
Sntereffe, weldes der Borgang erwedt, auf der gleichen Höhe wie bie
rein malerifhe Darftellung ftebt, daß fie eins wird mit ihm! Ja, Die
feftlide Schönbeit dieſes Lichtes wird bas Gigentlide der Stimmung,
wird Der frdblide Verkünder einer bon ®eift und ®aben pornehm be=
lebten Königsjugend. — Wenzel hatte eine ausgefprochene Neigung zum
deutſchen Rokoko, ein inftinktives Berftandnis für feine Kraft und feine
Sierlidfeit. So blieb 3. B. die Ornamentif, die er auf Selegenbheits-
blättern und Ehrenurkunden anwandte, bis in fein hohes Alter dem
Rofofo nahe verwandt.
Menzel bat:e nidt nur ein nabes Verhältnis zur Zeit, bon der in
Der Außeren Art und Lebensform Menzels freilich nichts zu fpiiren ift.
721
Nein, fo fdeinbar verſchieden der Meine Inurrige Meifter und ber oft
geiftleuchtende König war: Menzels Berhaltnis zu GFriedrid ift unwill-
fürlih, fommt aus Wejensperwandtichhaften, ja aus Schidfalsgemein-
haften. Zunädft: fie waren Leidensgefährten, fie litten verwandten
Mangel an ausgeglidener Menfclichkeit. Das fam zum guten Zeil
wohl bei beiden aus ihrem Verhältnis zur Frau. Der 1,40 Meter große
Menzel mußte auf Frauenliebe höherer Art verzichten, weil fein
Aeuferes Frauenfehnfudt nicht erregen konnte. Gr wurde Darüber ein
berber Junggeſelle. Griedrid bat auf Grauenliebe verzidtet. Win-
Deftens feit 1732 ift irgendetwas bei ibm — nicht mehr da. Ob Die
Narbenhpypothefe Zimmermanns Recht bat oder der Widerfprud feiner
Leibärzte, jedenfalls Iebt er troß allem großen Werf und troß mander
jorgjam gepflegten Liebhaberei das Leben eines einfamen verbitterten
Gunggelellen. Die innere Ausgeglichenheit fehlt beiden. Und fo find
fie immer irgendwie in Bewegung, in Unrube. Sie können nidt ftill-
figen, fie fcehreiten, aber fie fteben nicht. Gs fehlt ber innere Frieden,
Die Lbrif, die Melodie, die Selaffenbeit aud) in der Betradtung., Sie
miiffen immer wollen, wie um fid in der Betätigung, der Sat irgendwie
por fic felbft gu rechtfertigen.
Beide waren fie madtige Willensmenfden, Preußen bon Hartefter
Sielentidloffenbeit, als Diener ihrer Gade. Hier war der Quell ihrer
©röße, Die wir aber, weil bie Rube, fogufagen das Statiſche feblte,
nidt eigentlid als monumental empfinden. Ihr Werf war monu-
mental. Slingers Radierung bat mit dem Blod, auf dem Menzel ftebt
und Den mächtige Hände auf die Schultern zum Dienft geziwungener
Naturfräfte legen, unfere Srundempfindung gegen Menzels Lebensarbeit
getroffen. Ebenſo verkündet ®illys nicht ausgeführter Griedrid)-Gedenk-
bau für den Leipziger Pla würdig die ©roßtat. Ihr menjdlides
Weſen aber war ſcharf und ihre ®üte ftedie ſcheu verborgen in rauber
Schale. Schon dies Wenige läßt verfteben, Daß der Fünftlerifch geftal-
tende Wiedererweder den politijchen Geftalter Preußens in der Tiefe
erfiiblen fonnte.
Gin Wunderlides gum Schluß. Wie Friedrid mit fünfzig Jahren
den fiebenjährigen Krieg und damit Die Zeit feiner ftiirmifden Taten
ſchloß, jo ſchloß Menzel auc, faft ein Fünfziger, genau hundert Jahre
jpäter, was er gum Sundertjabrestage des Regierungsantritts begonnen
— fein Griedridwerf! Bon da ab widmeten fic) beide — Werfen des
Sriedens. Garl Meißner.
Zriedrichs des Grofen Berhältnis zur Mufit.
ie Fürftenent[hädigungsperhandlungen ber vergangenen Woden,
deren Gorm einen an Knut Hamfuns Wort erinnern fonnte: „Nir»
gend außer in Deutichland gibt es auf der Gijenbabn eine vierte Klaffe“,
baben unter anderem Die Grage neu aufgerollt: Was haben denn Die
Deutiden Landesherren lebien Gndes für Die deutſche Kunjt getan?
Büren Die Herrichaften bon der ,,Gnteignungspartei* mufilgefchichtlich
022
etwas beffer im Bilde gewefen, fo batten fie Daran erinnern dürfen, daß
außer Dem Balladenfänger Karl Löwe faum ein deutſcher Romponift je
Die ®unft der Monarchen, am allerwenigften feines Landesherrn gee
nop. Während Spontini und Berliog, der Sialiener und der Grangofe,
in Berlin höchſte Ehren einbeimften, wurde Wagner bon Land zu Land
gebebt, Weber mit Beweifen höfiſcher Ungnade in Dresden überjchüttet.
And feinem unferer Meifter gelang es, mit einziger Ausnahme des in
Wien lebenden Beethoven, vielleiht aud nod Webers mit feinen
Lüsowliedern, feinen patriotifhen Sribut an jener Stelle gewürdigt zu
finden, wo dies bätte gefdeben müffen, während Dubendtalente Die
„Feſtmuſiken“ zu liefern befamen. Dies gilt bor allem bom fiebziger
Krieg bei Brahms, Wagner. Diefer felber fdrieb an DBismard, ber
ftörrifch jedes Sntereffe an der nationalgedadten Sriindung Babhreuths
verweigerte, Die bitteren Worte, DaB es anfdeinendb das Schidjal des
muſikaliſchen Deutidlands fein miiffe wie Des Dichterifchen auch, gerade
bon jenen Staatsmännern, welche Die Grdfe unfres Reiches begründeten,
mißachtet werden. Die zwilchen den Zeilen verftedte Anfpielung auf
den Reidsfangler traf Diefen nur zum Zeil, denn deffen ganze Liebe
gehörte Beethovens Kunft, Deren Anhören, wie er beflundete, ibn
„tapfer“ madie, und der nicht zuletzt felbft gu den beiten deutfchen Stiy
liften feiner Zeit zählte. Aber frei heraus durfte Wagner den Namen
des großen Griedrid) nennen, deſſen Auffaß über bie deutjche Literatur
in der Gpode Leffings und des jungen @oethe und deffen Liebe zur
italienifierenden Muſik jedem Schullind befannt ift.
And Dod ift es aud ba Gade ber Hiftorifchen Gerechtigkeit, fid
nidt mit Schlagworten abjpeifen zu lajjen und einen Mann, fei es aud
den größten, in engem Zufammenbang mit Der ibn bedingenden Seit
abzufhäten. Friedrich, der feinen erften RKlavierunterridt beim Berliner
Dom-Organiften Gottlieb Hayne, dem Sründer der erften dortigen, jelbft
pom funftfeindliden Solbatenfinig Friedrid) Wilhelm dem Grften aners
fannten Ginggefell{daft, erbielt, empfing den grundlegenden Gindrud
erft [pater gelegentlich Des väterlichen Befuds bei Auguft dem Bweiten
bon Gadjen, deffen Oper den ®äften Haffes ,,Gleofilde* vorſetzte und
damit Den Kronprinzen in Getafe bradte. Haffe und der Flötenpirtung
Quang wurden dem jungen Fürften damals vorgeftellt, und fein Gnt-
ſchluß, die beiden einft an feinen eignen Hof zu berufen, ftand für ihn
feft. Schon Durch dieſen erften ftarfen und bei der Sugendlidfeit des
Girften maßgebenden Ginbdrud erflärt fih Die Richtung, welche fein
Runftgefhmad in Sachen der Muſik porerft nehmen follte. Quang mußte
bon niin an des öfteren zur Stunde nad Berlin oder Ruppin und
Rheinsberg fommen, mit Wiffen und Willen der mufifbegabten Königin
mutter, aber umjomebr gegen den Willen des Monarchen, dem man
in edt jugendlicher Dreiftigfeit Jagdausflüge portäufchte, Die in Wabr-
beit Waldfongerte waren.
In Rheinsberg war es aud), wo Friedrich fid allmählid) eine Heine
SHausfapelle aus angefebenen Mufifern zufammenftellte: Franz und
Johann Benda, ber erfte durch feinen feelenbollen Violinvortrag be-
- rühmt, zählten ebenfo dazu wie Sraun, deffen „Tod Jefu* noch bis gum
723
Kriege am Karfreitag in Berlin erflang Damit war der Grundftod
für eine Neufchaffung der Hurd) den Soldatenfdnig abgefesten Hofe
fapelle Friedrichs des Erſten gewonnen. Ebenſo jedod galt Friedrids
Sntereffe dem Ziel, gleid) dem Sadfenfinig eine Oper bon Rang zu
befiken. ®raun mußte in Sialien Gefangsfrafte anwerben. Debt wurde
nidt mehr nad „langen Kerls“, fondern nad ,fingenden* gefahndet.
Sugleid) madte man fi an den Bau eines Opernbaujes, und als ber
König 1741 aus bem erften ſchleſiſchen Kriege beimfebrte, ftanden am
felben Abend aud fdon alle Italiener zum Geftfongert bereit, und
®rauns „Rodelinde“ gab im Interimsopernfaal des Sdloffes Die Zeft-
porftellung ab. 1742 weibte man bas endgültige Operngebäude mit
@rauns „Säfar und Cleopatra“ ein. Griedrid) faß nidt in der Hof»
Ioge, fondern Dicht neben dem dirigierenden Romponiften, deffen Parti-«
tur er mitgulefen wiinfdte. Berlin nahm bon nun an als Opernliß einen
Platz neben München, Dresden, Wien ein, ja: es rangierte bor ihnen,
was die @iite feines Orchefters anlangte. Während Hes folgenden
zweiten fchlefifhen Krieges wurde an Diefer neuen Oper wie im tiefften
Frieden gearbeitet, und Friedrich dirigierte ihre Leitungen, als fei es
nur eine Xnterabteilung feiner ®eneralftabsge|[dafte, bom GFeldquartier
aus weiter. Befannt ift, Daß der König nach dem Siege bon Reffels=
Dorf in dem eroberten Dresden als erfte ,Kontribution® die Aufführung
des „Arminio* bon Haffe befahl, ein Werk, in deffen Libretto er wohl
fein eignes Porträt erfannte. Dem Komponiften Haffe, den er dem
ſächſiſchen Hofe nicht hatte abipenftig machen fonnen, übergab der Mo»
nard), nachdem Diefer bor ihm glänzend fantajiert hatte, feinen Brillant»
ting mit den fönigliden Worten: „Str ift ein dreifad gefegneter Mann:
Sonmeifter, Spieler und Beſitzer einer Fauftina* (der aud als Handels
interpretin gefeierten Gangerin). Mit dem Ausbrud) Des fiebenjabrigen
Krieges Dagegen wurde bie Berliner Oper geſchloſſen: die Seiten waren
nun Dod) gu ernft geworden. ®raun, deſſen „Merope“ die Sdlupvor-
ftellung abgegeben, ftarb 1759, und Griedrid foll bei dieſer Nadridt
in Tränen und in die Worte ausgebrochen fein: „Sinen folden Mann
befomme ich nicht wieder.“ Als der fiegreihe König, der während des
Seldzugs gern am Abend fein Gemiit an Ben Klängen der fanften
Flöte berubigte, 1763 beimfehrte, ließ er durch porausgejandte Gilboten
@®rauns 1756 zur Geier der Schladt von Prag gefdriebenes Tebeum
beftellen „und follte id alle Mufici aus ihren Betten bolen miiffen.
@rauns Nachfolger, Reidardt, als Liederfomponift, aber aud) Muſik⸗
journalift nit immer ſympathiſcher Art befannt und fpäter bon Fried⸗
rid) Wilhelm dem Bweiten rebolutiondrer Umtriebe halber (Ooethe
ließ ibn wegen feiner Neigung für die franzöſiſche Rebolution fallen
und Schiller verglich ihn im Xenion mit einer giftigen Natter) entlaffen,
mußte es Dann erleben, Daß während Des bahrijchen Grbfolgefrieges der
König fein Opernhaus mied und höchſtens ein beiteres Gingfpiel gur
Serftreung aufjudte, mit weldem aud) im Sodesjabre Fritzens Die
Oper gefdloffen wurde.
®erade Reichardt, nod) weniger als der ehrlihe Quang ein böfifcher
Lobrebner, erfannte das Flötenfpiel bes Monarchen als weit über dem
724
Durchſchnitt ftehend an und Iobte befonders deffen deutſch tiefinnerlides
Adagio, alfo jenes Glement, in weldhem Der große Sohn Bachs und
einftige Hofzembalift Friedrichs, Philipp Gmanuel, por der Welt Er⸗
ftaunen erregte und das Dann Beethovens ganze Stärke wurde. Sang
und gar undilettantifch ift der königliche Ehrgeiz, die Technik einwandfrei
gu beberrf[den, und umfo amüfanter mutet jene Anekdote an, wonad)
Grif den alten Quang angefahren babe, weil einer bon Deffen Schülern
beffer als er blafen fonnte, worauf Quang verlegen meinte, er babe bei
Diefem eben mit dem — SKorporalftod nadbelfen dürfen. Biermal am
Sage blies Friedrich Die bon Quang aufgeftellte Uebungstabelle ab, oft
verfiel er dabei in eigene Gantafien, aus deren Art dann die wartenden
SHöflinge den Grad der fdnigliden Laune erfennen wollten.
Daß der große Grif durchaus nicht, im Strome der Seitmeinung
mitfhöwimmend, der Stalieneret gebuldigt babe, beweift einmal feine
Borliebe für deutſche Komponiften, welche dem fremden Stil zu feiner,
ihm eigentiimliden und gewiß Iobenswerten Leichtigleit und Gangbarfeit
Den Grnft der Sefinnung und die Sriindlidfeit ihrer Arbeit beigaben.
Bon einem Haffe vermochte aud Händel zu lernen, und Grauns Kirchen»
werle widen erft por den alles überragenden eines Bad. Friedrids in
allem ſich bewährender fritijder Oeiſt rubte auch bei feiner mufifalifchen
Tatigteit keineswegs: Quang iiberrafdte er dadurch, daß er ihm Die
Aehnlidfeit eines von Deffen Shemen mit einem, Sabre vorher ge»
börten anderen nachwies, und welde Hocdadtung der alte Bad, der
feinerzeit Haupt{adlid) als Birtuos galt, als Komponift bei ihm genoß,
erweift jene fattfam befannte Anekdote bon Bachs, durch feinen Sohn
peranlaßten Berliner Befud, wobei Frig vorwiegend polyphones Im⸗
provifieren hören wollte, und woraus fi) Bachs meifterbafte DBear-
beitung des „wahrhaft fdnigliden Themas“, das ihm der Gaftfreund
gab, Herleitete. Erfaßt uns heutige nicht ein ftilles ©efühl Des Neides,
und wer von uns wagt, jebt bon ,,befferen Zeiten“ zu reden? Griedrids,
in echter Bewunderung gefprodene Worte „Nur ein Bad!" follten
gemeffen werden an einer Seit, in melder ein Mufiffritifer bon Fad
und Anfeben wie Scheibe dem Grofmeifter „Irodenheit“ porwerfen
und ibn minderen Salenten nadftellen durftel Daß ein Opernrefor-.
mator bon der Art Sluds, aus deffen „Orpheus“ und „Alkeſte“ Frag-
mente in den fdnigliden Abendfongerten mit mäßigen Publikums⸗
erfolgen aufgeführt wurden, nicht fofort den Weg zum Obr und Herzen
feines Monarchen fand, wer will dies Dem Monarchen gum DBorwurf
anrechnen, der bedenkt, Daß außer Rouffeau faum einer der damals
führenden ®eifter Guropas der Abwendung bon der Melodie guftimmte?
Hat dod Blud felbft nicht durchweg und immer an feinen felbft-
erfannten Idealen feftgebalten, und gerade Griedrids Sewährsmänner
waren es, Die, wie etwa Quanz, fic) jedem Reformgedanfen energifd
entgegenftemmten. Daß der König fi, frei bon jeder Iaienbaften
Redthaberei, gern belehren ließ, zeigt fein Berbalten gegen die deutſche
Sängerin Schmeling, die, bon ibm belobt, fid fogar bie Borwibigfeit
leiften durfte, ihn an fein grimmiges Wort von den „wiehernden beut-
fen Sängern“ zu erinnern, ohne in fofortige Ungnabe zu fallen. Wie
725
tief in dieſem Die Liebe zur Muſik eingewurzelt war, [ehren feine
ergreifenden Worte, als ihn das zunehmende Alter und die ®icht zur
Aufgabe des Flötenfpiels zwangen: „Ich babe meinen beften Freund
verloren“.
Was Friedrid Tatfadlides für Die deutſche Muſik und ihre ſach⸗
gemäße Pflege geleiftet bat, ift manderlei: die bon ihm Berufenen bil»
deten in Berlin Die Grundpfeiler Der norddeutſchen Sheoriefchule (Quang,
Bad, Marpurg, Sulzer, Kirnberger), aus welder Die Belebung des
Deutjchen Liedes, por allem aber des voltstümlichen Liedes, hervorging.
Neben der Schaffung eines nod) bon Mozart anerfannten Ordefters
war es Diejenige des Schulgejangeg, Die er, angeregt durch feine Opern=
liebe, mächtig zu fördern wußte. Immer, wenn die Surrendefchüler bes
Köllnifhen Symnafiums auf dem Schloßplate fangen, trat der alte Fri
an fein Genfter und Iaufdte. Bon ibm und feiner Schwefter Amalia,
die Mozart nad Berlin zu ziehen fuchte, ging jene traditionelle Muſik⸗
pflege des Hofes aus, der wir Beethovens Widmung der ,,Weunten*
an Griedbrid Wilhelm den Zweiten und Ldwes, durch deffen Nachfolger
geförderte Balladenſchöpfung verdanfen! Hermann Unger.
Das Problem der politifhen Repräfentation.
1:
eit Der Annahme des Dawesplanes ift das Problem der Staats»
form, das Die ®emüter in den erften Gabren der Nachlriegszeit fo
beftig erregte, mehr und mebr in den Hintergrund getreten. ®ewiß gibt
es aud) heute noch unter den Rechts- und Linksradikalen rabiate Berfed-
ter des Diftaturgedanfens. Aber die Diktatur ift Dod) aud in den Augen
ihres begeiftertften Anhängers niemals ein Selbftzwed, fondern nur ein
Notbebelf, um „Den Karren aus dem Dred zu ziehen“. Sie bat alfo
feinen eigentlid) repräfentativen Charalter, ift nicht „Idee“ in Bem
Sinne, wie es Monardhismus und Republifanismus find.
Gelbft wenn alfo der DiftaturgedDanfe — wie es in Italien ge»
[heben ift — den putfdiftifhen Sintagscharalter verlieren und Das
Schickſal Deutidlands für eine längere Wegftrede beftimmen follte, fo
würde er die Alternative ,Wlonardie oder Republif?* durdaus nicht
grundſätzlich Löjen. Und deshalb finnen wir ibn getroft aus unjerer
Betradiung ausichalten, die in der Stille nad dem Sturm Die ge-
eignete AWtmofpbhdre für eine fahlihe Behandlung des ganzen Fragen—
komplexes fiebt.
Bet der Srörterung aftueller Brobleme muß man freilid) gunddft
einige Sagesmeinungen beifeite fchieben. Go lautet 3. DB. ein land"
läufiges Argument, Daß der Deutſche „von Natur“ Monardift fei. Und
diefe Theſe ftüßt fi auf feinen geringeren als DBismard, der Dem
Nationalgefühl des Deutichen fo fehr mißtraute, daß er glaubte, es durch
Die dynaſtiſche Anhänglichkeit ergänzen zu miiffen. Trotzdem ift Dieje
Theſe, wenigftens in dieſer Allgemeinheit, falſch. Denn fie ift aus dem
Bedürfnis des Tatmenfchen enifprungen, fich bie biftorifhen Halten fo
guredtaulegen, daß fie fein Handeln rechtfertigten.
726
Läßt man ganz einfad die Sefdidte fpreden, fo zeigt fid fofort,
daß man den Deut{[den mit Demfelben Recht einen geborenen Wonare
diften nennen darf, wie man wohl den Franzoſen als den geborenen
Republilaner bezeichnet. Das ganze erfte Jahriaufend feiner Geſchichte
bat @ranfreid) unter der monardifchen Staatsform durchlebt, und aud
bom meungebnten Jahrhundert entfällt nur etwa ein Drittel auf Die
Republik. Und ebenfo, wie gegen das vermeintliche eingeborene Repu-
blifanertum des Franzoſen, fann man gegen den ererbten Wonardismus
des Deut{[den als Beifpiel aus der Bergangenbheit die Deutſche Hanfe
und als Beifpiel aus der Gegenwart die Schweiz anführen, die beide
einmal unter Der republilanifchen Berfaffung eine Oroßmachtſtellung
innegebabt baben.
Monardhismus und Republifanismus find eben Ideen, deren Wur-
gein in eine Zeit guriidreiden, wo es einen nationalftaatliden Gedanfen
nod gar nidt gab, und bie deshalb als Ideen gemeineuropaifden Cha»
tafter tragen. Das Idealbild des römifchen Republifaners blieb Dem
Mittelalter ftändig gegenwärtig und geriet aud) zur Zeit bes fchärfften
Abfolutismus im fiebgehnien Jahrhundert Teineswegs völlig in Bers
geffenbeit. Und gang ebenfo bat die Geftalt Gafars, als bes Urbildes
der Ginberri[daft, Das politiihe Denfen aller Epochen des Mittelalters
und der Neuzeit begleitet und befruchtet, wofür man jet in Der bon
Sriedrid) Gundolf gefdriebenen Gefdidte feines Nadhruhms den Beweis
findet.
2.
Nun haben allerdings beide Ideen, die monardifde wie bie repu-
blifanifde, dur) die mittelalterlide und neugeitlide Cntwidlung eine
ziemlich tiefgreifende Umgeftaltung erfahren, um ſchließlich Durch Das
neunzehnte Jahrhundert in einen Gegenſatz bineinmandveriert zu wer⸗
den, den die Antike nicht fannte. Für den Römer waren ,imperium* und
„tes publica“ Leine antithetifchen Begriffe. Das wurden fie erft in Dem
Augenblid, als die Monarchie ihre Berechtigung aus dem Go: tesgnaden-
tum, die Republif hingegen (in Der fpezififch modernen Form der parlas
mentarifchen Demofratie) ihre redtlide Begründung aus der Volks—
fouperänität berleitete.
Diefes Redhtsargument beberrfcht heute bewußt oder unbewußt alle
Debatien über die Staatsform. Und in diefem Punkt ftimmt der Woe
nardift mit dem Demofraten überein, nur mit dem Unterfdied, Daß
der eine bejaht, was der andere berneint. Der Wlonardift argumentiert
etwa fo: die parlamentarifhe Republik beruht auf einem Alt rationaler
Willensiibertragung bom einzelnen auf einzelne; fie vermag Daher das
irrationale Glement des Volksweſens nicht adäquat auszudrüden, vermag
nicht jenes „Mehr“ wiederzugeben, das dem Monarchen gefühlsmäßia
eingeboren ift. Der Republifaner hingegen fagt: es ift ein Unfinn, Das
Schidjal eines Bolfes dem Zufall der Anlagevererbung des Monarchen
auszuliefern; beffer noch das Spiel wechlelnder parlamentarifder Mehr—
beiten, die im Wechfel und durch den Wechſel fon:rollierbar find.
Bei diefer Argumentationsart ift offenfichtlih „dem einen fin Al
dem andern fin Nadtigall.* Gs fragt fic) jedoch, ob es richtig ift, Den
727
Gegenſatz von Sottesgnadentum und DBollsjouperänität einfad) mit der
Antithefe bon Irrationalität und Rationalität zu identifizieren. Diefe
Grage muß der Hiftoriler verneinen. Ga, wer an paradozgen Tefen
Greubde bat, könnte fogar behaupten, Daß die moderne Repräfentatid-
Demofratie eine weitaus „myſtiſchere“ Angelegenheit Darftellt, alg Das
eztremfte ®ottesgnadentum. |
Ueberlegen wir uns nur einmal, welde Borftellungen dem demofra-
tifden Wahlſyſtem zugrunde liegen. Die Antwort fcheint zunädft febr
einfad) zu fein. Der Staatsbürger — fo wird man jagen — braudt
einen Ontereffendertreter an den Stellen, wo er nicht Örtlich zugegen fein
fann, und in Den Tragen, wo feine eigene Sadfenntnis nicht ausreidt,
Aber ein folder „DBertreter“ wäre alles andere als ein „Repräfentant“.
Die Verfaffungen aller parlamentarijd regierten Staaten enthalten
Daber aud) die ausbriidlide Beftimmung, Daß der Abgeordnete nicht
an Die Weifungen feiner Wahler gebunden ift. Tatſächlich fage id alfo
gu Dem Manne, dem ich meine Stimme gebe und den id zumeift gar
nicht perjönli fenne: „Wolle für mid!“ Wem die Magie einer der⸗
artigen Willensübertragung nod nicht myſtiſch genug ift, dem ift nicht
zu beifen.
3
Dies dürfte wohl genügen, um zu zeigen, Daf man der monardifden
wie der demokratiſchen Idee nidt mit dem Begriffspaar „Rationalität
und Srrationalitat* beifommen Tann. Jede der beiden Ideen bat diel-
mehr ihre eigene Rationalität, ihre eigene „DBernunft“. Und Diefe gilt
es aufguineifen, wenn man die beiden Staatsformen ideell gegeneinander
abwägen will.
DBorerft aber muß man fi bon der irrigen Antithefe awifden
©ottesgnadentum und Dollsfouperänität befreien, wie fie dag neun-
zehnte Sabrbundert ausgebildet und im Spftem der Eonftitutionellen Mo»
nardie (wo der Bollspertreter das Boll „gegenüber“ dem Giirften ders
tritt) au einer Art bon Ausgleid gebradt hat. In diefem Syſtem be-
Deutet nämlich die Formel „von Oottes ®naden“ foviel wie „nicht Don
Bolfes Gnaben.“ Eine folde Siderftellung Der Fürftenrechte gegenüber
den Bolfgredten aber liegt der abendländifhen Monardie anfänglich
ganz fern. Im Mittelalter befagten die Worte „Dei gratia* vielmehr
Das genaue Segenteil. Sie bezeichneten nicht ein Borredt, fondern ftell-
ten eine Demutsformel Dar. Denn bom chriftliden Standpunlt aus ift
®eborden feliger als Befehlen. Und um fid) gegen die ©efahren zu
fidern, mit denen die Ausübung ber Herrf[dergewalt fein Seelenbeil
bedrohte, betonte ber Fürft, Daß er fein Amt ,durd bie Gnade Sottes“*
erhalten babe. Das ſchloß die Verantwortung gegenüber den Beherrſch⸗
ten leineswegs aus. Und fo bat denn auch das mittelalterlide Natur-
redt mit aller Schärfe betont, Daß der Giirft feine Würde einbüße,
fobald er fie mißbraude.
Diefen Hhidft „vernünftigen“ Standbpunlt bat erft bas fiebgebnte
Jahrhundert preisgegeben, indem es Herrſchaft mit Ordnung gleid-
febte und ihr dadurch einen Gelbftwert beilegte. „Der König ift das
Bolt“ lehrt der deutſche Staatstheoretifer Pufendorf. Denn erft durch
728
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Jobann Adam Klein, Retour» Gelegenheit nad Wien
Aus dem Deutfihen Volfstum
die Herrſchaft wird aus der formlofen Mafje ein Boll. Der abfolute
König herrſcht mithin, um gu herrſchen; er ift weder an religiöje Ges
bote nod an Nüblichleitserwägungen gebunden, und jeder SKritif von
feiten der Untertanen entrüdt.
Eine fo barte Dofirin fonnte ſich begreifliderweife nicht lange
balten. Und fo bat denn die Aufllärung die Herrichaft, der fie die reli—
gidfe Sinngebung nicht wiedergeben fonnie, der Norm der DBernunft
unterftellt. Das Grgebnis Diefer geiftigen Gntwidlung ift Der auf
geflarte Abfoluiismus, Der gum beften Der intertanen regiert, folange
dieſe nidt fähig find, ihre Geſchicke felbft in die Hand zu nehmen.
Diefe Form der Wonardie ift aljo eine Art Diktatur mit dem Ziel, fid
felbft überflüfjig gu machen.
Man bat oftmals behauptet, daß dieſe Gntwidlung zur frangdfijden
Revolution geführt babe. Mit Unredt! Denn bier eben bricht Die
gerade Linie ab. Die Repolution bon 1789 ift nicht die Bollendung,
fondern Die Ueberwindung der Aufllärung Der Aufflärer fann, je
nach der Lage der Dinge, liberal oder abjolutiftifch denfen. Denn ihm ift
es ausfchließlih um Die Herrichaft der Bernunft zu tun, ganz gleich, mit
welden Mitteln fic) Diefes Bernunftideal verwirklichen läßt. Die demo-
fratijhe Idee hingegen ftellt Die Bernunftfrage überhaupt nicht mehr.
Sür den Demofraten handelt es fic) vielmehr um dag Problem, wie ein
Golf ohne Herrfcher möglich ift, das heißt, wie bas Bolt die Ausübung
der Souveränität felbft in Die Hand nehmen fann.
Die abfolutiftiichen Staatstheoretifer batten dieſe Möglichkeit jdlanl-
weg verneint. Sie begnügten fid mit dem SHerrfcheriwillen, um über-
haupt einen fonfreten Willen zur Hand zu haben. Der Genfer Rouffeau
wies — aus der Anjdauung des Stadtſtaats heraus — als erfter Den
Weg zum Bolfswillen. Gr fah empirifd Die Vielfältigkeit und Ge—
fpaltenbeit der Willensäußerungen beruflich gebundener und wirt|{daft-
lid intereffierter Individuen. Wie Tann — fo fragte er — aus Dem
Wirtidhaftsbiirger (bourgeois) ein Staatsbürger (citohen), wie aus dem
„Willen aller“ ein nationaler ,@®emeinwille* werden? Roufjeaus Ant»
wort lautet: Durd) den Bergzidt auf jede Gigenjudt. Der Bürger —
fo verlangt Roufjjeau — foll bei der Abftimmung nidt denken: „Ic
will Dies oder jenes“; er foll vielmehr fühlen: „dag Boll will dies
oder jenes.“ Auf diefem Wege Hoffte Rouffeau und bHofften feine
Bürger bon 1789 einen Bolfswillen berftellen gu fSnnen, der fabig
wäre, die nationalen ®efdide gu leiten.
4.
Ueber die Trage, weldes bon dieſen beiden Staatsidealen ich
leichter in Die Wirklichkeit umſetzen läßt, Tann man natürlich bis ins Un⸗
endlihe debattieren, ohne Dod über die banale Antwort Hinaus-
gufommen, daß eben eine gute Monarchie beffer ift als eine fchlechte
Demofratie und umgefehrt. Nur muß man fic dapor hüten, die welt-
anfdauliden Hintergründe der beiden Staatstheoreme miteinander zu
vermengen. Darum fei nod einmal betont: Die Monarchie ift in ihrer
zeinen ibeellen Gorm um nidts „unpernünftiger“ als die Demokratie,
47 Deutides Dolistum 729
fofern man nur ihre ſpezifiſch religidfen DBorausfesungen gelten läßt.
Ebenfo töricht, wie bom „dunklen“ Mittelalter zu fpreden, ift es jebocdh,
pon ber ,Gladbett* der Aufflärung zu reden. Beide Epochen find Ent-
tidlungsftufen der modernen Zipilifation, bie völlig gleichberechtigt und
eigengefeblid) nebeneinander fteben, und die man Deshalb nicht gegen-
einander ausfpielen Tann.
Stoß aller inbaltliden Oegenſätzlichkeit aber haben beide politifchen
Sdeen, die monardifde und die Demofratifde, ein Merkmal gemeinfam;
fie feßen beim Menſchen die Fähigkeit poraus, fid) über fein empirifhes
Dafein auf eine Idee Hin gu überfteigern. Der mittelalterlide Monarch
fühlte ſich na:iirlid) nicht in jedem empirifhen Augenblid als Wertzeug
der gdttliden Allmadt. (Die Rolle einer Vertreterin Gottes auf Erden
fiel im mittelalterliden Weltbild vielmehr der Kirche zu.) Und ganz
ebenfo fann man natürlich rein empirifh die Möglichkeit bezweifeln, ob
der ,bourgeois* imftande tft, feine twirtidaftliden Intereſſen jemals
foweit zu bergeffen, daß in ibm ber „citonen“ rein zum Ausdrud kommt.
Ideen an empirifchen Maßftäben meffen gu wollen, ift ein müßiger
Zeitvertreib. Wichtig ift für uns Hier nur das Eine, Daß beiden Staats⸗
formen Diefelbe Sendenz, nämlich die Sendeng zur Leberfteige-
rung des Empiriſch-Menſchlichen zugrunde liegt. Ob
Herrfcher bon Sottes Gnaden oder gewählter Repräfentant eines Volks⸗
teilé — immer foll der fo Beauftragte einen Willen gum Ausdrud brin-
gen, der empirifd gar nicht eziftiert, fondern Der gewilfermaßen „in der
Luft Liegt.“
Die Unmöglichkeit und Srengenlofigfeit Diefer Aufgabe hängt mit
dem Wejen des Menfchen als foldhem auf dag engite gufammen und
ftellt {id Daber taglid und ftündlih bon neuem. Im ganzen "Bereich
der außermenfhlichen Lebewefen gibt es feine Reprajentation. Wud) Die
DBienenlönigin „repräfentiert* nit etwa den DBienenftod, fondern
bat in ibm eine ganz beftimmte Zmwedfunltion inne, namlid bie Gort-
pflanzung. Denn Bier und Pflanze find, was fie find. Gin Drei-
beiniges Nilpferd wideripriht zwar der Norm, wonad Wilpferde An»
ſpruch auf vier Beine haben; es miderjpridt aber nicht Der dee
„Nilpferd“. An diefen bollfommenen, weil nur-natiirliden Seinsformen
gemejfen, ift Der Menſch — wenigftens wenn man ibn nidt rein
zooplogifh auffaßt — wefenbaft unbollfommen. Als pbhbdfifd-geiftiges
Zwitterwefen gehört er einer anderen Wirklichleitsfphäre an wie Pflanze
und Bier. Gr wird in vollem Maße eziftent nur dort, wo er fic) über
ſich felbft erhebt.
And ebenfo wie der Begriff des Menfchen ift aud) bie Idee des
Bolles in jener Zwifchenzone heimiſch, die jenfeits der Grenzen des
ſinnlich ®egebenen liegt, und die wir überhaupt nur in Ihren Auswir—
tungen erfaffen können. Was ein Bolf eigentlich ift, vermag niemand
erfhöpfend zu fagen. Wir wiffen nur, daß es mehr ift als die Summe
der Individuen, können aber diefes „Mehr“ begrifflid nicht genau be-
ftimmen. Gs ift bier nidt der Ort, eine RKritif der organifhen Staats»
theorie gu geben, Die fid) Die fozialen und politifhen Einrichtungen
unter dem Bilde organifd gewadfener Wefenbeiten vorſtellt. Bur
730
fopiel mag in diefem Sufammenbang gefagt fein: Wäre diefe Sheorie
richtig, d. b. wäre das Doll nicht eine Ginneinbeit, fondern eine orga-
nifde Einheit wie Pflanze und Tier, fo würde jedes Bedürfnis nach
Repräfentation automatifh in Gortfall fommen.
5.
Das Bedürfnis nad) Repräfentation ift jedoch feineswegs auf das
politifhe ®ebiet befchräntt, fondern macht fid aud in allen geiftigen
Betätigungsformen, vor allem in Religion und Runft fühlbar. Dede
@ottesidee unterfteht dem Geſetz Der reprafentatiben Ueberfteigerung,
Das jugleid) ein Geſetz des Gegenfagkes ift. Ueberall ift Die Gottheit
Der Repräfentant deſſen, was der Menſch fein möchte, aber nicht fein
fann. Die beiden thpifden Attribute Gottes — Allwiffenheit und All»
madt — find einfache Antithefen zur menfdliden Ohnmacht und zur
Begrenagtheit Des menfdliden Willens.
Demfelben Geſetz wie die religiöfe Welt unterfteht die Dichtung, bee
fonders in ihrer repräfentatipften Gorm: dem Drama. Was der Dichter
geftaltet, ift ein finneinbeitlides, alfo bon empirifhhen Regellojigfeiten
gereinigtes Schidjal, Das unjer Auge bis in die feinften Berdftelungen
Des ſeeliſchen Ablaufs durhdringt. Die fogenannte ,dramatifdhe Illu⸗
fion* entftebt einfad dadurch, daß die Zufälligleit Des Alltagslebens
Durd eine (empirifd fo niemals eziftierende) ®efetlichleit verdrängt
wird. |
Mun bat jedoch dieſer Ueberfteigerungsprogeß aud eine Kebrfeite,
Die, {deint mir, bei Debatten über die Staatsform gumeift überſehen
wird. Gegenüber fünftlerifhen und religiöfen Phänomenen ift fid der
moderne Menſch faft immer der Tatfadhe bewußt, daß er es mit Pro»
buften einer ſchöpferiſchen Phantafie zu tun Hat. Die Ginneinbeit eines
Kunftwerles nennen wir feinen „Stil“, und drüden damit aus, daß die
fünftlerifhe Darftellung mehr ift als ein bloßer Abklatſch der Wirklich⸗
feit. Hier wiffen wir alfo genau, daß es eine Fünftlerifhe Wirklichkeit
außerhalb der Kunft nicht gibt, und daß fid bie Realität Hamlet erft
burd den Dichter und durch den Schaufpieler vollendet.
Aeberträgt man jeboch diefe einfache und einleuchtende Erfahrung
auf das Gebiet der politifden NRepräfentation, fo erbebt fic) zumeift
ergrimmter Widerfprud. Einer der Hauptporwürfe, den man einer mif-
liebigen Berfaffung gu machen pflegt, ift der, daß fie dem wirklichen
Sachverhalt nicht entſpreche. Dabei fpielt die naibe Borftellung mit,
Daß eine juriftiihe Fizierung beftebender Kräftenerhältniffe (denn Das
ift Dod) fchlieglih eine Berfaffung) dieſe RKraftederbaltniffe photo⸗
grapbifch getreu wiedergeben fdnne, oder daß fic die Berfaffung wie ein
feiner Geidentrifot um den Körper bes Volkes fchmiegen und jede
feiner Bewegungen in jedem Augenblid genau mitmachen müſſe.
Wie unerfüllbar eine folde Forderung ift, zeigt uns mit prag-
nanter Kürze die Klage Faufts: „Bom Redte, das mit uns geboren
ift, bon dem ift leider nie die Rede.“ Und es fann aud von ihm feine
Rede fein, eben weil es mit uns geboren ift. Denn man überlege fid
Dod) nur einmal, was für ein entfeßlicher Zuftand der Unfiderbeit fich
—W 731
ergeben würde, wenn das Staatsrecht jeden fleinften Wandel der nativ»
nalen Mentalität mitmaden wollte. Diefer labile Zuftand wäre derart
unertraglid, Daß ihm gegenüber eine Redisordnung, die feit hundert
Sabren feine Beränderung erfahren bat, als ein Paradies der Redts-
fiderbeit und Rechtspernunft erfdeinen müßte. Der Laie ift immer
allzu febr geneigt, an einen allgemeinen „gejunden Menichenperftand“ zu
glauben, der dem Leben jede Sragif und jede Härte nimmt. Aber Die
Grfabrung zeigt uns fofort, daß Die Redtsficerbeit fdon Hurd) fo-
genannte ,@ummiparagrapben* aufs unangenebmite beeintradtigt wird.
®ang abgejeben bon Diefen praktiſchen Erwägungen aber birgt bie
Sorderung einer Identität gwifchen Berfaffung und Nationaldharalter
aud) einen logiſchen Gebler in fih. Denn fie überjiebt, daß zwiſchen
Berfafjung und Nation zwar urfadlide Beziehungen befteben, daß aber
Die eine ohne die andere nicht boll eziftent ift. Mit dieſer Feſtſtellung
foll feineswegs der traditionaliftifhen Shefe bon der Unwandelbarfeit
der Gerfajjung das Wort geredet werden. Im Gegenteil, es ift durch»
aus wünſchenswert, Daß fic Die Verfajjung in der Anwendung einen
gewiſſen Spielraum läßt. Diefer Spielraum fann aber der ganzen Sadı=-
lage nad niemals fo groß fein, Daß er den inneren Widerfprud zwiſchen
ber notwendigen Feftigkeit einer Inftitution und dem ewigen Wandel
ber geiftigen Vorausſetzungen völlig aufbebt.
Nennen bir Hiefe geiftigen Momente, auf Denen jede Verfaſſung
berubt, ihre ſachliche ©rundftruftur und die ihr inneobnende Tendenz
zur Ueberfteigerung ihr reprajentaiibes Glement, fo ergibt fic) Durch Die
ganze Geſchichte der Neuzeit bindurd ein eigentümlihes Wechlelfpiel
zwiichen Diefen beiden Momenten. Feder Staatstheoretifer tritt zunächſt
mit dem Anſpruch auf, das eigentlich ſachliche Clement des politijchen
Lebens entdedt zu haben. Indem er aber Diefes Clement als Das
„eigentlihe* aus der Fülle der politifhen Phänomene berporbebt, gibt
er ibm zumeift einen reprajentatiben Sharalter. Go bat fic 3. DB. Der
moderne Staat fein politiihes Gemeinfdaftsmonopol im Rampfe mit
Der Rirdhe und den Geudalberren errungen. Demgemäß erklärte Der
Staatstheoretifer Des fiebzehnten Jahrhunderts, daß nicht die Kirche oder
die Seudalität, fondern der Herricher die Staatseinheit verbürge. Gegen
Diefe rein perfonale Auffaffung, die in dem Ausſpruch Ludwigs des
Biergehnten: „Der Staat bin ich“ gipfelte, wandte fid Die Aufklärung
mit der @egentbefe, daß der Wille des Herrfdhers nicht mit Dem
‘Willen des Bolles identifd fet. Und da fic die abjolutiftifchen Infti-
tutionen Diefem Wandel der geijtigen Mentalität nicht angubequemen
touften, wurde die Spannung zwijchen Idee und Snftitution fo ftarf,
daß fie gu einer fozialen Kataftrophe führte. Dem Berfuc Der fran-
zöſiſchen Revolution, den „Bollswillen“ ohne Herrfcherperfönlichteit gum
Ausdrud zu bringen, trat die Romantif mit der Theſe bom „Volksgeiſt“
entgegen. Im ®egenfab gu der für das achtzehnte Jahrhundert charalte-
riftifchen Ueberfhäßung des Inftitutionellen verfocht fie Die Behauptung
pon der Grifteng eines Bollsgeiftes, der als Kollektivindividualität bor
jeder Einrichtung eziftiere und dieſe Ginridtungen gewiſſermaßen orga-
nifh ausihwite, wie Der Baum das Harz. Mit diefer Thefe bat die
732
Romantif — ohne es freilich zu wiffen und gu wollen — dem Sogialis-
mus den Weg bereitet, der nun feinerfeits als eigentlide Grundlage der
politifden und redtliden Inftitutionen die wirtfchaftliden Verhältniſſe
bezeichnet.
6.
Wir haben diefe Entwidlung bier deshalb furg ffiggiert, weil fie
uns für das Wedfelfpiel gwifden der Tendenz zur Sadlidfeit einer-
fetts und zur Reprafentation andererjeits bezeichnend erfcheint. Jede der
bier genannten Gntwidlungsftufen wird Dadurch daralterifiert, daß fie
ber vorhergehenden ihre Repräfentatipidee aus den Händen zu winden
und fie durch eine andere zu erſetzen fudt. Im Mittelalter teilten fid
Kirhe und Ritiertum in Die Aufgaben der Reprajentation. Vollmenſch
war alfo damals nur, wer Chrift und Ritter war. Aud die Anfänge
Des Abfolutismus bat Die katholiſche Kirche noch gebilligt, indem fie dem
weltlichen Herricher eine unabhängige Stellung neben fid einräumte. So
perdanfen wir dem Katholizismus die Schaffung dreier Idealiypen: des
Heiligen, des Ritiers und des Königs. Als aber das achtzehnte FJahr-
bundert allmählich eine laiziftiide Weltanfdauung ausbildete, Die den
firdhliden Werten wo nicht feindlid, fo bod) gum mindeften fremd gegen-
überftand, da verfagte die thpenbilbende Kraft der Kirche, und fo ift fie
uns den „idealen Ganfier* fchuldig geblieben.
Seitdem find Katholizismus und Kapitalismus getrennte Wege ge»
gangen. (Die modernen bochlapitaliftifchen Länder find ethijd Die Erben
Calvins.) Der Trieb zur Reprajentation aber erloſch durchaus nicht mit
dem allmdbliden Berblaffen der firdliden Borftellungswelt, fondern
ſuchte fid) andere Wege, indem er im demokratiſchen Staatswejen Die
bereits bon uns befdriebene Ueberfteigerung des „bourgeois“ zum „ci—
tohen“ anftrebte. Obne repräfentative Folgen find hingegen (wenigftens
bisher) die Romantif und der Sozialismus geblieben. Die Gründe für
biefes Verſagen innerhalb des germanifd-romanifden Kulturfreifes
leuchten unmittelbar ein. Bei den Romantifern hat das religiüfe Mo»
ment feine Ueberfteigerungstraft Dadurch eingebüßt, Daß es äfthetijiert
wurde. Was übrig blieb, war eine organifhe Staaisauffajfung, Die das
politiide Geſchehen unter dem Bilde eines felig-vegetativen Dahin«
dammerns fab.
Der Sozialismus andererfeits ift gerade in der marziftiihen Gorm
bisher irrepräfentativ geblieben, weil er zu fachlich ift und Dadurch jede
Sdealifierungsmiglidfeit a limine abweift. Diefes Berbalten fperrt ibm
Den Zugang zur Welt der Shmbole, die immer auf etwas Ueberfads-
lidem, ja, auf etwas „Zweideutigem“ beruhen. Um es ganz kraß aus»
gubriiden: eine Glagge fann das Bild einer Slamme tragen, weil die
Slamme erwärmt und leuchtet. Wer hingegen auf den abfurden Ses
danken fame, den Heigkdrper einer Zentralheizung als Wappeniymbol
gu benugen, würde fid dem allgemeinen Gefpdtt ausfehen. Selbſt Die
Sowjetunion führt heute Hammer und Sichel, nicht aber Schwungrad
und Sreibriemen im Banner. Wo der fozialiftifhe Idealftaat aljo ſym⸗
bolifd werden will, muß er die Werkzeuge der porlapitaliftifchen Wirt.
Ihaftsform zum Symbol wählen.
733
Der praktiſche Sndeffelt dieſes Berfagens der fogialiftifden Ge⸗
danfenwelt infolge ihrer übertriebenen Gadlidfeit ift die Datfade,
daß die Böller des germanifd-romanifden Kulturkreifes vorläufig (und
wahrſcheinlich aud) noch für abfebbare Zeit) bei der Demofratifden Idee
Halt gemadht haben. Daß diefe Idee viel von ihrer ideellen Kraft ein«-
gebüßt bat, muß ohne weiteres zugegeben werden. Und Daraus erflärt
fic) auch die geiftige Unrube, die fi in PDiltaturezperimenten und Dif-
taturgelüften Außert. Nun ift jebod die Diktatur — wie wir bereits
eingangs andeuteten — lediglich ein „Hilfsmittel auf Zeit“ ohne eigene
Idee und obne repräfentativen Sharalter. Sie hebt Daber die demokra⸗
tiſche Staatsform wohl zeitweilig auf, ohne fie jedoch bon innen heraus
zu überwinden. Um an deren Gtelle etwas grundfägli Neues zu
feten, würde es einer völligen Umwandlung unferes Staatsethos bes
Dürfen. Und ſolche Wandlungen find dem Auge des Hiftorifers vers
Ihloffen, da fie in Bas DBlidfelb der begriffliden Analyfe erft ein
Menfdenalter nad ihrem Auftauden eintreten.
Peter Ridard RoHden.
Stellvertretung.
1
ag rationaliftifhe Denfen war (und ift) nicht urfprünglich (original),
fondern refleftierend und räfonnierend. (Ein deutſches Wort gibt
es für dieſen ®egenfab gum ſchöpferiſchen Denken nicht.) Die Dent«-
leiftung des Rationalismus beftebt Darin, Daß er Die alten Anfchauungen
„reinigt“ und „auf geläuterte Begriffe bringt“. Wie er aus dem Chaos
Der Natur Die abftraften ,@®efebe* als „Wahrheiten“ berausziebt, fo
ſucht er aud) das menfdlide Beben auf abftrafte, allgemeine „®efete“
gu bringen. Die ihres Ranges bewußte „Ratio“ fieht auf bie dumpfe
und verworrene „Natura“ binab; der ,,@eift* ift Das „Höhere“, Die
„Natur“ Das „Niedere*; der ®eift bat Die Aufgabe, die Natur gu fid
emporgugieben. Eben darum muß er fie bon dem „Ungeiftigen“ faubern,
bis fie ,bergeiftigt* ift. Dabei denkt man in unbeftimmter Weife an ein
Heller», Ordentliders, Sanfter-, Dünner- und Sarter-werden Hes Lebens.
(Man will Licht, Ordnung, Siderbeit, Frieden, Ganftmut uf.) ,, Bers
geiftigung“ tft ungefähr fo etwas wie Berfliidtigung des dumpfen, gaben
Vebensfaftes in zartbeweglihe Himmelsgeifterwdlfden, fo etwas wie
Austreibung der Dämonen, die mit ihren unberechenbaren Launen
Malrofosmos und Mifrofosmos verwirren, fo etwas wie eine Berwand-
lung Des ſchwarzroten, zauberfchweren Blutes in reinliches, wohlduf-
tendes Rofenwaljer. Dergleidhen mochte wohl jenem Philofophie-Pro-
feffor vorſchweben, den ich in den Tagen der Repolution mit der dünn»
zarten, fongilianten Stimme, bie ben epigonifchen liberalen Dentern eigen-
tiimlid) gu jein pflegt, vortragen börte: es gelte nunmehr, den ®eift gu
politifieren, um bie Politif zu vergeiftigen. Da Inallten die Schüffe bom
®emwerlichaftshbaus beritber, und Der „geiftige Arbeiter“ gudte nerdds.
Die Vorausſetzung der rationaliftiihen Denkhaltung ift, Daß Seift
und Natur ®egenfäbe feien und daß das eine Dem andern übergeordnet
734
fel. Aud diefer Gegenſatz ift nicht etwa neu und urfpriinglid erfchaut,
fondern aus dem alten religidfen Denfen übernommen. Man bat nur
das Segenfaspaar ,getftlid“ und „weltlih“ ausgelaugt, entgiftet, fil-
triert, big nichts mehr davon übrig war als der bon allen ®ärungs-
bagillen freie, nüchterne ®egenfak von „natürlih“ und „geiftig“, mit
dem fid dann vielerlei machen ließ.
Wir perfennen nicht die charalterpolle Sröße und Die verftändige
Attivität, Die aus dem Rationalismus bervorgehen Fann; aber mir
Iehnen es ab, bie rationaliftifhen Irrtümer als ewig giltige Wahr-
beiten anguerfennen. Denn unbaltbare „Wahrheiten“ werden zu Bhrafen,
Die den Lebensprozeß vergiften.
Die rationaliftifchen Dentirrtiimer haben alle eine gemeinfame Ur⸗
face: Man will das alte religiös-mythifhe Denken abtun, aber ftatt
nun mit frifden, unbeſcholtenen Augen (alfo original) Die entgdtterte
Wirklidfeit angufdauen und fie als Wirklichkeit zu verftehn, kommt
man bon den Pragungen bes alten Denkens nidt Ios. Was Dort Bild und
Symbol war, madt man nun zu einem „gereinigten“ „Begriff“, und
biefer „Begriff“ hängt dann zwifhen Märchenwelt und Wirklichkeit
mitten inne in Dem wefensbünnen Schattenreihh Des fogenannten „Oei⸗
ftes“. DBeifpiele: Der Iebendige @ott, der in der mythiſchen Welt ein
übergewaltiges Wefen ift, wird zu einem allgemeinen abftraften
„Öottesbegriff“, gu einer „Bolllommenbeit“, einer ,erften Urfache* uſw.
Gin dergeftalt gereinigtes „höchſtes Wefen“ bat es Dann freilich leidt,
moralifd zu fein, es fann der Wirklichkeit nicht mehr „furchtbar“ werben.
Ebenfo: aus der ®leichheit bor Gott madt man eine Sleidbeit bor dem
DBerftande, aus der Semeinfdaft der Heiligen und dem Reid Gottes
den vollfommenften Staat und die „reine“ Demofratie. Den König denkt
man in einen „Repräfentanten“ feines Bolfes um. Die alten Sdidfals-
gemeinfdaften erfdeinen nur gerechtfertigt, foweit fie fid als vers
nünftige Stedordnungen benten laffen. Ueberall nur ein Um denfen,
nicht ein Neu denfen.
Zufammenfaffend läßt fi fagen: ftatt auf Die Realitäten der
Märchen und Mythenwelt zu verzichten (Gott, König, Reid, Wunder
uf.) und die Wirklidfeitsmelt bon der Wirklidfeit ber zu erfaffen, be⸗
gniigt man fi damit, die mbtbifden und märchenhaften Wejen in
logifd-rationale Begriffe umgufesen. So fommt man zu einem Sdattens
reid) der Begriffe, bas weder das volle Blut der Wärchenwelt nod
das volle Blut der Wirklichleitswelt hat. Ss ift bas Seitalter der Alles
gorien und Gmbleme. |
Diefe allgemeine Borbemerfung war nötig, weil wir zeigen wollen,
Daf der Begriff der „Repräfentation“, mit dem man die eigentümliche
Ginridtung des „Abgeordneten“ und des „Abgeordnetenhaufes“ bes
gründet, in das unmdglide Swifdenreid zwifhen Märchen und Wirk-
Iichleit gehört, daß er weber in der Realität des Märchens und bes
Mythos nod in ber Realität der Natur daheim ift, fondern als bloße
Fiktion ein ebenfo anfprudspolles wie bHilflofes Dafein awifden
wahrer Monardie und wahrer Demokratie führt. Der König wurde ent-
göttlicht: aus Dem Repradfentanten ®ottes wurde der Repräfentant einer
735
Menfchengruppe. Gin bdergeftalt verbürgerlihter Repräfentant Tann
eigentlid nicht „geboren“, fondern nur gewählt werden. Aber fobald
man einen Repräfentanten „wählt“, ift man taufendfältigen Irrtümern
und inneren Unmdglidfeiten ausgefebt. Man kann alfo einen Reprafens
tanten eigentlid) aud nicht „wählen“. Iſt darum nun nit nur das
Prinzip der ®eburt, fondern aud das Prinzip der Wahl ein Irrtum?
Oder liegt der Febler nit vielmehr in dem filtivden
Begriff Der Repräfentation?
2.
Alle religiöfe Gemeinfdaft ift in ihrem Wefen „Stellvertretung“.
Semeinfdaft und Opfer in religiöfem Sinne find nur durch ftellbertres
tendes Tun und Leiden möglich: was ein einzelner tut und leidet, bat
©eltung für Die ganze ®emeinjdaft. Die driftlide Gemeinſchaft als
folhe wird Dur das ,ftellvertretende Leiden Cbrifti* gufammenge-
bunden. Das logiſche Denfen weiß mit Diejer Borftellung nidts an»
gufangen, für Die Ratio ift das ,ftellbertretende Leiden“ ein barbarifdes
„Dogma*, aus dem man vielleicht einen „vernünftigen Kern“ heraus»
bolen, oder dag man mit theologijhem Scharflinn um- und ausdeuten
oder das man „nur“ ,gejdidtlid verftehen“ fann. Die Vorſtellung bom
„ftelldertretenden Leiden“ ift eben nicht aus Dem logiſchen, fondern aus
einem ganz andern Denken entftanden. Man bezeichnet es als „mar
giihes“ Denfen; wir nannten es, weil es „Symbole“ und „Mythen“ ftatt
„Begriffe“ bildet, ſymboliſches oder mythiſches Denken. Ich möchte por-
{dlagen, es zum Unterſchied bom Iogijchen und analogifden Denken das
paralogifme Denfen zu nennen. Während der Denfaft des Io»
gifhen Denfens immer ein „folglich“, der des analogijchen Denkens ein
„gleichwie* ift, ift Der Bes paralogijden Denkens ein „für“. Diefes
paralogiſche „für“ ift der Entftebungsfern für alles Mythiſche, Magijche,
Symboliſche. Es ift pſychologiſch und Hiftorifd die frühere Art bes
Denfens. Aber es ift auch bas ſpezifiſch „Ichöpferifche* Denken. Das
paralogifche „für“ ftedt aud) im Kern der „Stellvertretung“. Diefe Bor-
ftellung ift für das mbtbijd-paralogifhe Denken fein ,twiderderniinf-
tiges Dogma“, fondern Die Formulierung eines tatjadliden Zuftandeg,
einer ſchlichten Lebenserfabung, nur eben in Der eigentümlichen para»
logifhen Bild- und Ausdrudsform. Bergegenwartigen wir ung, welde
Lebenserfahrung mit der „Stellvertretung“ gemeint ift.
Die Hriftlide „Heilsgefhichte* hat ihren fühnften Ausdrud gefunden
in den berühmten elf Kapiteln des Römerbriefes: Weil Adam fündigte,
find alle Menjden fündig. Weil Chriftus Adams Schuld fühnte, find
alle entfühnt. Zufammengefaßt ift Die Anſchauung in Dem merkwürdigen
Wort: „Wie nun Dur Eines Sünde (para-ptoma, wörtlih: Vorbei⸗
fallen) Die Berdammnis über alle Menſchen gefommen ift, alfo ift aud
Dur) Eines Geredtigfeit die Redtfertigung des Lebens (dilaiofis 3688)
über alle Menſchen (wörtlich: eis pantas anthropous, in alle Menjchen)
gefommen; denn gleihwie durh eines Menfden Ungeborfam viele
Sünder geworden find, alfo aud) dur Eines Oehorſam werden viele
®eredte.“ (Römer 5, 18, 19.) — Wer fic den Sinn diefes Gages Har
736
madt, wird ihn Iogifch nit begreifen finnen. Was finnen bie
Spätergeborenen für den Ungeborfam Adams? Wie fommen die un«
Ihuldigen „Kinder und Entel“ (Ipbigenie, am Schluß des vierten Auf⸗
gugs) Dazu, insgefamt die Berfeblung eines einzelnen DBorfahren zu
büßen? Weld bimmelfchreiendes „Unrecht“! Das „©erechtigfeits"«
gefühl des Rationaliften lehnt fi gegen eine folde, durchaus nicht
„Ihlüjfige* Ronjequeng auf. Aber was bier in dem Mythos bom
Sündenfall paralogiih gedacht und gefagt wird, ift nichts andres als
bas biologifhe Sefeh der Blutsgemeinfhaft, bas aller Ratio»
nalität {pottet. — Und ebenfo: „weil“ Ehriftus durch fein ftellvertre-
tendes Leiden den Febltritt Adams gefühnt bat, „Darum“ find Die
Menfden feiner Semeinfdhaft enifühnt. Wiederum ift es logiſch
unverftändlih, warum Einer foll für alle büßen können. Wie fann id,
wenn id) ſchuldig bin, dadurch unfchuldig werden, daß ein anderer für
mid) leidet? Aber was bier in dem Mythos bon Solgatbha paralogiich
ausgedrüdt wird, ift nichisr andres als das pſychologiſche Sefeh der
Heilsgemeinfhaft, bas aller Rationalität fpottel. — Deide
„Mythen“ dDrüden Wahrbeiien aus, aber Wabhrbeiten, Die Bem rein
logiſchen Denfen unerfaßbar und unbegreiflid find — paralogijde
Wahrbeiten. (Wie denn überhaupt das logiſche Denken feine Wahr-
beiten gwar beftimmter und fongifer faßt, aber dieſe Klarheit durch eine
eigentiimlide Enge erfauft. Das paralogiihe Denken bat nicht die Hare
Beftimmtheit und Präziſion des Iogiichen, aber es erfaßt dafür in feinen
jombolijden Bildern tiefere und weitere Lebenszufammenhänge Das
paralogiihe Denken ijt wie Morgengrauen, das logiſche Denten ift wie
ſcharfer Lichtftrahl.)
Gir das rationale Denfen ift die Stellbertretung nichts als ein
„gauber“. G8 ift „Zauberei“, wenn einer fid ans Kreuz fchlagen läßt
und Dadurch die andern bon ewiger Pein und Qual befreit. Aber
eben Diefer Zauber ift troß feiner Irrationalität eine Lebenstatjacdhe:
der „Stellvertreter“ ift nichts andres als der religidje Führer. Stell-
pertretungift Gibrertumimreligidfen Sinne. Nicht das
madt Den religidjen Gibrer, daß er religiöfe Gedanfen bordenft und
verfündet, fondern daß er „Itellvertretend“ fiir Die ®emeinde Handelt
und leidet.
Gbenfo wie das Stellvertretertum ift die „Offenbarung“ für bas
rein rationale Denfen eine logiſche Ungereimtbeit. „Offenbarung“ ift
bas jähe Sinbrechen oder ftille Einfließen des Godttliden in bie irdifche
Geſchichte. Aber warum foll eine „Offenbarung“ etwas andres fein als
irgendein pſychiſches Crlebnis, als irgendeine gejdidtlide Handlung
fonft? Logiſch betradhiet ift es wohl die ungebeuerlidfte aller Zus
mutungen Der Religion an uns, daß wir beftimm.e men{dlid-fdrperlide
und menfdlid-feelifhe Alte für göttlihe Offenbarung balten follen.
(Man denke an die „Zungfrau bon Orleans* Griedrid) Schillers, der die
Paralogie bejaht, und an Die „Heilige Gobanna* Bernard Shaws,
der ſich mit dem fragenden Adfelguden des Liberalen Menſchen bon
Diefer Paralogie abwendet.) Die SGleidfegung eines gef[didiliden Gr⸗
eigniffes mit einer Offenbarung Gottes ift für das logiſche Denten
737
ein fdledthin unldsbares Problem, nad logiſchen Kategorien liegt
bier eine völlig willfirlime Wertung der gefdidtliden Dinge
por, der gar fein Iogifcher Stang und alfo feine rationale Xeber-
geugungstraft innewohnt. Der ,Offenbarungsdaratter* eines gejchicht-
licen Vorgangs ift allein durch den Stellbertretungsgedanfen bes paras
Iogifchen religiöfen Denfens, bas fid im Mythos ausdriidt und ties
feren als nur logiſchen Zwängen unterftebt —, id will nidt fagen:
faßbar und begreiflid, aber: formulierbar und darftellbar. (Das Iogifche
Denfen begreift im „Begriff“, das paralogifhe Denfen „formt“ im
„Symbol“ und „geftaltet* im „Mythos“.)
And nun geben wir einen Schritt weiter: Aud der König (Kuning,
d. i. Geſchlechtsgenoſſe, Vertreter der Runni) ift urfpriinglid) ein ,,Stell-
pertreter* in mythiſchem Sinn. Gr handelt und leidet ftellpertre-
tend für fein „Boll“ (d. i. Gefolge). Darum fdien in jenen Seiten,
ba das religiöfe, paralogifhe Denfen noch völlig herrſchte, Olid und
Anglüd des Bolfes an die Perfon des Hetrfders gebunden. Nur aus
Diefem Denfen wird der „Opfertod“ der Könige verftändlid. Tritt etwa
eine Mißernte ein, fo ift — der König als Stellvertreter des Bolles
n{uld* daran, er wird „ftellpertretend* zur Sühne bon feinem Volke
geſchlachtete.
Wir faſſen zuſammen: Stellvertretung, alſo bie Tatſache, Daß der
eine „für“ den andern handelt und leidet, fo daß, was er tut, alle
andern betrifft, ift Der religiöfe Ausdrud des Gemeinfdaftspringips.
3.
Aber man fann die Gemeinfdaft aud lediglid als ein Stüd Wirk⸗
licfeit nehmen und logifd begreifen. Analyfiert man verftandesmäßig
eine natiirlide Gemeinfdaft, fo fommt man nidt auf ben Mythos der
Stellbertretung, fondern man fommt, wenn man medaniftifd denkt
(und alfo die Gemeinfdaft nur als eine Mechane begreift) auf Den
medanifden Begriff der tednifden Zweckmäßigkeit, oder wenn man
organifd denkt (und alfo die Semeinfdaft als einen Bios nimmt) auf
ben biologifchen Begriff der organiihen Funktion. Alsdann bat jedes
@liedD Der Gemeinfdaft feine „Sunltion“; es gibt individuelle Yunt-
tionen und @ruppenfunftionen. Sie alle gufammen bewältigen Die Gee
famt,aufgabe* der ®emeinfdaft, indem jeder das Seine für alle tut.
Die Bienenfdnigin, die Drohnen, die Arbeiterinnen haben ihre „Funk⸗
* Gine folde Sefdhidte finden wir in dem an pon den Bnglingen
in Sonorri Sturlasfohns , Heimstringla* (Thule. 14. Bd. ©. 41): „Domaldt
übernahm die Erbichaft feines Baters Bisbur — herrſchte über das Reich.
Zu ſeiner Zeit war in Schweden eine große on Da bradten die
Schweden ein reihes Blutopfer in Upfala. Im erften Herbft opferten fie Odfen,
aber der Grtrag des Jahres befferte fih nidt. Im zweiten Herbft bradten fie
Menfdhenopfer, dod) der Ertrag des Jahres war wieder der gleihe oder nod
{Hledter. Aber im dritten Herbft famen die Schweden in großer Menge nad
Upfala, wo die Blutopfer ftattfinden follten. Da Hatten die Hauptlinge eine Bee
ratung untereinander, und fie waren darin einig, daß an diefem bdfen Bahr ihr
König Domaldt die Schuld trüge. Sie meinten alle, man miffe ibn opfern, um
ein gutes Jahr zu erlangen, man folle ihn ergreifen und töten und den Opfere
altar mit feinem Dlute befprengen. ind dies taten fie aud.“
738
tionen“ „im Dienfte“ des Bienenftodes. Ebenſo haben die Elephanten
einer Slepbantenberde ihre verichtedenen „Funktionen“ „im Dienfte* der
Herde. Aud die menfdliden Semeinfdaften Iaffen fid nad ihren
Gunttionen, d. b. nad den „Dienften“, die in ihr und für fie geleiftet
werben miffen, wenn fie ®emeinfchaften fein follen, analbfieren.
Nad diefer rationalen Anfdauung ift Fibrertum eine Funk—
tion: beftimmte ©lieder der Gemeinfdaft haben die Aufgabe der
Führung. Sie find mit der Führung „beauftragt“, fet es durch Die
Natur (alfo ®eburt und Sdidfal), fei es burd den Willen (alfo Gre
nennung oder Wahl). Ift der Zührer ein Funktionär der Natur und
Damit des Schidfals, fo ift er dem Schidfal verantwortlich (fo in der
Monardie bon Hottes Onaden). Iſt er Yunltionär des Willens der
Semeinfdaft, fo ift er der Gemeinſchaft verantwortlid (fo in der
Demokratie bon Bolfes Onaden).
Der GFunttiondr (Diener) befCommt eine Aufgabe im SGangen und
für das ®ange augewiefen. Gs ift nicht etwa fo, daß Die andern ihm
ihren „Willen“ „übertragen“, aud nicht fo, daß fie „ihren“ Willen „be
ſchränken“; denn die andern find ja, fofern fie Gemeinfdaftswefen find,
aud nur Zunltionäre und haben lediglih ibre Aufgabe und ihren
Willen. Sondern das Banze, die Sefamtheit überträgt einem Indi«-
piduum oder einer ®ruppe bon Individuen — nicht etwa ihren „Willen“,
fondern eine Funktion, etwa die Zunltion der Führung. (Ginen
„Willen“ Tann man nidt „übertragen“. Wan fann nur entweder auf
den eigenen Willen gugunften eines andern bergidten, oder feinen
Willen einem andern [uggerieren oder — das ſchwierigſte — feinen
Willen einem andern auf dem intelleftuellen Wege bes Ueber»
geugens beibringen. Pſychologiſch gibt es alfo nur Willensperzicht,
Willensfuggeftion, Willensübergeugung, aber nidt „Willengüber-
tragung“. Die Uebertragung ift eine juriftifhe Fiktion, die nur —
jenfeits aller ſeeliſchen Wirklidfeit in Ieerer Abftrattion möglich ift, in
dem feltfamen Denfraum des rdmifdredtlid tränierten ®ebirns. Als
ob Der „Wille“ ein Gigentum fei, fo daß man ihn einem andern gu geit-
weiligem DBefit und zur Nubnießung übergeben fSnnte! Wohl aber
fann man jemandem einen Auftrag, eine Aufgabe, eine Funttion über-
tragen und man fann die Ausführung überwachen.)
nounttion~ ift Dasfelbe wie Stellvertretung, aus Dem Religidfen
ing Biologifde überſetzt. Beide, die Funktion wie die Stellbertretung,
find reale Borgänge des Gemeinfdaftslebens, Das eine Mal paralogifd
fombolifiert, Das andre Mal logiſch analbdfiert. Es Handelt fid, fowobl
im Religiöfen wie im Biologifden, um eine primäre Grideinung alles
Semeinf[daftslebens, um eines der großen Sefese aller ®emeinihaft.
4.
Das Denfen des rationaliftifmen Seitalters aber, Das im Leben
wie in der Natur nur Abftraftionen fudte und bas die eigentiimlide
Wirklidfeit ber Gemeinfdaft überfah, weil es mit feiner Hypertrophie
bes Nurelogifden den Ginn für pſyhchiſche Realitäten vernadlaffigte,
Diefes rationaliftiide Denfen (eine HiftorifHe Abart des rationalen
739
Dentens) Dadte nur Individuen, deren jedes „fein“ Denfen und „jeinen“
Willen hatte. Da jedoch einerfeits aus einer Summierung des Denkens
vieler niemals ein theoretiſches Syſtem und aus einer Summierung Des
Willens vieler niemals ein praktiſches Syſtem beraustommt, da aber
anberfeits ©emeinfdaftsformen wie beifpielsweile der Staat und Auf»
gaben wie das Führertum, Die binwegzuleugnen nicht anging, dod) er»
fart und gerechtfertigt werden mußten, fo erfand man den Silfsbegriff
der „Repräfentation“.
Der „Repräfentant“ (3. B. ein aufgellärter Fürft oder ein Parla-
mentsabgeordneter) ift ein „Stellvertreter“, Der aber nidt das Welen
ber Semeinfdaft, ihre Gubftang, fondern nur den Willen der in der
®emeinfdaft zufammenftehenden Individuen vertritt. In ihm fulminiert
nicht das Sein und wadstumsbafte Werden der Gruppe, fondern in ihm
„Itellt fic“ „Der Wille* der Gruppe „dar“. Nun aber ift der Wille Hes
Glibrers — wenn man nur Indipiduen gelten läßt — Doch immer nur
fein Wille. (Beweis: Gr fann feinen andern Trieb als eben nur feinen
eigenen, er fann fein andres ®ewiffen als eben nur fein eigenes haben.
Niemand Tann alfo fein ®ewiffen einem andern übertragen, und man
fann nicht fein Gewiſſen durd das eines andern erfefen laffen. Denn
Srieb und Gewiſſen treten indipiduenhaft in Erſcheinung. Bewußter Wille
aber ift ftets eine DBerbindung bon Trieb und Willen. Was hinter
den Individuen liegt, ift für den Rationaliften „Metaphyſik“. Alfo bat
das Individuum eben immer nur feinen Willen.) Da aber Gemeine
{daft unbeftrei:bar mehr alg Gummierung bon Individuen ift, und da
alfo der ,@efamtwille* mehr als die Summe ber Ginzelwillen ift, fo
bbopoftafiert man den Willen beftimmter Individuen (des Königs
oder der Abgeordneten) als Sefamtwillen.. Der fo Hypoftafierte Ges
famtwille ift lIebdiglid eine ftaatsredtlide Fiktion ohne
pſhchologiſche Realität. Statt einer Gunttion, die übertragbar
und überwadhbar ift, fest man einen individuellen Willen (aljo eine
Willfiir!), der nur fiftio, nicht aber wirklich übertragen werden Tann
und der aljo — in der Batlächlichkeit, wenn man bon den vergeblichen
SHilfstonftruftionen, mit denen Die Rationaliften ſich tröftlich felbft
blenden, abfieht — uniiberwadbar und unverantwortlidh ft.
Go zittert Der Begriff der Repräfentation zwijchen ber religiöfen
Wirklidfeitsjphdre und der natiirliden Wirklichkeitsſphäre Heimatlos
umber. Die Repräfentation ift weder Stellvertretung nod) Gunftion und
foll doch beiden entipreden. Das Ding ſchwebt im Nebel jenes felt
famen Schattenreiches, in dem die unreif geborenen, nur balb fertigen
®ebanfen, die nicht imftande find, Die Nahrung der Realität in fic zu
faugen, ihr unwirflides Sefpenfterdafein führen. Das ift jenes jchauer-
lide Zwiſchenreich, aus dem fopiel irre, blutleere Moral, foviel wirklich"
feitsferne philoſophiſche Schulmeifterei und juriftiihe Weltfremdheit
über die Dtenfden fommt. Der Führer ift wohl des Göttlichen entfleidet,
fann aber nicht den Boden der wirfliden Gemeinfdaft gewinnen,
fondern fdreitet auf dem Iuftigen Weg der Giltionen einher. Seine
Welt ift die formale Scheindemofratie. Diefe Scheinwelt aber fteht
bindernd vor der wirfliden, por der funftionalen Pemofratie.
740
Die Repräfentation ift alfo eine rational forrumpierte Gtellvertre-
tung. Der Repräjentant ift ein rational forrumpierter König: weder
„vertritt“ er im beiligen, berantwortungs[mweren Bolllinn des Wortes
fein Golf, nod aud) — funktioniert er. Es gibt fein Abgeordnetenhaus
und es ift fchlechterdings feines mdglid, Das funktioniert; denn Die
Abgeordneten haben feine Funktion, fondern follen „Repräfentanten“
fein.
Statt den vollen Schritt bon der religidjen Stellvertretung zur wirt“
lihen Funktion zu tun, tat man den halben Schritt bis zur „NRepräfen-
tation“. Man verband ein bißchen Mythos und ein bißchen Realität,
Daraus wurde eine verniidterte Glorie und eine verflüdhtigte Realität.
And wenn nun Das Ding, das dabei Herausfam, weder den metaphh-
ſiſchen Schimmer des göttlichen Rubmes erwerben nod) aud nur „funk
tionieren“ fonnte, fo tröftete man fid mit der allgemeinen Unbdollfom-
menbeit alles Menfdliden, Das eben „niemals ideal tft“; es feien leider
nicht alle Menſchen aufgellärt genug, es fei immer nod) allzu viel böfe,
unbergeiftigte Natur da. Geringe Anfpriidhe und große Hoffnungen
lajfen den ewig optimiftifden Rationaliften über die tribe Wirklichkeit
binwegjchweben. Gr hofft und Harrt auf die allmählide Wirkung der
„Grziehung“, der — Erziehung zur Fiktion. St.
Die Schwärmerei für exotifche Weisheit und
Religiojität.
ie durch Den modernen Weltverfehr angebahnte Annäherung der Völker
bat hinüber und beriiber aud einen Austaufd der Geiftesgiiter der
großen Bölfer untereinander zur Golge gehabt. So find bei uns die wert-
vollften, klaſſiſchen Schriften Indiens, Chinas und Japans gum großen
Zeil in Ueberjebungen zugänglich geworden. Was im fernen Often das
®eiftesleben bewegt, wird bei uns febr fdnell befannt, und mehr oder
weniger führende Perfönlichfeiten aus jener fernen Welt treten bei uns
auf und verfündigen aud) ung, was fie für wichtig halten.
Das alles könnte für ung eine febr willlommene Bereicherung unferes
eigenen Lebens fein, infofern wir Dadurd) Anteil nehmen fonnen am gei«
ftigen Leben der andern großen Kulturvölfer und angeregt werden, unfern
eigenen Beſitz an dem ibrigen zu prüfen, und angejpornt werden, Die tiefen
Ideen und Starken Kräfte unferer Kultur noch beifer, den Aufgaben der
®egenwart angepaßt, in die Sat umzuſetzen.
Leider aber bat Die Berührung mit den fremden Welten in weiten
Kreifen bei ung eine andere Wirkung, nämlich eine ganz übertriebene Be-
wunderung des Sremden mit der Tendenz, wir müßten unjere Kultur
Durch Ideen und Kräfte aus dem Often ergänzen oder gar durch fie er»
ſetzen. Gs ift Die elende beutfche Schwäche, fich zu beugen bor allem, was
aus der Grembde und was aus der Gerne fommt, das eigene zu unter»
[haben und das Fremde zu überfchäben oder zu verfennen. Berftärlt wird
bie Wirkung des Fremben durch bas große Selbftbewußtfein, mit bem Die
Afiaten und die europäiſchen Bertreter der afiatijden Ideen bei uns auf»
741
treten. Männer wie der Inder Tagore und der Ghinefe Ku Hung Ming
fritifieren auf das [chärffte alle Schwächen Europas, finden aber fein
Wort der Kritif für die viel größeren Schwächen Indiens und Chinas.
Sa, fie find fogar dreift genug, uns wohl gar Minderwertigteiten ihrer
Lander, 3. B. die Bielweiberei, als befondere Vorzüge, als aud) für uns
beilfam angupreifen. Dabei muten fie uns zu, ihre Schilderung über das
Beben im Often, wie es wirklich fet, gu glauben, während fie in Wahrheit
ein Sdealbild des Oftens zeichnen, gu Dem die berrfchenden Zuftände in
einem fchreienden ®egenjate fteben. Nicht viel anders wirkt dag Auftreten
Rudolf Steiners, des Grafen Kedferling und anderer Männer, die zum
wenigften eine Ergänzung des Wirfens Hurd) den Often fordern. So fagt
3. B. Ridard Wilhelm in feinem Bud „Die Seele Chinas“ (Berlin 1926):
non Diefem Sinne ift Die Hinefifde Lebensweisheit Heilmittel und Rettung
für das moderne Europa.“ (©. 347). Ja, es werden uns heute fogar Die
primitipen Lebensordnungen afrifanifder Negerftämme, unter Verf{dwei-
gung oder iinfenntnis aller fürdhterliden Golgen ihrer Stammeszuftände,
als vorbildlich zur Neugeftaltung unferes Lebens angepriefen. (Die Bee
tounderer ®utmanns.) Das ift ja aber eigentlid nur Die folgerichtige
Weiterführung der Bewunderung und Nadabmung der Wegermufif,
Negertange uf.
Diefe ErfHeinungen wären nicht möglich, wenn unfer Bolt bie eigene
Seiftestultur wirklich gut fennen und für bas Leben ausſchöpfen würde.
Eine Kulturfrifis haben wir in Wahrheit doch nicht fo, daß fic) unfere
tiefften Wabrbeiten und edelften Kräfte als unbaltbar und gu fdwad ere
wiefen batten, fondern nur fo, daß unfer Bolf feine wundervollen Lebens-
quellen nicht genug fennt und nicht in Herz und Leben aufnimmt. Unfere
Bildung ift nicht gründlich genug, und wo fie intelleftuell der Jugend ge-
geben wurde, wird fie bon den Aelteren nicht ausgewertet. Unſere Klaffiter
fonnen ung zur wahren Lebenserbauung dienen, wenn man fie nur wirf-
lid Tieft und nidt nad) Abſchluß der Schule im Schrank fteben läßt. Wie
verblüffend ift es, aus Haedels Weltratfeln zu erfeben, daß diefer gelebhrte
Univerfitatsprofeffor die Bibel und die großen Kulturwerte des ChHriften-
tums für Herz und Haus unferes Bolfes einfach nicht fennt und fo zu
völlig ſchiefen Urteilen fommt. Und wie wird unfer Volk überflutet mit
Gladhem in Literatur und Kino, fo daß es für nidt pon Natur auf Echtes
eingeftellte Menſchen ſchwer ift, die feinften und wertvollſten Sdhage
unferes ®eiftesilebens fid innerlich wirklich anzueignen, fo daß fie perjön-
lider Lebenslauf werden. Gottlob wird ja aber aud) von vielen Darum ge-
rungen und Daran gearbeitet, unfer Bolt in Verbindung zu bringen mit
Diejen, feinem Eigenwefen adäquaten Lebensgrundlagen und neue, gute
Oeiſtesſchätze fennengulernen.
Sedod heute ift die oben gefdilderte Not noch da, daf viele unfern
eigenen ®eiftesbefig nicht genug fennen und feft bejigen. Nun fommt bas
Srembe, mit lauter Begeifterung angepriefen. Da greifen fie zu: das ift
bie Rettung. Dabei ereignen fich merkwürdige Dinge. Wer wollte leugnen,
daß Tagore ein großer Dichter ift! Nur das wiffen viele feiner euro»
päilchen Beiwunderer nicht, daß er durchaus fein VGertreter rein indifcher
Ideen ift. Vielleicht tft ihm das felbft nicht bewußt, in-wie ftartem Maße
742
er europdifd-driftlide Sedanten in indifdem Kleide vertritt. Wohl ift
in ihm viel Indifches, oft nicht einmal bas Befte, 3. B. wenn er die
elende Stellung der indiſchen Grauen gutbeißt. Aber viele bon feinen
feinften Liedern find ganz unindijd. Das ift jedem Klar, der ein wenig
indifches Leben fennt. Bei Tagore fann das aud gar nicht anders fein.
Gein Gater war einer der Führer der fogenannten Brahmo⸗Samadſch-Be⸗—
wegung, die bewußt Shriftentum und Indertum verbinden wollte und will.
Wir verdanken diefer Bewegung 3. B. wunderpolle Hymnen auf Jeſus.
In dieſem Geijte ift Sagore erzogen worden; ber wirft in ihm nad. So
bewundert man in Sagore in weitem Maße nicht indifchen, fondern den
eigenen weftliden Geift, und weiß es nur nicht.
Aber aud) wo man wirklich edt-dftliden Geift bewundert und uns
als Heilmittel anpreift, fennt man eben den Often nicht, fonft tate man es
nidt. Man weiß nicht, daß Die lebensmitde Ohbnmadt der 320 Millionen
Inder eine unmittelbare Wirkung ihrer angeblich tieferen, in Wabrbeit
Iebensunbraudbaren und einfeitigen, nur aufs Jenfeits eingeftellten Reli»
giojität if. Man weiß nicht, Daß der das Leben jdledthin verneinende
Buddhismus feine Lebensfdrderung, fondern eine Lebenshemmung für alle
Golfer bedeutet, die ihm anhängen. Man weiß nicht, daß, wo fie poran-
famen, Die Kräfte dazu entfaltet wurden nicht mit Hilfe ihrer Religionen,
fondern troß Derfelben. Man weiß nicht, Baß Die Erftarrung Chinas eine
folgeridtige Wirkung des fonfugianijden Seiftes ift. Und wo man Die
Myſtik Indiens und Laotſes preift, bleibt es Doch bei einem theoretiſchen
Kofettieren mit ihr. Oder wo find die Deutfchen, die mirklide myſtiſche
Berjenfungsiibungen treiben und als Weltentjagende allem Bebagliden,
Bequemen den Rüden wenden und in der Ginfamfeit als famanas oder
jogi haufen? Scließlih: man wet nicht, daß unfere Wirklichkeit tro des
Krieges turmhoch Steht über der Wirklichkeit des Oftens, mit dem namen⸗
loſen fogialen Glend der großen Maffen (jelbft in Gapan), mit dem Feblen
großzügiger Liebestatigfeit und Krantenfürforge, mit dem Fehlen bon
Boltsbildung und gerechter Gejebgebung, mit der fiirdterliden Ausbeu-
tung und Entwürdigung der Grau. Man fennt Tagore, aber nicht das feine
Bud des Indologen Winternit über die Grau in Indien. Man fann alle
unfere furdtbaren Nöte und Mißftände fennen und zugeben und wird
bod) zu dem Urteil fommen: unfere Welt fteht weit über der des Oftens.
Das ift fein Zufall, aud) nicht nur eine vorübergehende Olanzperiode
des Weftens, fondern es ift Die folgeridtige Auswirkung der befjeren, tie»
feren und ftärferen Lebenstrafte unferer Kultur. Wer unjere Kultur durch
Die des Oftens ergänzen will, verfennt, daß wir zur Ueberwindung unferer
Schwächen nicht fremder Ideen, fondern nur volllommener Durhführung
unferer eigenen Ideen bedürfen, und daß die Hinwendung zum Often ein
Serabjinten auf eine niedere Stufe bedeuten würde. Die dftlide Kultur
ift aufgebaut auf einem bier naturbaften, Dort bergeiftigten Bantheismus,
deſſen unausbleiblide Folge eine Geringſchätzung des einzelnen Menfchen
als Menichen ift. So folgt aus ihm ein völlig anderes Menfchlichkeitsideal.
In Indien find bewußt die Oberfaften, in Oftafien eine führende, fleine
Literatenſchicht alleinige Inhaber aller Rechte und Vorteile der Kultur,
bie Maſſe wird bewußt als minderwertig eingef[hätt gegenüber dem „Edel⸗
743
menfden*. Die fraffe Weltverneinung aller indifden Syſteme wie Die
flade Weltbejahung des Konfuzius find überholt durch eine abendlän-
bifdh-driftlide Auffaffung, die den Abftand Welt und Gott tief erfaßt,
alles Weltelend fennt und dod die Welt als Welt Gottes bejaht und jeden
einzelnen Wenfden als Gottes Ebenbild wertet. Das ift die Auswirfung
des riftliden Monotheismus. Diefe, ihrem Wefen nad) höhere, drift-
lide Kultur ift mit unferem deutichen Bolfstum eine ganz innige Bere
bindung eingegangen. Wie ftarf ift dieſe Berbindung in Luther gefest!
On dieſe unfere Welt an die Gielle ihrer bisherigen Lebensfrafte oder
aud) nur zu ihrer Ergänzung Sftlide Ideen einfügen gu wollen, beißt, unfere
geiftige Srundlage untergraben, ftatt fie zu feftigen, ganz gleich, ob es
der Buddhismus Ift oder die Theoſophie, Die Anthropofopbie oder die
Weisheit der Shinefen.
Wun fönnte man vielleiht annehmen, unfere in befonderem Sinne als
firchlich oder chriftlich bezeichneten Kreife feien bon der Schwärmerei für
ezotifche Frömmigkeit frei. Das ift leider feineswegs der Fall.
Gs ift bei aller Hochachtung der neueften Beftrebungen für ein Zus»
fammenarbeiten aller evangelijchen Kirchen ganz gewiß ſchon dies falfd,
wenn wir unjer deutjches firdhlides Leben an angelſächſiſchen Borbildern
orientieren wollten. Man dente an die überaus wertlojen fremden Melo—
Dien driftlider angelfähliicher Lieder. Alles, was wir bon dort lernen
fönnen, bedarf durchaus der Umprägung in unjere Deutjche Art. Deshalb
braudt man den andern Die Berechtigung ihrer Gigenart für fie Durchaug
nicht abzufprechen.
Nun aber fommen Heute zu uns durch bie Miflionsarbeit viele Berichte
über exotijhe Neuchriften, folde Neuchriften tauchen auch wohl felbft auf.
Und wieder werden fie in einer Weife bewundert und uns als Borbild hin-
geftellt, bie gang unwürdig und auch verderblich ift. Zwei Beifpiele Diefer
Art aus allerneufter Zeit find beſonders lehrreich.
In China ift einer der drei heutigen Machthaber, der General Feng
Ju bjiang, Shrift. Die perſönliche Ehrlich!eit feines Beienntnifjes zum
riftliden Glauben ftebt außer Zweifel. Gr wirft auch unter feinen Gols
daten für Das Shriftentum und hat fein Heer in guter Zucht, forgt auch für
Bildung und Gejundbeit, und Duldet feine Plünderung des cinefifden
Bolfes durch feine Soldaten. Die Art nun, wie viele firhlide Blatter bon
biejem Mann berichten, ift ganz einjeitig und übertrieben. Feng Zu bjiang
ift ebenfo wie Wu Pei Fu und Chang io lin ganz und gar eigenmäcdhtiger
Bollstyrann. Keine Regierung bat ibn bebollmadtigt. Gr will genau wie
die andern am liebiten die Alleinberrfdaft erfämpfen und ſcheut durchaus
feinen Bürgerfrieg. Gang brutal bat er dem lebten Mandſchu⸗-Kaiſer feine
ihm gefeplic zuftehenden Nechte geraubt. Bor drei Jahren hat er gegen
Wu Pei Fu einen großen Treubrud begangen. Man fieht bei ibm eben
aud, wie ſchwer es ift, als Shrift ein Politifer und eigennübiger Militär«
berr zu fein. Natürlich jagt er, er allein fampfe für das Vaterland und Die
andern nur für perfönlichen Borteil. Gr kämpfe für Frieden und Gered-
tigfeit, Die andern aber für bloße Madht. Nur werfen ihm die andern das
gleihe Böſe por. Und feit Wilfon fann dod eigentlich por folden Defla-
mationen niemand mebr befondere Adtung haben. Man warte alfo erft
744
einmal in Rube ab, was aus Feng Yu Hfiang wird. Borldufig ift er ganz
ausgefdaltet und ift auf einer Reife nad Europa. Wird er, falls er zu
uns fommt, aud) wie ein chriftlihes Wundertier beftaunt werden? Gs
fteht zu fiirdten, zumal man bor wenigen Jahren erft mit Dem Inder
Sundar Singh das Unglaublidfte erlebt bat. Haben wir nicht chriftliche
Staatsmänner, aud) ©®eneräle genug, Die wir uns lieber gum DBorbild
nehmen follten, ftatt des exotiſchen Shinefen?
Das zweite Beifpiel betrifft jenen eben genannten Inder Sundar
Singh. Bald nad dem Kriege wurden von diefem in Indien als eine Art
evangelifher Asfet Iebenden Manne fabelhafte Wunderdinge berichtet.
Eine romantifhe Bekehrungsgeſchichte Wunder über Wunder, die er ere
lebt babe, Erſcheinungen Jeſu, Entriidungen bis in den Himmel, das fei
ber Lebensinhalt diefes Mannes, der als Prediger des Shriftentums mit
erftaunlidem Grfolge in Indien wirkte. Bald fam er felbft, aufs hidfte
beftaunt, Riefenderfammlungen laufchten ihm: nun bieß es, er ift nicht
nur der Apoftel des Oftens, fondern aud des Weftens, er muß die alte
Shriftenheit neu beleben!
Zwar famen aus Indien warnende Stimmen. Ss waren Miffionare,
feine „Liberalen“, fondern folche, die fich felbft als „orthHodoz“ bezeichneten
(Dr. Nugent). Kirchliche indiſche Blätter der anglilanifchen Kirche und
der metbodifhen mahnten zur Borfidt. Aber der Hauptrufer für den
Inder, der Profefjor für Religionswiſſenſchaft D. Heiler in Marburg, er-
Härte alle, Die an dem Inder Zweifel äußerten, für „Rationaliften” oder
fonft urteilgunfabig. Gs war eine Zeitlang in Deutfchland unmöglich, gegen
Sundar Singh und feine blinden Berehrer gu Wort zu fommen.
ind heute: Selbft Heiler muß zugeben, daß bei Sundar Singh „bei
feiner Belehrungsergdblung die Phantaſie im Spiele war“. Gr Halt es
fogar „nicht fiir ausgefdloffen, daß fdon Gundar Singhs Belehrungs-
erzäblung bon legendären Zügen umranft ift, ja, Daß er erft allmablid
Dazu gefommen ift, feine Belehrung in jener phantafiepollen Gorm ausgu-
malen“. Gr gibt aud) fonft zu, „daß Gundar Singhs Erzählungen legen-
dare Glemente enthalten“, bas fei nicht verwunderlich, fei er Doc ein Afiat.
In einem weiteren Gall erflart Heiler, es handle fid) um eine Oedächtnis⸗
fontamination, „falls wir es nicht mit einer freien Bhantafiefhöpfung oder
mit Der Uebernahme irgendeiner fremden Legende zu tun haben.“
Aber alle die Berichte, Die jeht als legendär zuge»
geben werden, bat man bod unfern deutſchen Shriften
als tatjfadlide, wirkliche Sreigniffe beridtet und als
befondere Bemweife der apoftolifhen SottermaHltheit
Des Inders. Wir bedanten uns für einen Apoftel, ber
feine Befehrungsgefdidte phantafiedoll ausſchmückt
und ung Qegenden als wirtlide Wunder erzählt.
Das Berdienft, die gefdidtlide Wirflichkeit über Sundar Singh in
Europa feftgeftellt und bas richtige Urteil über ibn zur Maren Srfenntnis
gebradt zu haben, gebührt dem Züricher Pfarrer Dr. Pfifter, der in vielen
gründlichen Unterfuchungen, gulest in einem Bud bon 327 Seiten (Die
Legende Sundar Ginghs, Paul Haupt, Bern, 5,80 MI.) auf Orund zu-
perlaffiger Quellen die Wahrheit erforfcht hat. Ss find ganz ungeheuerliche
48 Beutiches Dolistum 745
»gegenden* und „Phantafie-Schöpfungen“ bes Inbers, die ba ans Tages-
licht fommen. Gr hat erflärt, ew babe vierzig Sage gefaftet. In Wirklich"
feit waren es nod) nicht fieben Sage. Gr ergablt bon einem. Gremiten, er
fet 318 Sabre alt. Sekt muß er zugeben, er fet vielleicht etwas über hundert
Sabre, jedenfalls ,,febe er febr alt aus“. Wunderbare Srrettungen, Mar-
terungen u. a. zerfließen in nichts. „Zibet-Reifen“ gingen nie ins eigent-
lihe Sibet, fondern nur in das englifd-indifhe Srenggebiet, furg, alle
wunderbaren Greigniffe breden gujammen.
Nun liegt es Pfifter und aud) mir fern, Sundar Singh, wie mande
tun, einen bewußten Schwindler oder Betritger gu nennen. Leider ftellt
aud) Heiler in einem Bud „Apoftel oder Betrüger“ (Ernſt Reinhardt,
Minden 1925, 4,— Mt.) diefe Alternative. Sundar Singh ift aber ein
Inder, innerlid) von Chriftus erfaßt, aber gang und gar orientiert bon
indiſchem ®eift. Da find die Welt ber Sdeen und die reale Welt, Phan⸗
tafite und wirkliches Sefdeben, Wunfd und Erfüllung in ihren ®renzen
fließend. Aud) fein asketiſch⸗myſtiſches GFrdmmigfeitsideal entftammt der
nidtdriftlid indifchen Religiofität. Sr meint es gewiß fubjeftip febr ernft
und zeigt große perfinlide Hingabe an feinen felbfterwablten Beruf. Aber
ob er fo, wie er ift, für Indien wirklich ein Apoftel epangelifchen Shriften-
tums ift, ift febr fraglid. Für uns aber ift er auf jeden Gall ohne Wert,
bddftens eine Warnung, daß Shriftentum in dieſe Irrwege fid nicht ver⸗
lieren darf.
Eins aber tut uns not: Gefinnung auf das Befte, Sdelfte, Steffte, Das
in unferer fo reichen ®eiftesgefhichte ein underlierbares Out ift. Sutrauen
gu unferer eigenen Art. Sammlung und nicht Sertrennung in unrubigem
Suden, ob nidt Indien oder Oftafien uns Die Rettung bringe. Möchte
unfer Golf bald zur Befinnung fommen auf fein eigenes Wefen.
Sobannes Witte.
Bon den Tugenden des Franziskus.
le Tugenden des Franz von Affift, ber am 4. Oltober por fieben-
bundert Gabren ftarb, haben ein mildes leuchtendes Licht über bas
Mittelalter verbreitet. Das Olühen ift bis Heute nicht erlofden und
überfcheint aud) uns, wenn wir uns an das Wefen Diefes Menfchen ers
innern. Das Wefen eines Menfchen wie Frangistus ift underweslid,
da er mit feinem ganzen Leben dem Unberwesliden diente Darum
war er [don bei Lebzeiten ein Heiliger, und die Heiligfpredung Durch
Die Kirche folgte der Stimme bes Bolfes.
Stanzistus fteht an der Wende von Ootik und Renaiffance. Aus
der Starrheit der Dogmen, den Geſetzen der Autoritäten, dem feften
®efiige der Hierardie erhebt er fid, wie ein Vogel aus feinem Käfig,
fliegt in die Sonne der Freiheit und nimmt nun den Lebensfampf Der
Sreibeit auf fid. Aus dem friftallharten fonftruftiven ®eift der Sotit
blüht Die Blume eines neuen organifden Lebens. Gine Wiedergeburt
der Menfchen aus dem Seift bebt an. Das ift der Ginn, ber fo bald ders
forene Ginn Der Renaiffance. Gr war gelebt in Frangisfus und feinen
Züngern. Darum wird das Lidt des Frangisfus immer den Menfden
746
und Seiten aufleuchten, die eine Wiedergeburt des Menfden aus dem
Geiſte erfehnen.
Eine folche Seit erlebt unfere Gegenwart. Und wenn aud) Heute
nicht Die Heiligen unter uns wandeln, Io fpreden doch ihre Sedanfen
und Lebensfrafte gu uns.
Srangistus beilte fein WMtenfdenleben in feinen Tugenden. Die
Sugenden feines Lebens und feiner Vebre find: Armut, Keufchheit, Oe⸗
borfam.
Gr war arm. Armut war ihm das Hddfte Sut. Er verwirllidte
bie Nachfolge Ehrifti, der feine Stätte hatte, wo er fein Haupt nieder-
legen fonnte. Gr handelte nad dem Gebot, verfaufte alles, was er
hatte, und jchenlte es den Armen. Solches verlangte er bon allen
feinen SZüngern. Gr entfleidete fich feines Gigentums budftablid bis
zur Nadtheit. Gr löſte fid von Bater und Mutter und feiner Bers
wandtfhaft. Er gog wie ein Gager bes Bubbha in die Hauslofigfeit.
Gr duldete es nicht, daß feine Brüder und der Orden Eigentum er-
toarben. Was fie als Gefdenf empfingen, Das nahmen fie zur Not-
durft ihres Sages ober fchenkten es denen, die nod armer waren als
fte. Als ihnen Häufer gegeben wurden, fo waren Die Häufer feine
bleibenden Stätten, fondern eine furge Ruhe auf der Wanderung, die
eine unabläffige Kette der tätigen Liebe und des geiftigen ®ebens fein
follte. Nicht betteln follten fie, fondern arbeiten, „weil dag Arbeiten zur
Ghrbarfeit gehört“, wie Franziskus fagt. Aber fein ®eld durften ihre
Hänbe berühren, fondern nur die Nahrung, das Beben zu erhalten, und
bie Kleidung, die Blöße zu deden. Das Menfdenleben ift Arbeit und
Hilfe. Wer das vergaß, den fdalt der Heilige: , Gort mit dir, Bruder
Fliege! Du willft die Mühe deiner Brüder verzehren und müßig fein
im Dienft bes Herrn wie die Drohnen.“ So gab es keine engen Klofter-
mauern für die Siinger des Grangistus. Wohl pflegten auch fie Die
tiefe Rontemplation, die Szerzitien ber Betradtung, um fi mit dem
Brunnquell des Lebens in Berfenfung zu vereinen. Aber fie ftrömten
auch mit Diefer Quelle des Vebens ins Beben felbft. Kontemplation war
ihnen Kraftfammlung für bie Liebestat. So hob Frangisfus das fogiale
Problem ber driftliden Lehre erneut ans Licht und diente der Wieder⸗
geburt der ®efellfhaft feiner Zeit. Wie heute ein neuer Stand die Welt
und Die ®emeinfchaft zu erneuern ftrebt, fo bereitete Damals bas
Bürgertum eine neue Ordnung bor. Das Bürgertum war Drager Des
Sranzistanifchen Weiftes, und als es ihn fpäter verließ, war es aud
nit mehr fähig zur Wiedergeburt der Welt, und die Renaiffance wurde
feine lichte Zeit in der Menfdbeitsentwidlung. Sie hatte die Lehre Der
Armut nicht ernft genommen und daher aud) bie ®üter ber Armut nidt
getwonnen.
SGrangistus verheißt in feiner Armut einen unermeßliden Schab.
„Denn fie ift,“ fagt er, „jene himmliſche Wohltat, burd die uns alle
Dinge irdifd und vergänglich erfcheinen, durch die alles Veid bon unferer
Seele genommen wird, daß fie fid frei mit bem ewigen @ott vereinen
mag ... fie ift es auch, die in biefem Leben ben Seelen, welde poll von
Liebe zu ihr, Die Leichtigkeit verleiht, zum Himmel emporgufliegen: und
* 247
Dies Darum, weil fie es ift, Die Die Waffen Der wahren Demut und Liebe
behütet.“ Gs ift ber unendlide innere Reichtum, den der Menſch ge-
winnt, wenn Das innere Leben in feinem Seelengrunde erwacht, jener
Reidhtum an Kraft, der wadft, je mehr er ausgibt an Liebestat. Aus
foldem Reidtum fam Grangistus: die Kraft der Heilung. Aus dem
Wunder der Liebe bermodte er Die Ausfäbigen gu beilen, die Arm⸗
feligen zu tröften, und er verbreitete, angetan mit aller irdifchen Armut,
die Freude des Grbdenlebens.
Solde Freude vermochte nur aus einem reinen Herzen aufgubliibn.
Rein ift Das Herz, das gereinigt ift bon aller irdifchen Liebe. Daher
ift Keufchbeit die zweite Tugend des Franziskus. Sie ift unumgänglich,
um Die Reinigung des Körpers und ber Seele zu erfüllen, ohne die eine
völlige Bereinigung mit der fhöpferifchen Kraft, ein Ruben im Schoße
der Gottheit nicht möglich ift. Bölliger Verzicht auf gefdledtlide, aud
ebelide Liebe ift die Vorausfebung. Wenn Franz auch niemals einer
Askeſe das Wort geredet Hat, fo wiffen wir dod, daß er wie ein Asket
lebte. Sein Biograph berichiet die Worte: „Die Frauen find nur ein
Hindernis denen, die den rauhen Pfad erflimmen wollen, um das Ants
lig ©ottes zu fdauen.* Und Franz foll gefagt haben, daß er fein Weib
wiedererfennen würde außer feiner Wutter und der heiligen Klara,
feiner Mitftreiterin um Die driftlide Grfenntnis. Bon dem großen
Kampf um bie Keufchheit und dem Leiden, das er litt, zeugt aud die
Regel, die er dem Orden gab: „Unfere Freunde find alle jene, die une
ungeredterweife Trübfal und Angft, Schmach und Unbill, Schmerz und
Golter, Maribrium und Tod berurfaden; wir müffen fie gar fehr lieben,
denn Durd Das, was fie ung zufügen, befigen wir das ewige Leben.“
Im Verzicht auf irdifche Liebe gewann Grangistus die bimmlifche
Liebe. Gr erlebte die mbftifhe Hochzeit. In oftmaliger, Iangwährender
Ekſtaſe wurde er über das menfdlide Bemwußtfein erhoben und teilhaftig
ber ſchöpferiſchen Kräfte. Er war fo vermählt dem Chriftuserlebnis, Daß
fic feinem Leibe die heiligen Wundmale bes Gelreugigten einprägten.
So war er felbft gum Trager der Liebe geworden. Mit diefer Liebe
erfüllte er die lebendige Natur. Allen Wefen war er in DBrüberlichkeit
verbunden. So berfiindete er die Liebe den Menfden auf Erden und
den Bdgeln unter Dem Himmel, den Fifchen im Waffer und trug die
Steine bon den Landftraßen gufammen, um das Haus der Chriſtenheit
neu gu bauen. So war fein Leben fchon eine Legende. Und „unfer
lieber Armer“ war der bon der göttlichen Liebe gefandte Tröſter allen
Armen Diefer Erbe.
Aber er war fein Schwärmer. Aud fein Revolutionadr. Aud fein
Politifer. Sr fam nit, um bom Sefes gu befreien, fondern um das Gee
jet gu erfüllen. Ift fdon bas ©ebot der Armut und ber Keufchheit
ungebeuere Sudt, fo wird Dies nod) ausgefprodener und überböht durch
Die Tugend des Seborfams. Darum war er unterian ber Obrigfeit.
Darum war er ein treues Glied der Kirche. Er war immer bereit, fid zu
Demütigen, gewiß, Daß die Grfüllung der epangelifchen ®ebote als eine
Lebensnotwendigteit aud ohne fein Zutun, auch gegen Mißgriffe und
trotz Erſchwerungen fommen milffe. Diefe Selbftlofigkeit und Subderfidt
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war ein neuer ®eift in der fatholifden Kirche. Er Tämpfte nicht gegen
Mißbräucdhe, beteiligte fid nit am wiffenfdaftliden Streit um Die
Dogmen, fondern breitete in Ginfalt das Leben Ber Urfirde, den
Lebensfern der driftliden Kirhe aus. Wie Die erften Gbhriften Iebten,
fo begannen Grangisfus und feine Sünger. Diefe Unbeirrtheit wurde
bon neuem zum Gundament ber katholiſchen Rirdhe. Sie befreite Die
katholiſche Kirche pon der Scholaftif und gab ihr die Berbindung mit
dem freieren @®eiftesleben des Humanismus. Aber auch weit über bie
Kirdhe hinaus wirkte diefer frangisfanifdhe Geiſt. Gr belebt alle Die
Strömungen, die an Der unfidtbaren Kirche wirken, die als eine rift»
lide Gemeinſchaft einjtmals alle Menſchen vereinen foll. So ift Fran-
gisfus Bote der chriftlihen Zreiheit geworden, jener Freiheit des
®eiftes, bie nur im Geborjam der ebangelifden ©®ebote errungen wird.
Solde Freiheit ift eine große Freude. Sie ift die Freude auf
Erden. Darum verbreiten bie Tugenden des Frangisfus Freude. Grane
ziskus war fein Gufprediger, der, das Strafgeridt auf den Lippen,
Dur die Lande z0g. Sein Weg war eine Lobpreifung der Wunder
@ottes und der Welt. Sein Biograpb, Thomas von Gelano, erzählt:
„Der ganze Mann lebte im Jubel. Gr war erfüllt von beiligfter Frdm-
migfeit. Gr fdien in der Tat ein neuer Menſch, ein Menfd aus der jen«-
feitigen Welt gu fein.“
Gr war Durd feine Freude ein Künftler. Gr predigte und fang. Gr
fang mit dem Bolt, und feine Jünger erzählten Legenden und Gleich⸗
niffe. Die Renaiffance des Menſchen wird bier zur beginnenden Res
naiffance der Runft. Der frangisfanifde Seift erneute die Dichtung.
Die geiftlide Volfsdidtung nimmt bon ibm ihren Ausgang. Die herr»
lidften Lieder verdanken wir den Grangisfanern, wie das überwältigende
„Stabat mater“. Die Kriftliden Mpfterienfpiele gehen aus ihnen Herbor.
Die bildende Kunft wird von einem völlig neuen Sinn ergriffen. Die
Legende des Goangeliums vollzieht fid) nun als irdifche Begebenheit. Die
himmliſche Wtutter wird erft jett als Menfchenmutter des Jeſusknaben
gebildet. Gene innige feufde und berbe Runft ber GFriihrenaifjance bes
ginnt, in Der aller irbifde Schmerz bon einer bimmlifchen Milde vers
fart wird. Der große Meifter Giotto ift gang bingegeben dem Fran⸗
gisfus. Gr malt bie Legende des Heiligen und enthüllt die erhabene
©röße des einfältigen Menfchen, der fic erniedrigte, damit die Menſchen
feine Liebe annehmen fonnten.
Der SGeift des Frangisfus ift eine Botfdaft an unfere Seit der
Weltwende. Haben wir aud nicht die ftrenge Hoheit einer Ootik hinter
uns, jondern bas Sde Schema Hes Materialismus mit feiner mecha-
nifhen Welt, fo fuct dod auch die Segenwart ben Menfchen neu zu
gebären. Aber er fann nur aus dem Geifte geboren werben. Alle Bers
jude, den Menſchen und feine ®emeinfdaft aus materiellen Welt
anfauungen ans Licht zu heben, mißglüden und produzieren nur einen
todgeweibten Homuntulus.
Srangistus zeigt das Biel der Brüberlichleit. Feber wird feinen
eigenen Weg nad dem Ziel wandern, und faft alle werden nur eine
furge Wegftrede boranfommen. Wenn ber Weg fdwer wird, fo vers
749
mag bie gütige Hand des GFrangisfus und fein freudiger Wid aud uns
lächeln machen in dem ewig jungen ®lauben an bas Sute.
RotbarS@reper.
Am Hölderlin.
in Name, der nicht Sufall, ein fchmerzlih gebämpfter und Hell fi
verfpielender Klang, eine webende Heimatlofigteit und erdferne ®e-
Idftheit gugleid — Hölderlin.
Gin Wththos aber unferer Sehnſucht und ein gewaltiges Licht bor der
forfchenden Schärfe unferer Ditterleit, und in den Sagen, da alles um
uns bier ein Grembdes und eine Bedrängnis wurde, Verlodung zum Aufs
brud und zur Heimkehr in das Jahrhundert, da bie Deutfche Seele das
Herz Suropas war. Laßt uns in unferer Armut einfehren bei Jenem, der
mit reiner ®ebärde den heiligen ®eift Teßter Menfdenbeftimmung juchen
ging und fand — Taft uns bor Hölderlin gläubig fein! —
nod) Duld’ es nimmer, ewig und ewig, fo die Knabenfcdritte, wie
ein @®eferferter, die furgen, borgemeffenen Schritte täglich gu wandeln,
id) Duld’ es nimmer!“ und „Weider Winkel ber Erde fann mid deden,
daß id) ewig in Nacht gebüllt dort weine? Ich erreid’ ihn nie, den
weltenumeilenden Glug ber @rofen* — ba fpannte einer in früher
Jugend den Inirfhenden Bogen des Shrgeiges und ſchoß mit den tönen»
den Pfeilen Schillers, des ihm Nächftverwandten. Die barte, faft
möndifhe Zudt der Schuljahre Hatte ibn bon vornherein aus dem
Oleihgewmidt des ungezwungen Natürliden gedrängt, und, wo fonft
Die Sinne unbefangen ſchwärmen, allerlei astetifhe Bilder und plas
tonifche Ideen eingepflanzt, deren Strenge die Neigung zu einigen an»
mutig-finnliden Oeſchöpfen nid lange ftandbalten, deren Forderungen
fo wenig im ®egenüber anflingen fonnten, Daß der junge Asket es vor-
309, nur Die reineren Abbilder feiner Träume zu lieben. Das aber ift
bie erfte und vdielleidt alles weitere entfcheidende DBerwandlung ins
©eiftige. So ergreift bie in ibn zurüdgewiefene und bier verklärte
Leidenſchaft einen würdigeren ®egenftand; wer fonnte Dies anders fein
als Gdhiller, der Ehrenbürger der jungen franzöfifhen Republif, Die
fihtbarli eine Zeitenwende heraufbeſchwor und ebenjo gewiß, bei ents
fernterer Betrachtung, die allernadfte Erfüllung nur irgend erträum«-
barer Men[dhheitsparadiefe. Wir können uns faum noch einen Begriff
machen, wie damals in Bem Deutidland beengter und zum Teil bor-
niertefter Kleinftaaterei welterfhütternde Ideen und in ihrem ®efolge
ebenfolde Greigniffe wirfen mußten, wie überall politifch-philofophifche
Zirkel entftanden, wie die ganze gebildete Welt, man möchte fagen,
täglich, den Durchbruch einer unerhdrten Humanität erwartete. Im GFrei-
beits- und inethrannos-Raufd) des Didterbundes zu Siibingen eignet
fih der Siinger den flirrend einherfchreitenden Rhythmus des Meifters
an, obne freilich der Grbhabenbeit feiner Idole gewachfen zu fein, ohne
den, wie man glaubte, wiedererwedten ®eift des Haffifden Altertums
innerlich erlebt zu haben. Die fiinftlid) erhitte Phantafie überfpannt den
Bogen, gerät bedenklich in die ſchwulſtige Rhetorik perblafener Schiller
Gpigonen, ift fid) aber oft genug — und bier fündigt fid der Oenius
750
an — bet allem Schall und Schwall ihrer vorläufigen Midtigfeit wohl
bewußt. Smmerbin, den Pfarramtsfandibaten haben Menfchenrechte,
atheniſche Freiheit und griechiſcher ®ötterhimmel fo gepadt, daß er auf
Dörflih-ortbodoge Geniigfamfeit verzichtet und in Die HMaffigiftifhe At⸗
mofpbare eines adligen Haufes überwechlelt, um. als Gugendergieber
am „Allgemein-Menichlichen“ gu wirfen. WMerfen wir nun wohl an:
ein fddner Knabe gewinnt feine beftigfte Zuneigung. Bon da an
orientiert fid) Das abftrafte Berlangen nad dem olpmpifden Aether
an einem Sinnlid-®ewiffen, bon da an beginnt das antife Bermadtnis
leibbaftig in ibm gu erwachen und wurzelt tiefer als im Aftbetifierenden
Schiller. Freilich, feine allguftrengen Anforderungen fcheitern aud) bier,
und gum erften Mal gebt ibm die Grfenntnis bom Zwiefpalt zwifchen
Idee und Wirklichkeit fehmerzlih auf. Gin Anderer, Sewöhnlicher, hätte
jebt refigniert, fein täglich Brot gefudt; den fchlummernden Gentus zieht
es unwiderftehlich nad) dem Gena Schillers, Ooethes, Fidtes, Schellings
und Segels, dem gerade die erften Ahnungen feiner dialektiſchen Weite
aufdbämmern. So fällt er unmittelbar in das geiftige Zentrum Guropas
und fpürt erfdiittert den pbilofopbifmen Hymnus der Deutiden Seele.
Nächte verfigt er über den Syſtemen des deutſchen Idealismus, der Gre
Dichter bon Sdttern und Helden ringt erbittert mit ber falten Subtilität
Iogifher RKonfequengen; ein Haud) von Kälte weht aus feinen Herb gea
meißelten ®efangen an die Notwendigfeit, an Die Schönbeit, an Die
@dttin der Harmonie. In mehrfachen Anläufen erobert er fid) den
Ihärfften Gegner alles Sinnlid-Berwirrenden, Kant. Wenn wir Heute
fein Werk und feinen Leib als ein fernes Seftirn porüberwandeln feben,
dann begreifen wir etwas bon der myſtiſchen Ferne bes Lategorifchen
Imperatipg, den er einzig und faft unverdunfelt irgendwie gelebt bat,
begreifen aud) ganz tief lebte, erdfremde Möglichleiten des Menden.
Sreilid), die fpätere Heinbürgerlide Blidverengung fab in ihm nur den
baltlofen Schwärmer. Schließlih, was können Die, welche im Kampf
mit den Dingen liegen, bom Kampf der ®eifter wiffen, gu dem fie
nimmer geboren wurden? Schiller, fühl gewappnet mit fantifden
Mazimen, lobte fi zunädft den gelebrigen Schüler. Der aber mußte
den DBerwandten verehrten, Der ®enius den Genius, und zugleich dod
der Gefabr, ibm gänzlidh gu erliegen, ausweichen. Gr liebt und firdtet
ibn und eines Tages flüchtet er bor ibm. Gs ift eine erfchütternde Tras
gödie, dieſen Konflikt aweier Geftirne gu verfolgen. Schiller fam, inner»
lid bom frangdfifden Materialismus gerfest, franf aus Tiefen heraus
und fpannte mit unfäglider Mühfal fdimmernde DBrüden über feine
Abgründe; Hölderlin ergreift pon diefen Brüden DBejit, abnt bie Ber
fahren des Gpigonen, fpringt ab und gelangt mühlos gum Gigenen. Als
er Diotima das erfte Flötenfpiel weibt, ſchweigt der Schwerbelajtete
und den in geloderten Rhythmen Tangenden mag er Heimlid gebaft
baben. „Rei Gottes!" So trennte fi Hegel bon dem Freunde —
und wir werden beſchämt an die glänzenden Refte einer Kultur der
Männerbünde erinnert, an platonifche ®aftmähler, an Ritterfäle und
Moͤnchsklöſter. Bald darauf fühlte [id ja das Diedermeiertum im Ga-
milienfhoße traulid) verengt.
751
„Diotima, felig Wefen! Herrlide! Dur) die mein ®eift, von bes
Lebens Angft genefen, Sötterjugend fid verbeißt.“ Da fpannt einer
abermals einen berrifhen Bogen, nicht mehr der im kühnen Berlangen
Srmattende, fondern der iiberreid) Begnadete. Ein Wunder war ge-
heben: Eine Idee ging leibbaftig auf Erden um, eine Athenerin an
Geib und Seele, und fdenfte ibm Diefe Seele, ihre ganze berb bere
[dloffene Innigfeit, ihr ausgejhwungenes Waß und ihre beitere Ges
laffenbeit. Gine reife ®eftaltung griedhifher Schönheit ftand por ihm
und wandelte ibn zeitweilig völlig gum ©riechen. „Was ift alles, mas in
Oaprtaufenden die Menfchen taten und dachten, gegen einen Augenblid
der Liebe? Dabhin führen alle Stufen auf ber Schwelle bes Lebens.
Daher fommen wir, dahin geben wir.“ Die Melodie bes Hyperion
flingt herauf, bas Sobelied der Liebe, und wandelt ein Weib zur. Hels
ligen, zur Delpbifd Grbobenen, Sinne zur Seele, Leib gum Geift. Dios
tima, feiner Seele Gines, fo wie Die Madonna Hes großen Glerentiners
und wie die Derflarte im Gauft des alternden und troß allem unirdifch
gewordenen Ooethe. „Ih bab’ es einmal gefeben, das einzige, Das
meine Seele fudte, und Die Vollendung, die wir über Die Sterne
binauf entfernen, Die wir binausfhieben bis ans Ende der Zeit, bie
bab’ id gegenwärtig gefühlt. Gs war da, das Höchſte, in diefem Kreife
der Menfchennatur und Der Dinge war es dba!“ Wie? Der Bantier
Sontard fab nur einen „bezahlten“ SHofmeifter und eine Hurd ibn
unglidlide Gattin. Unglidlid? Eh bien, les affaires abant tout! Man
denke fid in folder Umgebung — die Griechin. Man vergegenwärtige
fic) Die ungebeuerliden Kontrafte: Reidtum ohne Weift und Genie
ohne Reidtum! und man Hat ein Shmbol für bie polaren Spannungen
zwiſchen zwei Welten. Es ging das nimmer an, ein Dichter, deffen Aus⸗
maß der Bunft einer Girftenfonne bedurfte, und eine G©ejellichaft, die
nabe daran war, das Jahrhundert der fonfreteften Nütlichleit zu inſze—
nieren. „Wenn ich fterbe mit Schmad, wenn an den Frechen nicht /
Meine Seele fid radt, wenn ich binunter bin, / Bon Des ®enius
Beinden / Ueberwunden, ins feige Grab,“ — fo fdeidet ber „bezahlte“
Hofmeifter aus Franffurt und preßt aud) da nod einen wilden Auffchrei
in gedrungene Gorm nad) Art und Zucht des Heldenhaften.
Was bat indes Die Geliebte aus ibm gemadt! Aus dem fröftelnden
Umbeuter philofophifher Prinzipien einen, Der im Hoben Mittag Die
Spring blaft, ein ſchwelgeriſch Zanzlied der Natur, einen, der mit
Der Wärme des vollen Grlebens zwei Zeitalter in einen bochgeftuften
Akkord verſchmilzt; der eine hallende Brüde nad) Griechenland fchlägt,
in Das Grbteil feiner Alteften Ahnen; nicht den gebrechlichen Bogen der
Sehnfudt, nit mit der ©edantenbläffe äftbetifcher Gormungsideale,
vielmehr als einer, Der fein Grbteil beimbolen gebt. Und wirklich, bier
und da, fo tm Ardipelagus, gelingt ibm ein Grfühlen bomerifcher
Segenwärtigteit. GOriechenland Heimbolen! Das bedeutet dem Dichter
Sneinander bon Stoff und Gorm — in Weimar verließ bod) mand
allgu gefiinftelt @ebilbe den äftbetifhen Schraubftod und mand allzu
bewußt gefdaffenes Mufterezemplar und DBersmaßezperiment. Nein,
eg gelang Dod nur dem einen vollends, Den abgemeffenen Salt fofra-
752
tifcher Peripatetifer und bie fingende Seele feiner deutſchen Heimat ein-
fad) groß und abjidtslos fdlidt in ein Gebild zu bannen:
„Bom Taue glänzt der Rafen; beweglicher
Gilt ſchon die wade Quelle; die Birke neigt
Shr ſchwankes Haupt, und im ®eblätter
Rauſcht es und fchimmert; und um Die grauen
©®ewölle ftreifen rötlihe Flammen dort,
Berfündende, fie wallen geräuſchlos auf;
Wie Gluten am Geftade wogen
Höher und höher Die wandelbaren.“
Das ift ein gleitendes, vergleitendes Lied, in ein belles Licht herauf⸗
beſchworen — das ift Hölderlin.
®riechenland beimbolen! das bedeutet dem Menfden, Altar zu
fein, um der Natur zu opfern und im ®ebet fid in fie zu weiten. Den
Senaer Philofophen war ja Dies bas Quälendfte und überhaupt menſch⸗
lid bitterfte Problem: wie überwältigt Das Subjelt bie ftoßende Fremd⸗
beit des Objefts, wie verhält fid) Das Bewußtfein gu den Satfachen im
Raum, wie läßt fich die Zweibeit Geift-Ding in bie Einheit erldfen? So
Ihludt denn bald das Fichte'ſche Ich alles Objelt in fi und febt es,
rein um der Wirfungsmdglidfeit des Subjelts willen, außer fid, bald
berföhnen fic) beide Zeile als polare Möglichkeiten der Sdelling’fden
Sbdentitat, bald erfaßt Hegel in der Iogifhen Dialeftif der Begriffe den
Werdegang des objektiven @eiftes — feines dritten Reiches —, Der
ſich andrerjeits, in der Diftang des pſychologiſchen Bewuftfeins, als
Natur darftellt. Der Erbwalter Griechenlands bingegen bevölkert Him-
mel, Erd’ und Licht mit felig waltenden Gottheiten und Heroen, Ab⸗
bilder, Ausbriidhe und Liebeswerbungen feiner ins All geweiteten Seele,
je reifer er, umfo ſymboliſcher, gleichnishafter fie, am Ende aud) Die
Sinnen- und Dilberfreudigfeit des Südens geifterbaft überflügelnd. Gr
feldft mitten unter ihnen, beiter vertraut mit ihrem Plan und Werf,
Mittler zwifhen Himmel und Erde, ®ötterbote, Halbgott. Bermeffene
Schwärmerei? Nun, wir find ja wieder gläubig, wir leugnen, leugnen
es, Daß etwa Ooethes Lyrik von Diefer Erde allein wäre. „Einmal Iebt’
id wie ©ötter, und mehr bedarf’s nidt!“ — wir nehmen es fo bin, wir
glauben daran, wir haben etwas in ung, Das aud uns dahin beriwandeln
fönnte. Und wahrlich, mehr bedarf’s nicht.
Ob, du beiterer G©ottesdienft, beilig-mühlofe Ordnung, vielftimmiger
Mythos von Berg, Sewaffer und Sal! Bor dir fällt des Sages dürftig
Kleid bon uns ab, um bid durchwachen wir die ftilleren Nächte, und
ein Weinen fommt uns ob unfres verdunfelten Reidtums an und ein
®eläditer und eine Bitterfeit ob des taufendfachen Berrats am wund«
wefdlagenen und zerihundenen Herzen Guropas.
@riedenland heimbolen! Das bedeutet endlich dem im Didterlande
Schwaben geborenen, bor den Lebenden Geber und Berliinder zu fein,
auf dem Marfte zu wandeln, zu reden und Antwort zu heiſchen. Die
Tempel, ©ötterbilder und DBollsperfammlungen Athens werden ihm
immer wieder gur-inbriinftigen Mahnung: Sebt, das ift euer Grbteil, das
feid aud) ihr! Wahret, wahret das Erbe! Immer wieder fdeint ihm
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der Anbrud) und das Hereinbreden des gewaltig Umwälzenden nave
berbeigelommen, fo nad dem Grieben von Qunepille: „Ich mag Die
nabe oder die längft vergangene Zeit betrachten, alles dünkt mir feltene
Sage, die Sage der fddnen Menfcdlichkeit, bie Sage ficherer, furchtlofer
®üte und Sefinnungen berbeiguführen, Die ebenfo Heiter als beilig, und
ebenfo erbaben als einfad find.“ Aber fein Golf hörte ibn nicht, und
es fam bald eine Seit, wo bie Tugend des Wiigliden der Heiterfeit Des
Schönen das Lächeln gefrieren madte. Im Hyperion ballt fic gulest
nod) Die Klage und der Grimm des immer wieder ©®etäufchten gu dem
barten Wort bon den Barbaren des Nords. Meinte er die Abgründe
und Das Dämmernd Ratfelbafte der gotifden Jahrhunderte, ſpäterhin in
fo mandem Romantifer bis zur Rarifatur verzerrt, es fet Denn, daß er
einen Saud) antifen @eiftes eingeatmet bätte wie Gichendorff und
Morife? Oder wehrte Hier der Höhenwandler einer eigenen inneren
@efabr? Unb in der Sat, zweimal brad aud ihm ber Abgrund gellend
auf, einmal im Schidfalslied, feinem unmittelbarften: „Ihr wandelt
droben im Licht auf weidem Boden, felige ®enien! — dod uns ift gee
geben, auf feiner Stätte gu ruhn“ — und, ſchon während feiner foge-
nannten Umnadtung: „Mit gelben Blumen bänget und boll mit wilden
Rofen das Land in den See — — die Mauern fteben fpradlos und
falt, im Winde firren die Bahnen.“ Grelle, unverſöhnte Kontrafte,
der ganze gotifhe Dualismug in erfchredend deutlicher Ausprägung. Ein
feelifher Zwiefpalt, eine innere Serriffenbeit, uns als unfere Srbfünde
nur allzu vertraut, bei ihm faft befremdend. Denn all fein Leid war
nichts als Ginfamfeit unter den Menſchen, die Ginfamfeit und Heimate
Iofigfeit Der an fic) ungebrodenen Idee und Hr Yufammenprall mit
ber Erbe.
Sein Golf hörte ibn nicht. Die feit der franzdlifchen Redolution
fih fonftituierende biirgerlide ®efellichaftsordnung hatte feinen Plas
mehr für Herven und Böttergebärden. Gie ftieß ibn von Ort gu Ort
und ließ ihn nirgends mehr Heimftatt finden. Sie rif Diotima pon ihm,
Die einzig feiner Würdige. Bon Homburg aus fdleppt er fi nod
manchmal zu ihr, und fie winfen einander bon ferne gu. Die Dünnen
Fäden zu den Dingen reißen nad und nad, das vereinzelt Tatſächliche
verliert feine Bedeutung. Die Tragödie des Gmpedofles bleibt Frag-
ment: einem @egebenen dramatifche Betwegtheit eingubauden, vermag
der dem Leben mehr und mehr Abgelehrte, Licht und Schatten gu ber»
teilen, der Schattenlofe nicht. Die Idee kehrt in fich felbft guriid und
teilt das Schidfal aller übrigen, irgendwie heimatlog zu fein. Wie?
Sa, fiel denn der Menſch vom Himmel? Man geftebe es fic nur ein,
wie einfam im ®runde der Geiſt bon Weimar fein mußte und immer
fein wird, eine febr entlegene Infel und eine hohe Gefahr für den
Gudenden, und wie einfam im ®runde jedes pbilofopbifhe Syftem in
den Sag ragt und in weld) unnabbarer Diftang das RKantifhe Morals
prinzip. Wohl, wir twiffen, in Hegels beftem Schüler, in Marz, per-
Didtete fid) gleihfam bes Meiſters Ibdeenprogeß, um eines Tages in
Lenin ausgubreden, Köpfe abgufdlagen und einen neuen Staat zu
gründen. Aber was Hat diefer Staat wirklich mit einer Hegelichen Dia-
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N
leftifen Syntheſe zu fdaffen? Was die Menſchenrechte mit dem End-
ergebnis der großen Revolution, mit Börfenkturfen und Freibandel? Was
die Defretalien römifcher Päpfte mit Dem Nazarener? Der Kantianer
Robespierre hatte fdon recht: der fategorifhe Imperativ bedarf zu
feiner Verwirklichung der Guillotine. So madbte er Köpfe, und in
Shalefpeare-Hamlet wurde die Idee zu einem heimlichen Stachel, der
fid) am liebften gerftdrerifd) wider die Erde gelehrt hätte. Idee, ®eift,
Rei Sottes — ein wirlend Frembdes, aber immer wieder Grembes und
nie Derwirklichtes, oft ein unbeimlid freffender Spuf. Cs gebt ein
Rif Hurd die Welt: und dies zu glauben, ift Das Scidfal unferer
Jahrhunderte. Wie follte Hölderlin felig-befeelte Natur bor dem Streit
der Glemente beftehen finnen? Und Hod) ift fie in ibm wirkfam, und er
ein Grembling auf der Erde. Serade in feinem Werf und Leben bat
fic das lebte Fürfichfein des Geiftigen felten und feltfam rein aus.
geprägt. Uns entweder zur Qual oder zur Grldfung.
Für den Genius gab es fein Aufbalten mehr. Cine Diotima war
nur einmal gu finden und gu verlieren. Der „bezahlte“ Hofmeifter bes
mübt fi nod eine Zeitlang in der Schweiz, der Genius vergißt dor
der Wucht des Alpengebirgs feine geringeren Pflichten. Der Hofmeifter
nimmt, bon Freunden, Wutter und Sefdwiftern gedrängt, eine aus-
fihtsreihe Berforgung in Bordeaux an, Der Genius — aber bier liegt
bor unferen Dliden ein Dunkel gebreitet. — — Inmitten eines jehr heißen
Sommers erreidt ein völlig Erſchöpfter, DBerftörter und Serlumpter
Stuttgart und flagt einem Freunde von einft: „Das gewaltige Element,
Das Geuer des Himmels und die Stille ber Menfchen, ihr Leben in Der
Natur und ihre Gingefdranktheit und Zufriedenheit bat mid beftändig
ergriffen, und wie man Selden nadfpridt, Tann ich wohl jagen, daß
mid) Apollo gefdlagen.“ Hatte ihn die Nähe Der Alntifen in Vienne
oder Bordeaux erfdredt? War ihm der Marmor fo lebendig geworden,
Daß er Die Spannung zur Umwelt nicht mehr ertrug? Oder wurden
bie übermädhtigen @eftalten einer fibermenfdliden Pbantafie einem
Menſchenhirn verdberbihH? Wir Lönnen nur fopiel fagen: der Didter
[heut pliglid feine gewohnten pentelifden Wortgefiige; im Rhythmus
tritt ein Umſchwung zum flutend Entbundenen ein; es ift ihm, als dürfe
er Die alten ©dtterbilber nicht mehr ungeftraft anrufen, — und dann:
„Mein Meifter und Herr! Ob, Du mein Lehrer! Was bift bu ferne ge-
blieben, und da id fragte unter den Alten Hie Helden und ötter,
warum bliebeft du aus?“ Da dämmert ibm der Nazarener, halb nod
Oipmpier, herauf, nad) dem lang Bergeffenen ftredt er die Arme aus
und breitet feine lichten belpbifden Haine bor den Gott der Müh⸗
feligen und Beladenen. Hin, die lebte und höchſte Briide zwiſchen zwei
Welten [dlagenbd.
Don dem, was nun nod) folgt, gu fagen, Dabor diinft mid Die
Sprade bes Tages ein diirftiger Notbehelf und ein Borbeigleiten am
Wefentliden. Diotima ftirbt. Wie finnte ihn das treffen? Gin Leib.
fährt dahin. Was kümmert ihn der Leib, den er doch nie hätte befiten
fdnnen? Denn längft bat ibm der Genius, wie fo mandem großen Gre
geuger im ®eifte, Leib und Sinne verfengt und frudtlos gemadt, aud
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bier dem Srbifden widrig. Längft bat er ein platonifd Urbilb ihrer
Schönheit in fich eingebettet und in fid Mann und Weib und ihren
Zwiejpalt ausgeihwungen. So ward ihm die Natur Liebe, Anmut und
Kraft in Ginem — myſtiſche Verwandlung und Steigerung über ihre
®efete hinaus.
Im Turm zu Tübingen wohnt einer Jahre, Jahrzehnte lang. Die
Sreibeitstriege verballen ihm ungebört. Seine alte Mutter, Die fid fo
oft um ein Pilariat für den Pfarramtstandidaten bemüht und Damit
dem Jünger Apolls fdmerglide Stunden bereitet, gebt dahin. Gr ers
fährt es und begreift es nidt mehr. Denn fein Ich ift Fein Spiegel der
Gingelbinge in Raum und Zeit mehr. Ss ift überhaupt bon ibm abge-
fallen, wenige fiimmerlide Splitter bon ibm verbeugen fih ängftlich
por jedem neugierigen Namenlofen, der etwa in die Türe tritt. Gin
anderes, Unperfinlides, man möchte glauben, das Dritte Reid Hegels,
bat in einem fiimmerliden, morfden Reft und Schatten bon Leib Ein»
zug gebalten. Gs redet unermüblich mit ſich felbft, es fpinnt und variiert
ein mufifalifd Thema ing Unendliche fort, es finnt über den Spradgeift
nad) und gelangt Dabei zum Schweigen. Und ab und gu raffen fid
die Ichiplitter noch auf und fuden einen untergründigen Liederftrom in
ein griehifh Sbenmaß und Bleichtalt zu zwingen. Aber deſſen bes
Darf es nit mehr. Aud der Bötter Namen und Symbol bedarf es
nicht mehr. Der untergründige Strom raufdt, gang in ein fernes Licht
getaudt; oben Darauf ſchwimmen, Iofe gereibt, tönende Fragmente:
noreund[daft, Liebe, Kir’ und Heil’ge, Kreuze, Bilder, Altar und
Kanzel und Muſik.“ Selten nod) bebt fid) der Strom ins wadere
Tageslicht; dann aber ftrömt uns bie ureigen fingende deutſche Seele
entgegen, und es ift in uns ein derfdiwiegenes Tedeum: Wandlung über
Wandlung! Gabrgebntelang wandelt ein Schatten von Leib auf beimat-
lichen Feldern und Auen umber, in ladelnder Betrachtung, unberührt bom
Lärm und Zufammenprall der Dinge und Menfchen, wallt feierlich an den
großen Linien Der Berge und Täler entlang und dehnt fic in ungemelfene
Weiten nad der Beftimmung jenes wehenden Klanges: Hölderlin. — —
Da fi nun mablid) abwärts neiget der Geift uns fpäteften Söhnen
Des Words und bald wohl nirgend die Heimftatt mebr blübt, thm, in
den erfalteten Tälern, und langfam Das Herz unferes Landes gefriert
— nun, Das Sieffte in uns tft Bollfommenbeit und „die Bolllommen«
beit ift ohne Klage“. So wollen wir denn bem uns Gernen und dod
gang Nahen nod ein geiftig Danglied fingen:
And wenn der ®eift fich felber überflügelt
And alle Sore gäbnen aufgeriegelt,
Der Seelenwurm fi nidt mehr bäuten mag
Und Wort an Leib und Leib an Wort zerbrad),
Dann ift der harte Tag im Raum geringe,
Dem endlos Offner neigen fid) die Dinge
And find wie Regenbogen ausgefponnen.
Der über feinen Ueberdruß gefommen,
Nod Gott und Altar wirft der Qächler Hin,
Der Wefenlofe, er, der Hölderlin. Kurt Matthies.
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A
Erleſenes
Aus Holderlins Oden.
An die Deutſchen. (1800.)
Spottet nimmer des Kinds, wenn es, das alberne,
Auf dem Roſſe von Holz herrlich und groß ſich dünkt,
© ihr Guten! auc wir find
Satenarm und gedantenpoll!
Aber fommt, wie der Strahl aus dem Sewdlfe fommt,
Aus Sedanten vielleicht geiftig und reif Die Tat?
Golgt die GFrudt, wie des Haines
Dunflem Dlatte, der ftillen Schrift?
Und bas Schweigen im Doll, ift es die Beier fdon
Bor dem Gefte? die Furcht, welde den ®ott anfagt?
© dann nimmt mid, ihr Lieben!
Daf ich büße die Läfterung.
Schon zu lange, zu lang irr’ ich, Dem Laien gleich,
In des bildenden Seifts werdbender Werfftatt bier,
Nur was blübet, erfenn’ ich,
Was er finnet, erfenn’ id nidt.
Undguahndenift sip, aberein VetdDenaud,
And {don Jahre genug leb’ ich in fterblicher
Unverftändiger Liebe
Sweifelnd, immer bewegt bor ibm,
Der dag ftetige Werf immer aus liebender
Seele näher mir bringt, lächelnd dem Sterbliden,
Wo id gage, Des Lebens
Reine Tiefe zur Reife bringt.
Schöpferifcher, o wann, Genius unfres Dolls,
Wann erjcheineft du ganz, Seele des Baterlands,
Daß ich tiefer mid beuge,
Daß die Ieifefte Saite felbft
Mir verftumme vor Dir, daß ich befhämt und ftill
Eine Blume der Nadt, bimmlifher Tag, por dir
Enden möge mit Greuden,
Wenn fie alle, mit Denen id
Bormals trauerte, wenn unfere Städte nun
Hell und offen und toad, reineren Feuers voll,
And die Berge des deutſchen
Landes Berge der Mufen find,
Wie die herrlichen einft, Pindos und Helifon
Und Parnaffos, und rings unter bes Vaterlands
Goldenem Himmel! die freie,
Klare, geiftige Freude glänzt.
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Wohl ift enge begrenzt unfere Qebenszeit,
Anferer Jahre Zahl feben und zäblen wir,
Dod die Zahre der Bdlfer,
Gab ein fterblides Auge fie?
Wenn bie Seele dir aud über die eigene Zeit
Sid, Die febnende ſchwingt, trauernd verweileft du
Dod am falten Seftade
Bei den Beinen und fennft fie nicht.
®efang des Deutfhen. (1800.)
D beilig Herz der Voͤlker, o DBaterland!
Allduldend, gleich der [chweigenden Mutter Erd’,
And allverfannt, wenn fdon aus deiner
Siefe die Fremden ihr Beftes haben!
Sie ernten den ®edanten, den Seift bon Dir,
Sie pflüden gern die Traube, dod höhnen fie
Did, ungeftalte Rebe! Daß du
Schwantend den Boden und wild umirreft.
Du Land bes hoben, ernfteren ®enius!
Du Land der Liebe! bin ich Der Deine fdon,
Oft zürnt’ ich weinend, daß du immer
Dlöde die eigene Seele leugneft.
Dod magft bu mandes Schöne nicht bergen mir;
oft ftand ich, überjhauend das fanfte ®rün,
Den weiten ®arten, hod) in Deinen
Lüften auf hellem ®ebirg’ und fab Did.
An deinen Strömen ging ich und dadte did,
Indes die Sine fdiidtern die Nachtigall
Auf ſchwanker Weide fang, und ftill auf
Dämmerndem Srunde die Welle weilte.
And an den Ufern fab ich die Städte blühn,
Die Edlen, wo ber Fleiß in der Werfftatt ſchweigt,
Die Wiffenfdaft, wo Deine Sonne
Milde dem Künftler zum Grnfte leuchtet. — — —
Dod, wie der Frühling, wandelt der Genius
Bon Land zu Land. Und wir? ift denn Einer aud
Bon unfern Giinglingen, der nicht ein
AHnden, ein Rätfel der Bruft, verfhwiege?
Den beutfchen Frauen dantet! fie haben uns
Der Bötterbilder freundlichen Oeiſt bewahrt,
Und täglich fiibnt Der Hol be flare
Friede das böje Sewirre wieder.
Wo find jest Dichter, denen der ©ott es gab,
Wie unfern Alten, freudig und fromm zu fein,
Wo Weife, wie Die unfre find? Die
Kaltenund Kübnen, die Unbeftehbaren!
Nun! fet in deinem Adel, mein Vaterland,
Mit neuem Namen, reifefte Frucht der Seit!
Du lebte und bu erfte aller
Mufen, Urania! fet gegrüßt mir!
Nod faumft und fdweigft du, finneft ein freudig Werf,
Das von Dir zeuge, finneft ein neu ®ebild,
Das einzig, wie Du felber, Das aus
Liebe geboren und gut, wie bu, fei. —
Wo ift dein Delos, wo dein Olympia, :
Daß wirunsalle finden am höchſten Feft? —
Dod wie errät der Sohn, was du den
Deinen, Unfterblide, langft bereiteft?
Der Zod firs Baterland. (1799.)
Du kömmſt, 0 Sdladt! don wogen die Giinglinge
Hinab von ihren Hügeln, hinab ins Tal,
Wo fed herauf die Würger dringen,
Gider Der Kunft und des Arms, Doch fichrer
Kömmt über fie die Seele Der Zünglinge,
Denn Die ®erechten fchlagen, wie Zauberer,
And ihre DBaterlandsgefänge
Labmen Die Knie der Ehrelofen.
O nehmt mid, nehmt mid mit tn bie Reiben auf,
Damit ich einft nicht fterbe gemeinen obs!
Amfonft gu fterben, lieb’ ih nicht; Doch
Lieb’ id zu fallen am Opferbügel
Fürs Gaterland, zu bluten des Herzens Blut,
Fürs Baterland — und bald ift’s gefchehn! Bu euch
Ihr Teuern! fomm’ ich, Die mich leben
Lehrten und fterben, gu eud hinunter!
Wie oft im Lichte Hiirftet’ ich euch gu febn,
Ihr Helden und ihr Didter aus alter Seit!
Yun grüßt ihr freundlich den geringen
Srembling, und briiderlid) ift’s bier unten.
And Siegesboten fommen berab: die Schlacht
Oft unfer. Lebe Droben, o Baterland,
And gable nicht Die Toten! Dir ift,
Liebes! nicht einer gu diel gefallen.
Aus zwei Befprähen Friedrichs des Srofen.
Sriedrih der Große und Oberamtmann Fromm auf
einer Inſpektionsreiſe.
i$ Seelhorft war der Amtsrat Gad) zu Königshorft Seiner Waje-
ftat vorgeritten: Die Reihe traf nun mid. Um adt Uhr des
Morgens famen Seine Majeftät auf Seelhorft an und Hatten ben ®ene-
ral ®rafen bon Odrg im Wagen bei fid. Seine Majeftät fpraden bei
der Umfpannung mit ben Sietenfden Hufarenoffigieren, die auf Ben
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umliegenden Dörfern auf ©rafung ftanden, und bemerlten mid nicht.
Weil Die Damme zu fchmal find, fo fonnte id nidt neben dem Wagen
reiten. On Dechdau befamen Seine Majeftät den Herrn Rittmeifter pon
sieten, Dem Dechdau gehört, zu feben und bebielten ibn neben dem
Wagen bei fid) bis dahin, wo die Deddauifdhe Feldmarf zu Ende gebt.
Hier wurde wieder umgelpannt. Der Hauptmann bon Rathenow, ein
alter Liebling des Königs, Dem Das Gut Karveſee gum Teil gehört, be-
fand fic bier mit feiner Familie und ging an den Wagen beran: Unters
tänigfter Knecht Eurer Majeftät. — Wer feid Ihr? — Ich bin der
Hauptmann bon Rathenow aus Karvefee. — (Die Hände faltend:) Mein
©ott! Lieber Rathenow, lebt Gr no? Ih dadte, Er wäre längft tot.
Wie geht es Ihm? ift Gr gefund? — O ja, Eure Majeftät. — Aber,
mein @®ott! wie did ift Er geworden. — Ya, Sure Majeftät. Eſſen und
Srinfen fchmedt noch immer; nur die Füße wollen nicht fort. — Ja, das
geht mir aud fo. Ift Er verheiratet? — Ja, Eure Majeftät. — Ift Seine
Grau aud unter den Damen dort? — Ja, Eure Majeftät. — Laß Gr
fie Dod berfommen! (Sogleih nahm er den Hut ab) — I finde an
Ihrem Herrn ®emahl einen guten alten Freund. — Sehr viel Gnade
für meinen Mann. — Was find Sie für eine geborene? — Gin Fräu-
lein bon Kröcher. — Haba! eine Tochter bom General von Krodder! —
Sa, Ihro Majeftät. — O, den Habe id recht gut gefannt. — Hat Er
aud) Kinder, Rathenow? — Ja, Sure Majeftät. Meine Söhne find in
Dienften, und dies find meine Töchter! — Wun! das freut mid. Leb
Gr wohl. Leb Gr wohl... Wun ging der Weg auf Febrbellin, und der
Gobr{ter Brand ritt als Forftbedienter mit. Als wir an einen: Gled bon
Ganbjdellen famen, die bor Gebrbellin liegen, riefen Seine Majeftät:
Sorfter, warum find die Gandfdellen nicht befat? — Sw. Majeftät, fie
gebören nicht zur fSnigliden Forft; fie gehören mit gum Ader. Sum
Seil befaen Die Leute fie mit allerlei ®etreide. Hier rechter Hand haben
fie Kienäpfel gefät. — Wer hat bie gefät? — Hier der Oberamtmann.
— (Der König zu mir): Na! fagt es meinem Geheimen Rat Michaelis,
Daß die Sandichellen befät werden follen. — (Zum Förfter): Wißt Ihr
aber aud), wie Kienäpfel gefät werden? — O ja, Ihro Majeftät. —
Ra! wie werden fie gefät? Bon Morgen gegen Abend oder bon
Abend gegen Morgen? — Bon Abend gegen Morgen. — Das ift rect.
Aber warum? — Weil aus dem Abend am meiften Winde fommen. —
Das ift redt! —
Wer feid Ihr? — Sw. Majeftät, id bin der Beamte Hier bon Febhr-
bellin. — Wie heißt Ihr? — Fromm. — Haba! Ihr feid ein Sohn bon
dem Landrat Fromm. — Sw. Mafeftät halten zu ®naden, mein Bater
ift Amtsrat im Amte Lehnin gewefen. — Amtsrat! Amtsrat! Das ift nicht
wahr! Euer Bater ift Landrat gewefen. Ich babe ihn recht gut gefannt.
Sagt mir einmal, bat Gud) die Abgrabung Hes Luds bier diel ge-
bolfen? — O ja, Ew. Majeftät. — Haltet Ihr mehr Dieb als Euer
Gorfabr? — Ja, Sw. Majeftät, auf diefem Vorwerk balie ich vierzig,
auf allen Borwerfen fiebzig Kühe mehr. — Das ift gut. Die Bieh-
feude ift Dod) nicht bier in der ®egend? — Nein, Sw. Majeftät! —
Habt Ihr die Biebfeude bier gehabt? — Ja! — Braudt nur fleißig
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Steinfalz, dann werdet Ihr die Viehſeuche nicht wiederbelommen. —
Ya, Ew. Majeftät, das brauch id aud; aber Küchenfalz tut beinahe eben
bie Dienfte. — Nein, das glaubt nit! Ihr müßt das Steinfalz nicht
Heinftoßen, fondern es dem Vieh fo Hinhängen, daß es daran leden
fann. — Ja, es foll gefdeben.
Hat der General von Zieten auch bei der Abgrabung des Luchs
gewonnen? — © ja, die Meierei bier rechts bat er gebaut und eine
Kuhmelkerei angelegt, bas er nicht gefonnt hätte, wenn das Lud nicht
abgegraben wäre. — Das ift mir lieb! — Wie beißt der Beamte zu
Alt-Ruppin? — Honig. — Wie lange ift er ba? — Seit Trinitatis. —
Seit Trinitatis. Was ift er vorher gewefen? — Kanonilus. — RKanoni-
fus. Ranonifus? Wie führt der Teufel den Ranonifus gum Beamten?
— Sw. Majeftat, er ift ein junger Menſch, der Geld bat und gern die
Ehre haben will, Beamter bon Sw. Majeftät zu fein. — Warum ift aber
der Alte nicht geblieben? — Iſt geftorben. — So hätte bod die Witwe
das Amt behalten können! — Ift in Armut geraten! — Durd Frauens-
wirtfchaft! — Eure Majeftät verzeiben, fie wirtfchaftete gut; allein Die
vielen Unglüdsfälle haben fie zugrunde gerichtet; die fönnen den beften
Wirt guriidfegen. Ich felbft babe bor zwei Jahren das Biebjterben ge»
babt und babe feine Remiffion erbalten; id Tann aud nicht wieder
portpdrts fommen. — Wein Sohn, Heute bab id den Schaden am
linfen Obr, id fann nit gut hören. — Das ift fdon eben ein Unglüd,
Daß der Sebheime Rat Michaelis den Schaden aud bat! —
Wun blieb id ein wenig bom Wagen zurüd; id glaubte, Seine
Majeftät würden die Antwort ungnädig nehmen.
— Ra, Amtmann! vorwärts! bleibt bei dem Wagen, aber nehmt
Gud in adt, daß Ihr nicht unglüdlich feid. Sprecdt nur laut, id ver⸗
ftebe recht gut. — (Diefe letteren Worte wiederholten Seine Majeftät
wenigftens zehnmal auf der Reife) Sagt mir mal, wie beißt das Dorf
da rehts? — Langen. — Wem gebörts. — Ein Dritteil Sm. Majeftät
unter dem Amte Alt-Nuppin. Sin Dritteil dem Herrn von Hagen;
dann bat der Dom zu Berlin aud Untertanen darin. — Ihr irrt Sud,
der Dom gu Magdeburg. — Sw. Majeftät halten gu Gnaden, der Dom
gu Berlin! — Gs ift aber nidt wahr: Der Dom zu Berlin bat feine
Untertanen! — Ew. Wajeftat balten gu ®naden, Der Dom gu Berlin
bat in meinem Amisborfe zu RKardefee drei Untertanen. — Ihr irrt
Gud, das ift ber Dom zu Magdeburg. — Sw. Majeftät, id müßte ein
ſchlechter Beamter fein, wenn id nidt wüßte, mas in meinen Amts-
Dörfern für Obrigfeiten find. — Ga, dann habt Ihr recht. —
Wie heißt das Dorf bier bor uns? — Progen. — Wem gehört es?
Dem Herrn von Kleift. — Was ift bas für ein Kleift? — Ein Sohn vom
®eneral Kleiſt. — Bon was für einem ©eneral Kleift? — Der Bruder
bon ihm ift Slügeladjutant bei Eurer Majeftät gewefen und ftebt jebt
zu Magdeburg bei dem KalffteinfHhen Regiment als Oberftleutnant. —
Hah